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Als der Historiker Jürgen Osterhammel 2014 den Sigmund-Freud-Preis entgegennahm, war seine Dankesrede mit dem Titel Entscheidungen und Anfänge überschrieben. Er spielte damit auf die bewussten Setzungen von Tonlage und Erzählerperspektive beim Schreiben geisteswissenschaftlicher Texte an. „Auf jeden Fall“, so der Autor großer Publikationen zum 18. und 19. Jahrhundert, „verlangt das 20. Jahrhundert andere Darstellungsformen: stärker gebrochen und fraktal, hörbar einzelne Stimmen zur Geltung bringend“.
Auch die Herausgeber*innen und Autor*innen des ZERO-ABC entfalten die ZERO-Geschichte nicht linear. Sie folgen dem englischen Alphabet, und das ist gleichermaßen komplex wie einfach: Komplex, weil die Gliederung große Verzichtsentscheidungen aller Beteiligten bedeutete. Jeder Buchstabe wurde nur einmal vergeben, ohne dass das große Ganze aus dem Blick geraten durfte. In Ergebnis und Nutzung einfach für die Leser*innen, denen die zentralen Begriffe zu ZERO nun deutlich vor Augen stehen.
Mit dem ZERO-ABC liegt ein Forschungsinstrument für alle vor, die sich künftig für diese Kunstrichtung interessieren ‒ und für eine Zeit, der die Generation ZERO selbst, trotz allem, mit viel Optimismus begegnete. Wir haben dieses Unternehmen gerne durch Stiftungsmittel unterstützt und wünschen diesem wichtigen Buch viel Erfolg.
Dr. Angela Kühnen, Mitglied des Vorstands der Gerda Henkel Stiftung

„ZERO ist gut für dich“, so lautete das Motto, unter dem die drei Düsseldorfer Künstler Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker 1966 die Auflösung ihrer acht Jahre zuvor gegründeten Zusammenarbeit – Uecker stieß erst 1961 hinzu – mit einem großen „ZERO-Mitternachtsball“ im Bahnhof Rolandseck in Remagen begingen. Selbst das Ende ihres Miteinanderwirkens schien von Optimismus geprägt. Ausgehend vom Rheinland hatten die drei Künstler in den späten Fünfziger- und beginnenden Sechzigerjahren eine Bewegung angestoßen, die den oftmals düsteren Abstraktionen von Informel oder Tachismus, in denen die psychischen und physischen Verheerungen des Zweiten Weltkrieges nachhallten, Aufbruchstimmung und Leichtigkeit entgegensetzte. Fast wünscht man sich angesichts unserer krisengeschüttelten Zeit, diese Zuversicht möge auf uns überspringen und unsere von Krieg, Pandemie oder Umweltzerstörung sorgenzerfurchten Gesichter ein wenig aufhellen.
Aber die ZERO-Bewegung war nicht nur von spielerischer Freigeistigkeit und Zukunftshoffnung geprägt. Dieser im internationalen Kontext agierende Verbund, der, ähnlich dem Surrealismus, keinen eigenen Stil vorgab, sondern vielmehr einer Haltung entsprang, hatte ein intellektuelles Fundament und vertrat weitreichende Visionen. Neben den Kräften der Natur war es nicht zuletzt der technische Fortschritt, der den Optimismus der ZERO-Bewegung speiste und ihr eine hoffnungsvolle Zukunft verhieß.
Zwar schufen die ZERO-Künstler europaweit Netzwerke und knüpften Freundschaften – die wesentlichen Stationen ihrer acht Jahre währenden Zusammenarbeit spielten sich dennoch in unmittelbarer Nähe des Rheins ab: Ihren Anfang nahm die Bewegung in den Räumen des in Künstlergemeinschaft gemieteten Atelierhauses in Düsseldorf-Unterbilk, ihre letzte gemeinsame Ausstellung zeigten sie rund 70 Kilometer rheinaufwärts in den Städtischen Kunstsammlungen Bonn. Zu ihrem Finale veranstalteten sie im südlich von Bonn gelegenen Bahnhof Rolandeck den besagten Mitternachtsball, bei dem unter anderem in einer theatralisch anmutenden Inszenierung ein Wagen mit in Flammen gesetztem Stroh vom Bahnhof aus Richtung Rhein in Fahrt gesetzt wurde und in den Fluten versank.
Die ZERO-Avantgarde hat das Rheinland durch und durch geprägt. Ihren Zeugnissen –den Lichtstelen von Heinz Mack, den kinetischen Installationen von Otto Piene oder den Nagelbildern und -objekten von Günther Uecker – begegnen wir hier nicht nur in Museen und Galerien, sondern ebenso in Parks, Opernhäusern oder an Kaufhausfassaden. Dabei wirkt die ZERO-Kunst selbst Jahrzehnte nach ihrer Entstehung kein bisschen angestaubt und versetzt uns mit ihrer spielerischen Leichtigkeit und Experimentierfreude noch immer in Staunen.
Dieses kulturelle Erbe, dessen nachhaltige Bedeutung weit über die deutsche Kunstgeschichtsschreibung hinausreicht, zu sichern und zu erforschen, zählt zu den Kernaufgaben des Landschaftsverbands Rheinland. Es ist uns daher eine große Freude, dass dieses von der ZERO foundation initiierte und unter Beteiligung internationaler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entstandene ZERO-ABC mit Unterstützung der LVR-Kulturförderung realisiert werden konnte. Dabei ermöglichen es der interdisziplinäre Ansatz sowie das von den ZERO-Künstlern Mack, Piene und Uecker mit Gründung der ZERO-Stiftung in Düsseldorf zur Verfügung gestellte Archivmaterial und nicht zuletzt der an zentralen Begrifflichkeiten orientierte, interdisziplinäre Ansatz, die Avantgardebewegung mit einem frischen Blick und aus neuen Perspektiven zu betrachten.
Anne Henk-Hollstein, Vorsitzende der Landschaftsversammlung
Ulrike Lubek, Direktorin des Landschaftsverbandes Rheinland

Den Freunden der ZERO foundation Düsseldorf e.V. ist es ein Hauptanliegen den ZERO-Gedanken – die radikale Erneuerung der Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg – lebendig zu halten und zu fördern. Mit großer Freude unterstützen wir daher das Forschungsprojekt ZERO-ABC.
Unsere regelmäßigen Zuwendungen führten in der Vergangenheit bereits zur Realisierung des Bandes The Artist as Curator, der großen ZERO-Retrospektive Zero – Die internationale Kunstbewegung der 50er und 60er Jahre im Berliner Gropius-Bau 2015 und trugen vor allem zur Restaurierung und Ausstattung des ZERO-Hauses bei.
Finanziell unterstützten die Freunde der ZERO foundation zuletzt zudem das anlässlich des fünfzehnjährigen Jubiläums verwirklichte Projekt ZERO-Kunst und Mode, die Ausstellungen Otto Piene. Stars im Nationalmuseum Breslau, Mack im ZKM Karlsruhe sowie die Ankäufe zweier Werke Günther Ueckers – Sintflut (Die Engel fliegen), 1963 und Sintflut Manifest – Überflutung der Welt TRANSGRESSION, 1963 – und eines weißen Monochroms (Ohne Titel), 1961, von Hermann Bartels.
Mit dem ZERO-ABC wird nicht nur das Archiv der ZERO Foundation lebendig und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht, sondern es wird durch die Beiträge dieser Publikation auch deutlich, wie aktuell und relevant die ZERO-Themen, wie beispielsweise Licht, Feuer, Natur, Kinetik auch heute sind und wie wohltuend ihre konsequente, positive und optimistische Zukunftshaltung auch für uns ist. Es ist daher erfreulich, dass die vorliegende Publikation durch eine deutsche und eine englischsprachige Webseite gleichen Namens ergänzt wird. Wir wünschen der Publikation und der Webseite eine breite Leserschaft und sind gespannt auf die Diskussion.
Dr. Detlef Hunsdiek, Vorsitzender der Freunde der ZERO foundation
Mit den zwei Büchern ZERO 4321 und The Artist as Curator hat die ZERO foundation bereits zwei wichtige wissenschaftliche Publikationen – neben zahlreichen Ausstellungskatalogen – herausgegeben, die aus der in der Stiftung seit 2008 betriebenen Forschungen und Recherchen resultierten.
Mit dem dritten Band dieser wissenschaftlichen Reihe, dem ZERO-ABC, verlässt die Stiftung die Ebene der chronologischen Darstellung und fragt nach den interdisziplinären Aspekten. Wie bereits in den vorangegangenen Veröffentlichungen wird die ZERO foundation dabei von namhaften internationalen Wissenschaftlern unterstützt, diesmal allerdings nicht nur aus der Kunstgeschichte, sondern auch von Experten aus der Musik, dem Theater/Performance, der Literatur, der Kulturpolitik, dem Kunsthandel und natürlich der Kunstwissenschaft.
Ein Archiv öffnet sich, so der Untertitel des ZERO-ABCs, durch den die Richtung der Untersuchung empfohlen, doch nicht vorgegeben ist. Die Dokumente aus der Zeit 1957/58 bis 1966, die Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker der Stiftung zum Geschenk machten, ermöglichen eine historisch fundierte Analyse. Daneben sind es auch Gespräche, Gedanken und Dokumente aus anderen Archiven, die das ABC zu einem authentischen Wissensspeicher machen. Aus den Vorträgen bzw. Texten entsteht ein lebendiges Bild der ZERO-Kunst der 1950er/60er-Jahre entlang der charakteristischen Begriffe wie dem A für das Atelier, dem B für die Bücher, dem K für die Kinetik oder dem L für das Licht.
Auf den Wahlplakaten in Deutschland wurde 1957 angeraten: „Keine Experimente“. Wir sind froh, dass die ZERO-Künstler von dieser Empfehlung keinen Gebrauch machten, sondern sich aufmachten, in europaweiter Freundschaft eine Kunst zu schaffen, deren Wirkung bis heute anhält und uns unvermindert neugierig hält. Auch die ZERO foundation wagt gerne das Experiment und ermöglicht neue Begegnungen in ungewöhnlichen Formaten. Herzlichen Dank an das ZERO-Team, zuvorderst Barbara Könches, die uns dieses Erleben mit ihrem Engagement für und im Namen von ZERO schenken!
Weiterhin gilt unser Dank den Autoren der Publikation, ebenso denen, die mit finanzieller und ideeller Unterstützung dieses herausfordernde Projekt ermöglichten: der Kunststiftung NRW (Prof. Dr. Dr. Thomas Sternberg, Dr. Andrea Firmenich), der Gerda Henkel Stiftung (Dr. Angela Kühnen), dem Landschaftsverband Rheinland (Anne Henk-Hollstein, Ulrike Lubek), den Freunden der ZERO foundation (Dr. Detlef Hunsdiek) und der Galerie Vervoordt (Boris Vervoordt).
(Auszug aus der Begrüßung zum Workshop am 1. September 2023 im ZERO-Haus)
Dr. Friderike Bagel, Vorstandsvorsitzende der ZERO foundation (2008-2023)
Endnotes
1 Einleitung
Barbara Könches
„Raymond Bellour: Wo stehen Sie persönlich innerhalb dieser Veränderung, die gleichsam die anspruchsvollsten Werke des Wissens in ein romanhaftes Abenteuer verwickeln?
Michel Foucault: Im Unterschied zu den sogenannten Strukturalisten interessiere ich mich nicht so sehr für die formalen Möglichkeiten, die ein System wie die Sprache bietet. Ganz persönlich lässt mir die Existenz von Diskursen keine Ruhe, die da sind, weil gesprochen worden ist; diese Ereignisse haben einst im Rahmen ihrer ursprünglichen Situation funktioniert; sie haben Spuren hinterlassen, bestehen weiter fort und üben durch dieses Fortbestehen innerhalb der Geschichte eine Reihe manifester oder verborgener Funktionen aus.
Raymond Bellour: Damit folgen Sie der Leidenschaft des Historikers, der auf das endlose Geraune der Archive reagiert.“[i]
[i] „Über verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben“, Michel Foucault im Gespräch mit R. [Raymond] Bellour, in: Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. I, 1954-1969, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, S. 750-769, hier S. 762, aus dem Deutschen übersetzt von Michael Bischoff.
Niemand anders als Michel Foucault (1926-1984) muss als Wegbereiter einer Publikation genannt werden, die sich aus dem Archiv speist –, einem Archiv, das sich wie im vorliegenden Fall aus dem Vorlass bzw. Nachlass von bildenden Künstlern zusammensetzt. In 90 Regalmetern, fein verpackt in säurefreien Stülpschachteln, die sich „Loreley“ oder „Scala“ nennen, dämmern hier im Dunklen Briefe, Rechnungen, Aufstellungen, Listen, aber auch Fotografien, Skizzen oder Entwürfe inmitten eines Biotops konstanter, angenehm warmer, doch niemals zu heißer Temperatur. Mehrmals am Tag geht das Licht kurz an, wird die ein oder andere Box hervorgezogen, um gezielt ein Papier herauszugreifen oder um ein Dokument zu entdecken, von dem man sich Antworten erhofft. Doch häufig genug findet der Suchende eine Antwort auf Fragen, die sich bislang nicht gestellt haben.
„Ja“, antwortet Foucault auf die Feststellung Raymond Bellours (*1939), er reagiere auf „das endlose Geraune der Archive“, und fährt fort, „denn mein Objekt ist nicht die Sprache, sondern das Archiv, also die akkumulierte Existenz der Diskurse. Die Archäologie, wie ich sie verstehe, ist nicht mit der Geologie (als Analyse des Unterirdischen) verwandt und auch nicht mit der Genealogie (als Beschreibung der Anfänge und der Folgen), sie ist die Analyse des Diskurses in seiner Modalität als Archiv [kursiv im Original].“[i]
[i] Foucault (wie Anm. 1), S. 763.
Wenn dem Arbeiten im Archiv das Denken Michel Foucaults vorangestellt sein soll, dann unter dem Aspekt, den sein langjähriger Freund und Biograf Paul Veyne (1930-2022) deutlich machte:
„Foucault räumt ein, dass der Mensch Initiativen ergreift, bestreitet jedoch, dass er dies dank der Präsenz des logos in ihm tut und dass seine Initiative zum Ende der Geschichte oder zur reinen Wahrheit führen könnte. […] Man muss die Hoffnung aufgeben, jemals einen Standpunkt zu erreichen, von dem aus uns der Zugang zur vollständigen und endgültigen Erkenntnis unserer historischen Grenzen eröffnet werden könnte.“[i]
[i] Paul Veyne, Foucault. Der Philosoph als Samurai, aus dem Französischen von Ursula Blank-Sangmeister, Stuttgart 2009, S. 133.

Das Bild als Manifestation von Kunst war längst schon verabschiedet worden, „nachdem Duchamp ihm zugunsten des realen Objekts die Absage erteilte und Rodtschenko es mit der Feststellung ‚Alles ist zu Ende‘ auf die reine Farbfläche reduzierte“, wie Christian Kravagna es in der Ausstellungsrezension zu Bildlicht. Malerei zwischen Materialität und Immaterialitätprägnant zusammenfasste.[i] In dieser wie auch in der parallel dazu gezeigten Ausstellung Das Bild nach dem letzten Bild, beide wurden 1991 in Wien gezeigt[ii], ging es um nicht weniger als „das Ende der Kunst“.[iii] „Was ist im 19.Jahrhundert geschehen, daß die Künstler erstmals das Gefühl hatten, alles gelesen und gesehen zu haben, alles geschrieben und gemacht zu haben“, frug Peter Weibel (1944-2023) im Ausstellungskatalog zum letzten Bild.[iv] Seine Antwort darauf ist so komplex wie stringent. Ausgehend „von Mallarmés idealem Gedicht, das nur noch Schweigen wäre“[v], entwickelt Weibel seine Argumentation von der „Krise des Verses [kursiv im Original], als Krise der Repräsentation“[vi]. Die Auflösung des Bildes liest Weibel mit Foucault als revolutionären Sieg der Zeichen über die Dinge.[vii] Wie kann die Kunst diese in der Moderne angelegte Selbstzerstörung aufhalten? Die Lösung lautet durch das Archiv. „Kunst heute hieße freier Zugang zum Archiv und damit auch freie Innovation statt Variation und Wiederholung, weil sie die ‚moderne Kunst‘ durchzieht. Ein befreites Archiv entsteht aber erst durch eine freie Interpretation. Was im Archiv ist und was es bedeutet, muß jedesmal neu definiert werden.“[viii]
„Das Ende der Kunstgeschichte [kursiv im Original] kann niemanden mehr beeindrucken, der sich an das Ende der Kunst [kursiv im Original] bereits gewöhnt hat“, so beginnt Hans Belting (1935-2023) seine gleichnamigen Publikation 1995[ix]. Freimütig räumt er ein, dass er selbst sich mit dem deklarierten Abschied der eigenen Disziplin weit vorgewagt habe[x], und um sein Anliegen klarer zu formulieren, dass er vom „Ende eines bestimmten Artefakts, genannt Kunstgeschichte, im Sinne von Spielregeln rede, aber davon ausgehe, daß das Spiel auf andere Weise fortgesetzt wird.“
Auch Belting konstatiert die Krise der Repräsentation, die einherging mit der Krise der Kunstgeschichte, der dadurch eines ihrer zentralen Elemente verlorenging: das Kunstwerk. Am Beispiel der Anthropometrien Yves Kleins verdeutlicht Belting, daß „das Original [kursiv im Original] seinen erprobten Sinn eingebüßt“ habe, denn die einst zwischen „dem Kommentar und dem Werk“ streng geteilten Aufgaben hätten sich aufgelöst, „seit sich die Kunst selber zum Text [kursiv im Original] erklärte“.[xi] Damit einher geht der Verlust des „verbindlichen Erzählschemas“, an seine Stelle tritt vielmehr der Kontext, denn „an die Nahtstelle von ‚Kunst und Leben‘ ist zu allen Seiten künstlerische Kreativität freigesetzt worden.“[xii] Die Kunst gewinnt an Bedeutung, überlegt Belting, für die Bild- wie Kulturgeschichte, die nicht länger eurozentrisch und vom westlichen Blick dirigiert ist.[xiii] „Das ‚Ende der Kunstgeschichte‘, als eine notwendige Fermate, und die Einsicht in den fiktionalen Charakter der geschriebenen Kunstgeschichte der Moderne befreien den Blick für eine größere Aufgabe: die Besichtigung der eigenen Kultur mit dem Blick eines Ethnologen.“[xiv]
Leicht fällt Belting der Abschied von der linearen Kunstgeschichte nicht, entdeckt er doch ein „Säbelrasseln, […] wenn wieder einmal neue Ismen proklamiert werden. Allein schon das Simultan-Theater, in dem man jedes Stück spielt und jeden Geschmack befriedigt“, führe zu einer Art Willkür, bei der Werkformen beliebig auftauchten oder verschwänden ohne den Ablauf zu stören.[xv] „Es ist wie im Spiegelkabinett“, konstatiert der Kunsthistoriker über seine Zunft, „in dem man keinen Ausweg findet. Die Informationen sind Thesen, und die Thesen werden wiederum nachträglich zu Informationen, die im Archiv landen, wenn sie gegen andere Thesen eingetauscht wurden.“[xvi]
Was bleibt zu tun, wie kann Kunstgeschichte fortgeschrieben werden? Wie kann das erweiterte Fach seine Zukunft gestalten? Einen Ausweg könnte die lexikalische Erfassung bieten, „denn sie entlastet den Autor von der Pflicht, eine Abfolge der Ereignisse nachzuerzählen“[xvii], so Belting. Auch Panoramen kämen in Frage, denn sie ermöglichten einen „Simultanblick“ von allem Möglichen, „was sich nicht nebeneinander oder gar nacheinander zur Geltung bringen muss“.[xviii]
[i] Christian Kravagna, „Bildlicht. Malerei zwischen Materialität und Immaterialität“, in: Kunstforum International, Bd. 114, Juli/August 1991, S. 378-380, hier S. 378.
[ii] Bildlicht. Malerei zwischen Materialität und Immaterialität, Museum des 20. Jahrhunderts, Wien, 3.5.-7.7.1991, kuratiert von Wolfgang Drechsler und Peter Weibel. Das Bild nach dem letzten Bild, Galerie Metropol, Wien, 04.-06.1991, kuratiert von Peter Weibel mit Kasper König.
[iii] Peter Weibel, „Das Bild nach dem letzten Bild“, in: ders. und Christian Meyer, Das Bild nach dem letzten Bild, Köln 1991, S. 183-215, hier S.198.
[iv] Weibel (wie Anm. 6), hier S. 189.
[v] Weibel (wie Anm. 6), hier S. 184.
[vi] Weibel (wie Anm. 6), hier S. 188.
[vii] Weibel (wie Anm. 6), hier S. 186, 207.
[viii] Weibel (wie Anm. 6), hier S. 208.
[ix] Hans Beling. Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, München 1995, S. 7.
[x] Hans Belting, Das Ende der Kunstgeschichte, Berlin 1983.
[xi] Belting (wie Anm. 13), S. 164, S 183.
[xii] Belting (wie Anm. 13), S. 165.
[xiii] Belting (wie Anm. 13), S. 171.
[xiv] Belting (wie Anm. 13), S. 178.
[xv] Belting (wie Anm. 13), S. 185.
[xvi] Belting (wie Anm. 13), S. 185.
[xvii] Belting (wie Anm. 13), S. 189.
[xviii] Belting (wie Anm. 13), S. 189.

Die vorliegende Publikation Opening the Archive: The ABCs of ZERO vereint all die Möglichkeiten von Kunstgeschichtsschreibung nach dem Ende der Kunstgeschichte. Sie berichtet in Form einer dem Alphabet geschuldeten Ordnung über die Nachkriegsavantgarde, die sich in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg bildete und unter dem Namen ZERO oder Zero zusammengefasst wurde. Dabei bildet das Archiv der gleichnamigen Stiftung in Düsseldorf den Ausgangspunkt und mithin kann es nicht ausbleiben: den Schwerpunkt. Aus den Dokumenten und Materialien, die Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker 2008 in die Stiftung einbrachten, generiert sich ein Wissen, das zwischenzeitlich durch Interviews (Oral History), durch hinzugekommene Archive wie das von William E. Simmat oder Film- und Fotodokumentationen wie die von Werner Raeune erweitert wurde.
Die ausgewählten Begriffe stehen paradigmatisch für die ZERO-Kunst und die ZERO-Bewegung und entstammen einem thematisch begrenzten, dennoch offenen und freien Reservoir, das sich einzig dadurch verringert, dass ein gewählter Begriff und somit ein bestimmter Buchstabe, die Anzahl der Möglichkeiten in einem anderen Feld begrenzt. So hätte man anstatt der Musik das Monochrom wählen können oder anstatt der Frauen (Women) das Weiß.
Die Form der Aufsätze variiert ebenso wie deren jeweiliger Schwerpunkt. Wichtig war es, die enge Geschichtsschreibung innerhalb einer Kunsthistorie aufzusprengen, denn seit ZERO gehören Performance oder Musik in den Kanon der von bildenden Künstlern verwendeten Medien oder durchliefen ähnliche konzeptionelle Entwicklungen, die einen Vergleich nahelegen.
Die Texte unterscheiden sich nicht nur dadurch, dass jeder Autor, jede Autorin ihren eigenen Zugang wählte, sondern auch durch die dem Lesenden dargebotene Funktionalität des ABCs of ZERO. Ein kürzerer Essay, der kurzweilig eine Anekdote erzählt, steht neben einer längeren theoretischen Auseinandersetzung, die eine höhere Konzentration beim Lesen verlangt. Ob man das Buch von vorne nach hinten lesen möchte, oder hier und da die Seiten zur Lektüre aufschlägt, bleibt jedem Nutzenden selbst überlassen.
Den historischen Ausgangspunkt und die Entwicklung der ZERO-Avantgarde schildert Jürgen Wilhelm in seiner „Einführung“. Da die Ausstellungsmöglichkeiten in den 1950er-Jahren für junge Künstler beschränkt waren, initiierten Heinz Mack und Otto Piene die sogenannten Abendausstellungen in ihrem eigenen Atelier und gründeten das, was heute unter der Bezeichnung „ZERO“ ein fester Bestandteil der Kunst geworden ist. Ann-Kathrin Illmann wirft einen Blick zurück auf den Ort an dem ZERO entstand: in das Hinterhaus-„Atelier“, Gladbacher Straße 69 in Düsseldorf.
Die historische Leistung von Mack und Piene zu dieser Zeit waren zweierlei. Zum einen gründeten sie die Atelierausstellungen, zum anderen gaben sie drei Magazine heraus, das erste zeitgleich zur 7. Abendausstellung. So sorgten sie dafür, dass ihre Aktivität dokumentiert und medial begleitet wurden. Bartomeu Mari beleuchtet die Bedeutung der „Bücher“ für die ZERO-Bewegung.
Eugen Gomringer (*1925), ein bedeutender Vertreter der „Concrete Poetry“ und eng mit Günther Uecker (*1930) befreundet, ist mit einem Wiederabdruck im ZERO-ABC vertreten, was nicht nur die Wichtigkeit dieser Kunstrichtung für ZERO unterstreicht, sondern auch deutlich macht, dass eine Arbeit im Archiv auch immer eine Arbeit am Archiv darstellt.
Astrit Schmidt-Burkhardt analysiert das „Diagramm“, eigentlich sind es mehrere, die Heinz Mack Anfang der 1970er-Jahre angefertigt hat. „Die fiktiven Genealogien, von denen die modernen Künstler träumten, sind verräterisch“, warnte Hans Belting, doch Schmidt-Burkhardt klärt die Grenze zwischen Zuschreibung und Setzung elegant auf.
Während der CDU-Kanzler Konrad Adenauer (1876-1967)[i] 1957 Plakate zur Bundestagswahl aufhängen ließ, auf denen in großen Lettern geschrieben stand „Keine Experimente“, unternahmen die Künstler*innen im ZERO-Kreis alles, um durch mehr Experimente die Kunst zu erneuern. Regina Wyrwoll und Andreas Joh. Wiesand diskutieren in ihrem Beitrag den Stellenwert des Experiments für die Kunst der Nachkriegsavantgarde.
Die Generation der zwischen 1925-1935 Geborenen war kritisch, weil viele im nationalsozialistischen oder im faschistischen Regime aufgewachsen waren und daher überrascht es wenig, dass sie alles hinterfragten, nicht nur politisch, ideologisch, sondern auch künstlerisch. Diese Kritik reichte über die Bildinhalte und Motive hinaus auf die Frage, mit welchen Werkzeugen, Materialien und Medien man arbeitete. Eine bemerkenswerte Umwertung gelang ihnen beim Einsatz von Feuer. Obgleich man ab 1939 mit Beginn des Krieges insbesondere in Deutschland ganze Städte im Feuer lodernd brennen sah, erschufen viele ZERO-Protogonisten nach 1955 aus dem Prometheus´schen Element eine neue Kunst. Weg und Werke der „Feuer“-Kunst werden von Sophia Sotke vorgestellt.
Nadine Oberste-Hetbleck zeichnet die Geschichte der Galerie Schoeller nach, einer Programm-„Galerie“, die sich auf ZERO und konkrete Kunst spezialisierte und in der das ein oder andere Werk ausgestellt gewesen sein mag, das sich als „Hommage“ an die Künstlerfreunde richtete.
Es war den Künstler*innen in den 1950er- und 1960er Jahren wichtig, „international“ zu arbeiten. Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande gründeten 1952 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die sogenannte Montanunion, und zeichneten damit quasi die geografischen Orte vor, die wesentlich für die Entwicklung der ZERO-Kunst wurden. Es entstand zwischen Amsterdam, Brüssel, Mailand, Paris und Düsseldorf ein Netzwerk von Künstlern, Kritikern, Denkern, die sich in Briefen verabredeten, Ausstellungen und Publikationen planten oder sich einfach Urlaubsgrüße sendeten, in einer Zeit, als die Telefone mit unterirdisch verlegten Kabeln miteinander verbunden waren und nicht jeder Haushalt einen Anschluss besaß. Rebecca Welkens skizziert dieses Netzwerk in ihrem Beitrag „Join“.
Bereits 1956 veröffentlichte der Bildhauer George Rickey (1907-2002) einen Aufsatz über „Kinetic Sculptures“ in Art and Artist[ii], den die Düsseldorfer ZERO-Künstler jedoch noch nicht gekannt haben dürften.[iii] Sie kamen über den in Paris lebenden Schweizer Jean Tinguely (1925-1991) mit den Motoren in der Kunst in Berührung. Anna-Lena Weise berichtet darüber, wie die „Kinetik“ ZERO beeinflusste.
Ob Feuer, Taschenlampe oder wattstarke Scheinwerfer, das „Licht“ spielte eine entscheidende Rolle für die ZERO-Kunst: metaphorisch, allegorisch, als immaterielles Material oder als Ausgangspunkt (Nullpunkt) für ein Zeichensystem und wie Marco Meneguzzo darlegt: als Erweiterung von Raum.
Von einem Nullpunkt aus entwickelte sich nach 1950 nicht nur die bildende Kunst und die Literatur, auch die Musik suchte nach dem Neuanfang. Rudolf Frisius betrachtet in seinem Aufsatz die Idee des Neustarts in der Musik. Romina Dümler untersucht aufgrund der Planungen für ein ZERO-Festival am niederländischen Hafen von Scheveningen den Begriff der „Natur“ in den unterschiedlichen künstlerischen Konzepten.
Die „Null“ stand für einen Neuanfang und für einen Beginn, sie diente jedoch gleichzeitig als Grafik und Metapher. Darüber hat sich Anna-Lena Weise Gedanken gemacht. Während Rebecca Welkens die vielen „Poster“ und Plakate im Archiv auswertete und deren Entstehung und Gestaltung nacherzählt.
Ein Hörstück aus originalen Zitaten der ZERO-Protagonisten hat Leonard Merkes zusammengestellt und damit aus den Worten im Archiv ein Stück Literatur geschaffen. Das „Rot“ steht stellvertretend für die wenigen Farben bzw. Nichtfarben, aus denen die ZERO-Künstler die für die Zeit typischen Monochrome geschaffen haben. Matthieu Poirier folgt der Entwicklung aus dem zweidimensionalen in das dreidimensionale Monochrom. So wie das monochrome Tafelbild fest mit dem Namen von Kasimir S. Malewitsch (1879-1935) verbunden ist, ebenso konstitutiv ist der russisch-polnische Konstruktivismus und Unismus für die Grundlagen der ZERO-Kunst. Iwona Bigos entdeckt in ihrem Aufsatz die zu Grunde liegende „Struktur“.
Das Ende der Kunstgeschichte erkennt Hans Belting wie oben dargestellt durch das Ende des Kunstwerks. Pars pro toto benennt er Yves Klein, der „den Schöpfungsakt in ein Theater“ verwandelt, „in dem dieser Akt selber zum Werk wird: zum Werk der ‚performance‘.“[iv] Über den performativen Charakter hinaus, den ZERO-typische Kunstwerke wie das Piene´sche Lichtballett, die Rotoren von Heinz Mack oder die Sandmühle von Günther Uecker annehmen, haben die Künstler auch bereits in den 1960er-Jahren eng mit dem Theater zusammengearbeitet und Bühnenbilder entworfen. Barbara Büscher erforscht die Beziehung der ZERO-Kunst zum „Theater“.
Von der „Utopie“ ist häufig zu lesen in den Abhandlungen über ZERO, doch waren die Träume von der Kunst in der Wüste oder am Himmel wirklich utopisch, frage ich mich, um mit den Worten Harald Jähners das Ergebnis zusammenzufassen: „Das Vergessen war die Utopie der Stunde.“[v]
Mit der Kinetik und der Bewegung hielt etwas Einzug in die Kunst, das man bisher nur aus der profanen Welt des Industriezeitalters kannte, nämlich den elektrischen Strom. Unter dem Stichwort „Volt“ erkundigen sich Romina Dümler und Rebecca Welkens wie Restauratorinnen heute die frühen mechanisch betriebenen Kunstwerke betreuen.
Den Frauen („Women“) widme ich meinen gleichnamigen Beitrag, der deutlich macht: Es gab sie – die ZERO-Künstlerinnen.
Das X erhält im Alphabet nicht nur eine Sonderstellung, weil es wenige Termini in seiner Menge vereint, sondern es bildet auch eine Brücke in die Mathematik, nicht nur als römische Darstellung für die arabische Zahl zehn, sondern auch als Symbol für die Multiplikation. Dieses Spiel mit den Bedeutungen veranlasste die Betitelung eines Dokumentarfilms über die ZERO-Bewegung mit „0 X 0 = Kunst“, den ich kurz in seiner Bedeutung skizziere. Die letzten Buchstaben des ABC gleichen den Berggipfeln, von hier aus sieht alles Vorangegangenen leicht aus. Obgleich keiner der Begriffe von A bis X einer einzelnen Künstlerpersönlichkeit gewidmet wurde, musste ich beim Y eine Ausnahme machen, denn kein Wort mit Y passt so gut zu ZERO wie „Yves“. Über Yves Klein (1928-1962) sind viele ausführliche Werk- und Künstlermonografien veröffentlicht worden, daher wird hier nur eine kleine Geschichte über den französischen Künstler erzählt, die sich aus den Briefen im Archiv rekonstruieren lässt.
Schließlich versucht das Z wie „ZERO“, die Frage zu beantworten, die unterschwellig die ganze Publikation durchzieht: Was ist ZERO?
Während eines Symposiums im September 2023 trafen sich die Autor*innen und ZERO-Interessierten, um anhand der Vorträge, die in dieses Buch als Beiträge einflossen, zu klären, was denn nun dieser dehnbare, uneindeutige, vielschichtige, polymorphe Name ZERO meint. Lesen Sie in meiner Zusammenfassung, ob wir die Frage beantworten konnten. Oder beginnen Sie mit der Lektüre des ZERO-ABCs bei Z wie ZERO oder erkunden Sie das Terrain von jeder beliebigen Kapitelüberschrift aus.
[i] Konrad Adenauer war von 1949-1963 erster Bundeskanzler der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland. Er gehörte der Christlich Demokratischen Union Deutschlands an, die er nach dem Krieg mitbegründet hatte und deren Vorsitzender er von 1950-1966 war.
[ii] Siehe https://www.georgerickey.org/resources/bibliography (9.3.2024)
[iii] Jedenfalls existieren keine Hinweise im Archiv darauf.
[iv] Belting (wie Anm. 13), S. 163.
[v] Harald Jähner, Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945-1955, Berlin 2019, S. 27.

Friedrich Kittler (1943-2011) verankerte die deutsche Mediengeschichte und -theorie 1985 in seiner Untersuchung der Aufschreibesysteme 1800.1900. Darin analysiert er die Bedingung von Medien bzw. deren Gebrauch in der Literatur und zeigt auf, wie der „Muttermund“ das „Lesenlernen um 1800“ veränderte, nämlich vom Auswendiglernen zum Verstehen.
schreibt Kittler. Mit diesen Worten schließen sich viele, hier geöffneten Kreise: der von der Kunst und ihrer permanenten Re-Aktivierung durch das Archiv; der von den Frauen und Männern, Erfindern und Forscherinnen; der nach der Legitimation des vorliegenden Buches, das nicht das einzige ABC[i] ist, aber das einzige über eine „Künstlergruppe“, die sich ZERO nannte.
[i] Mein Vorbild war das Abécédaire von Gilles Deleuze (Original 1988/89, erste Ausstrahlungen auf Arte ab 1995), hrsg. von Valeska Bertoncini und Martin Weinmann, Berlin 2009. Entlang des Alphabetes orientiert sich auch Roland Barthes mit seinen Fragmenten einer Sprache der Liebe, Frankfurt a.M. 1988, allerdings sind hier Mehrfachnennungen zu einzelnen Buchstaben erlaubt und Barthes schmuggelt sich um die schwierige Passage rund um die Buchstaben X und Y herum.
Mein Dank gilt allen, die zur Publikation beigetragen haben: den Förderern, den Schreibenden – deren Biografien im Anhang zu finden sind –, den Mitarbeitenden, den Grafikern, den Bildrechteinhaber*innen, dem Verlag und den Lesenden!
Endnotes
2 Einführung
ZERO zählt
Jürgen Wilhelm
Es fällt heute schwer, sich mehr als 75 Jahre nach dem Ende des von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieges die Zwänge vorzustellen, in denen sich das wirtschaftliche, gesellschaftliche, vor allem aber das kulturelle Leben Deutschlands vorwiegend abspielte. In der bildenden Kunst dominierten die grauen Farbtöne, das Informel, der Tachismus und bei vielen Künstlern eine gewisse Furcht vor der Figuration, die den Verdacht des Wiederauflebens eines faschistischen Realismus hätte implizieren können.[i] Die Fessel der Vergangenheit in den Kunstakademien, in denen man auf Klassisches zurückgriff, weil man die Avantgarde nicht kannte und auch personell nicht repräsentierte sowie der Mangel an Internationalität waren nach zwei verheerenden Weltkriegen in kurzer Zeit Kennzeichen einer pessimistischen, am Menschen verzweifelnden Malerei.
[i] Zu den Ausnahmen (u.a. Lehmbruck, HAP Grieshaber, Horst Antes) vgl. Hans Platschek, Neue Figurationen, München 1959.
Vor diesem Hintergrund eines Psychogramms des „homo miserabilis“[i] entsprangen Bilder und Skulpturen, von deren Haltung sich eine Avantgarde lösen wollte, deren biografische Rückbesinnung nicht von den Kriegserlebnissen – obwohl sie davon durchaus betroffen war – absorbiert, dominiert, manchmal blockiert, wurde. Ambitioniert wurde mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein der Aufbruch in ein neues Zeitalter gefordert und gewagt. Die künstlerischen wie auch geistigen Protagonisten dieses Aufbruchs waren Heinz Mack (*1931) und Otto Piene (1928-2014), zu denen später Günther Uecker (*1930) stieß. Nach ersten Treffen entschieden sie, ihre bis dahin lose Gruppierung „ZERO“ zu benennen.[ii] Sie öffneten sich schon in der ersten Zeit ihrer Aktivitäten mit den „Abendausstellungen“ auf kleinstem Raum Gleichgesinnten, was ihnen auch deshalb leicht viel, weil sie die Individualität des künstlerischen Schaffens nicht in Frage stellten und keinen eigenen „Stil“ vorgaben. Diese Ausstellungen, die nur einen Abend dauerten, waren aus der Not geboren, weil es keine Galerien gab, die sich Neuem zuwenden wollten. Es wehte in den 1950er Jahren immer noch der Mief eines konservativen Kunstverständnisses, dem sich nur wenige Mutige entgegenstellten. Der Expressionismus der Vorkriegszeit, der während der Nazizeit als „entartet“ galt, die Skulpturen Wilhelm Lehmbrucks (1881-1919), die Scheibenbilder Ernst Wilhelm Nays (1902-1968) und einige andere künstlerische Positionen waren Ausnahmen, die sich vorsichtig und erst allmählich durchzusetzen begannen. Selbst der Surrealismus erlebte in Deutschland eine größere Aufmerksamkeit erst Ende der 1950er Jahre, nachdem Max Ernst (1891-1976) und Hans Arp (1886-1966), gemeinsam mit Joan Mirò (1893-1983), 1954 auf der Biennale in Venedig Preise für Skulptur und Malerei erhielten. Die Avantgarde der internationalen Kunst lebte und arbeitete ohnehin nicht in Deutschland, sondern in New York und Paris.
Zudem war der Sammlerkreis für Kunstwerke insgesamt noch klein, mussten sich doch die meisten Deutschen auf den Wiederaufbau und ihre eigene Existenz konzentrieren. Ohne den neugierigen, dem Unorthodoxen aufgeschlossen gegenüberstehenden Düsseldorfer Galeristen Alfred Schmela (1918-1980), der eine Initialzündung mit Yves Klein (1928-1962) wagte, um sich danach intensiv ZERO zuzuwenden, wäre es nicht zu einer feuilletonistischen Aufmerksamkeit für die ZERO-Aktivitäten gekommen. Selbst diese war jedoch zumeist bemerkenswert konservativ.[iii]
Insoweit brach ZERO mit der Vergangenheit und vermittelte ein vollkommen neues Gefühl von Freigeistigkeit, Optimismus und der Hoffnung auf Mitstreiter im internationalen Kontext. Mit Mut, den Ballast abzuschütteln, zerschlugen sie die Betäubung, den Schutzumhang der Kunst, die den Blickwinkel aus der Geschichte der Nazizeit heraus allzu verkrampft umsetzte. Heinz Mack hat die Inspiration in den ersten Jahren von ZERO in seinem „poetisch formulierten Manifest“ wie folgt zusammengefasst:
[i] Wieland Schmied, „Notizen zu ‚ZERO‘“, in: Mack, Piene, Uecker, Ausst.-Kat., hrsg. von der Kestner Gesellschaft (Nr. 7), Hannover 1965, S.8.
[ii] Die Entstehung der Bezeichnung anlässlich der 7. Abendausstellung ist durch die Äußerungen von Otto Piene und Heinz Mack belegt, wenn es auch im Einzelnen Nuancen hinsichtlich der Erinnerung im Detail gibt. Siehe „Otto Piene, im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks“, in: Das Ohr am Tatort, hrsg. von Ulrike Bleicker-Honisch und Anna Lenz, Ostfildern 2009, S. 102.
[iii] Siehe z.B. die Artikel in Frankfurter Rundschau, 20.7.1959 und in Die Welt, 25.7.1961, abgedruckt in: ZERO, Ausst.-Kat., hrsg. von Dirk Pörschmann (ZERO foundation) und Margriet Schavemaker, (Stedelijk Museum), Köln 2015, S. 41 und S. 63.
„ZERO war in der Stunde des Anfangs eine Dimension des unendlichen Raums, in dem man ortlos schweben konnte, getragen allein von grenzenlosen Ideen. Eine wunderbare, befreiende Erfahrung, die unwiederholbar in Erinnerung bleibt“.[i]
[i] Heinz Mack, „Gedanken zu ZERO“, in: ZERO 4321, hrsg. von Dirk Pörschmann und Mattijs Visser (ZERO foundation), Düsseldorf 2012, S.18.
Kunsthistorisch vermittelte ZERO nicht nur ein neues Bild der Kräfte der Natur und der technischen Möglichkeiten, die damals noch eine nicht an ökologische Grenzen stoßende hoffnungsvolle Zukunft versprachen, auch die Kinetik spielte eine herausragende Rolle. Die 8. Abendausstellung 1958 mit ZERO 2 stand unter dem Motto „Vibration“, eine für eine Kunstausstellung in jener Zeit durchaus rätselhafte Überschrift. Die Begriffe „Lichtballett“ und „Struktur“, derer sich Piene und Mack dort bedienten, veränderten die Sichtweise auf die zeitgenössische Kunst nach der Dominanz des Expressionismus´, des Informels und des Surrealismus. Günther Uecker, nach dem Grund seiner Benutzung von Nägeln gefragt, antwortete: „[…] ich schrieb schließlich ein Transgressions-Manifest anlässlich einer Ausstellung […] und ich übernagelte am Fußboden […] Texte. Frei nach der Devise ‚Kunst überflutet die Welt‘.“[i]
Die Erde, Materie und der Krieg waren Ende der 1950er Jahre nicht mehr die Referenzpunkte, auf die sich Heinz Mack und Otto Piene mit ihrer Kunst berufen wollten. Mit der Abkehr vom Wandbild und damit der Notwendigkeit von Wänden in allen Räumen von Ausstellungshallen (Museen, Galerien usw.) sowie der radikalen Konzentration auf Licht, Feuer, Luft, die Unendlichkeit des Weltraumes; die kaum zu begreifende Leere einer Wüste; Günther Uecker, der den Nagel als neues „Sprachmittel“[ii] verstand und verwendete, öffnete sich ein neuer Horizont, der sich durch regen und wechselseitig befruchtenden Austausch rasch auch international etablieren sollte. Insbesondere die Begegnungen mit Arman (1928-2005), Lucio Fontana (1899-1968), Yves Klein, Piero Manzoni (1933-1963), Jean Tinguely (1925-1991), Jef Verheyen (1932-1984) und weiteren verhalfen den zunächst auf die deutsche (Düsseldorfer) Kunstszene konzentrierten Abendausstellungen rasch zu einer Ausweitung des theoretischen und künstlerischen Ansatzes von ZERO. Selten wurde ein Geschichtsbild so rasch korrigiert[iii], selten ging eine junge Generation von Paris bis Düsseldorf, von Mailand bis Amsterdam so vehement und fundiert gegen das künstlerische Establishment an. Nicht zuletzt aus der freundschaftlichen und offenen Kooperation zwischen vielen Protagonisten, die zu einer radikalen Kunstform gefunden hatten (z.B. lernte Mack Fontana über Manzoni bereits 1959 in Mailand kennen) oder durch den mit schier unendlicher Energie ausgestatteten und stets neue Wege suchenden und dabei ohne Kompromisse vorgehenden Yves Klein sowie den die Kinetik einbringenden Jean Tinguely öffneten sich nach und nach Museen und internationale Galerien von Paris bis nach New York, Amsterdam und immer wieder auch in Düsseldorf – allen voran Schmela.
[i] „Günther Uecker, im Gespräch mit Heinz-Herbert Jocks“, in: Das Ohr am Tatort, hrsg. von Bleicker-Honisch, Lenz (wie Anm. 3), S. 119.
[ii] Ebd., S. 118.
[iii] Manfred Schneckenburger, „ZERO oder der Aufbruch zur immateriellen Struktur“, in: Gruppe ZERO, Ausst.-Kat., hrsg. von Hubertus Schoeller, Düsseldorf 1988, S. 8.
Die ZERO-Rakete von Heinz Mack, die in ZERO 3 Eingang fand, griff diese Vorstellung von einem Aufbruch in eindrucksvoller Weise auf und die 2015, also 50 Jahre später, stattfindende fulminante Retrospektive im Guggenheim Museum New York wurde Countdown to tomorrow betitelt, was in luzider Intellektualität die Intentionen der ZERO-Gründer in ihrem Wesenskern erfasst.[i]
[i] Und auch eine gewisse (gesellschaftspolitische) Rehabilitierung deutscher Kunst nach 1945 in der Kunstmetropole New York signalisierte.
Doch, wenn auch im Ergebnis erfolgreich, so war der Weg zur internationalen Anerkennung beschwerlich. Immer laufen neue Entwicklungen erst einmal gegen gut bewachte Mauern. Und immer setzt Entwicklung, die als Fortschritt verstanden wird, Tabubrüche mit Etabliertem voraus. Die Durststrecke bis zur Anerkennung, die auch ein materiell ausgestattetes Leben als Künstler ermöglicht, ist meist lang. Nicht zuletzt verzweifeln viele Künstlerinnen und Künstler auf dem steinigen Weg der Selbstständigkeit und geben auf. Nicht so die drei bestimmenden Protagonisten von ZERO.
Dazu hat vieles beigetragen. Neben den überzeugenden Kunstwerken selbst mit all‘ ihrer neuen Materialienfülle (Feuer, Licht, Metall, Kinetik, Nägel) und den Staub der 1950er Jahre hinwegpustenden Aktionen transportierten sich die Ideen, die Mack, Piene und später Uecker mit ZERO verbanden, vor allem durch die von Anfang an theoretische Dimension von ZERO. Sie darf keinesfalls unterschätzt werden. Schon die von Heinz Mack und Otto Piene herausgegebenen ZERO-Bücher (ZERO 1, 2 und 3) stellen nach den Publikationen des Bauhauses die erste von Deutschland ausgehende publizistische Offensive einer europäischen künstlerischen Avantgarde dar, in denen ihr Wirken gesellschaftspolitisch und kunsthistorisch unverrückbar postuliert wird.
Mack, Piene und Uecker haben dieses – wenn auch im Einzelnen unterschiedlicher Gewichtung unterliegende – Grundverständnis selbst nach dem Ende von ZERO durch viele Gespräche, Interviews, Katalogbeiträge usw. dokumentiert, variiert und bekräftigt. Es dürfte bis heute von niemandem in der Nachkriegskunst umfänglichere und fundiertere Äußerungen über die Einordnung ihrer künstlerischen Arbeiten und das zugrundeliegende Selbstverständnis geben als von Mack, Piene und Uecker. Allein im Katalog der Ausstellung der Galerie Schoeller 1988, also mehr als 20 Jahre nach dem Ende von ZERO, tragen sie durch ein „Manifest“ (Uecker) und weitere erläuternde Ausführungen zum Verständnis der kunsthistorischen Einordnung erheblich bei.[i] Auch deshalb ist ZERO, weit über die deutsche Kunstgeschichte hinaus, von nachhaltiger Bedeutung. Der intellektuelle Fundus, der Grundlegendes zur inneren Haltung von ZERO beitrug, findet sein geistiges Pendant im 20. Jahrhundert vergleichbar dem Surrealismus, der – ausgehend zunächst von lyrischen und Prosatexten und der Interpretation vornehmlich von André Breton (1896-1966) – durch Max Ernst und andere in die Schöpfung bildender Kunst Eingang fand. Andere künstlerische Positionen haben dem wenig Gleichwertiges entgegenzusetzen, sondern erhielten ihre Interpretationen weitgehend durch kunsthistorische oder feuilletonistische Zuschreibungen.
Zudem sollte man den für einige Jahre blühenden Gemeinschaftsgeist der drei Protagonisten nicht kleinreden. Erst in der Gemeinschaft von ZERO lebten die Künstler und Künstlerinnen auf, fanden sich zum Teil erst dort selbst, wurden unverwechselbar.[ii] ZERO rief darüber hinaus aufgrund seiner theoretischen Fundierung ein Gemeinschaftsgefühl in vielen Ländern Europas hervor; die Ausstellungen und die sie häufig begleitenden Performances strahlten eine bis dahin nicht mit Deutschland in Verbindung gebrachte Begeisterung aus. Man kann sich dies im 21. Jahrhundert kaum noch vorstellen, aber die wiedergewonnene Internationalität, die Möglichkeit Reisen zu unternehmen und Kontakte zu Persönlichkeiten aus der Kunstszene aufzubauen, waren nicht selbstverständlich. Vor allem galt es, Vertrauen und Akzeptanz wiederzugewinnen, die durch die Gräuel der Nazizeit verlorengegangen waren und hierdurch künstlerische Kontakte und deren häufig gegenseitige intellektuelle Befruchtung weitestgehend zerstört hatten.
Die emotionale und teilweise spirituelle Seite ihrer Kunst wurde von Anfang an betont und vorangetrieben, wobei sie die beglückende Erfahrung machten, dass es durchaus vergleichbare Intentionen von Künstlerinnen und Künstlern in vielen europäischen Staaten gab, die den Kontakt und die aus Deutschland kommende Initiative begeistert aufnahmen und häufig kooperierten. Ohne unmittelbar politisch oder gesellschaftlich im Sinne eines öffentlichen Statements Stellung zu beziehen, sehen die ZERO-Künstler in ihren Aktionen eine Kraft, die die Gesellschaft beeinflussen kann. Die Bezüge zur Technik (Piene) und zu in der Industrie eingesetzten Materialien (Mack) und die radikale Sichtveränderung durch Vernagelung (Uecker) für ihre Kunst zeugen von der Suche nach einem zu Beginn noch nicht vollständig gesicherten Standpunkt und der Bestätigung des eigenen Ausgangspunktes, obwohl der selbstgestellte Anspruch durchaus war, Kunst durch ein Sichtbar- und Bewusstmachen grundsätzlicher Phänomene der Zeit als Mittel zur Welterkenntnis zu verstehen.[iii] Doch obwohl sich die Anfänge von ZERO zu einer Abkehr des konventionellen Kunstverständnisses und der gesellschaftlichen Rezeption begreifen lassen, so nüchtern und illusionslos wird die Rolle des Künstlers in ZERO 2 von Otto Piene beschrieben:
[i] Vgl. Jürgen Wilhelm (Hrsg.), Mack im Gespräch. Annette Bosetti in Gesprächen mit, München 2015; Jürgen Wilhelm (Hrsg.), Piene im Gespräch. Christiane Hoffmans in Gesprächen mit, München 2015.
[ii] Wieland Schmied, „Etwas über ZERO“, in: ZERO 4321, hrsg. von Pörschmann, Visser (wie Anm. 5), S. 16.
[iii] Siehe Anette Kuhn, ZERO, Eine Avantgarde der sechziger Jahre, Frankfurt am Main 1991, S. 179 f.
„Die landläufige Auffassung, der Künstler selbst habe nämlich seiner Zeit Ausdruck zu verleihen, ist insofern naiv, als sie ihn letztlich zum Berichterstatter degradiert. Der Künstler reagiert auf seine Zeit, aber seine Reaktion ist schöpferisch, indem sie sich formend auf die Zukunft mehr als auf die Gegenwart bezieht.“[i]
[i] Otto Piene, „Über die Reinheit des Lichts“, in: ZERO 4321 (wie Anm. 5), S. 27.
Ob deshalb die 1958 in ZERO 1 gestellte Frage: „Bewirkt die gegenwärtige Malerei eminente Formung der Welt?“ zu erkennbaren Verhaltensänderungen menschlichen Handelns geführt hat, muss heute wie damals trotz vieler Antwortversuche offenbleiben.[i]
[i]Vgl. die höchst individuellen Reaktionen, die in ZERO 4321 (wie Anm. 5), zusammengestellt wurden, S. 527-549.

Endnotes
A Atelier
Das Atelier in der Gladbacher Str. 69. Eine multiple Räumlichkeit
Ann-Kathrin Illmann

Die Worte von Heinz Mack (*1931) auf die Bitte, die Örtlichkeiten seiner gemeinsam mit Otto Piene (1928–2014) genutzten Werkstätte im Hinterhaus der Gladbacher Straße 69 in Düsseldorf zu schildern, entpoetisieren. Sie führen weg von der im kollektiven Bewusstsein verankerten Vorstellung des Ateliers als geheimnisvollem, mythischen Ort der künstlerischen Schöpfung, wie es zahlreiche bildliche Darstellungen à la Gustave Courbet (1819–1877) zu evozieren pflegen und entwerfen das Bild eines „anderen“ Raumes. Dabei bezieht sich diese Andersartigkeit in erster Linie gewiss auf den Kontrast zum skizzierten Topos. In der Aussage von Mack klingt zugleich ein differenziertes Verständnis von Raum an, das zwischen dem gebauten, physischen und als solchen sichtbaren Raum – demjenigen in der alten Fabrik – auf der einen Seite und dem in diesen tatsächlichen Raum hineinprojizierten Raum – dem Atelier – auf der anderen Seite unterscheidet.
Die Idee einer doppelten oder auch multiplen Räumlichkeit an ein und demselben geografischen Ort findet sich in einem posthum veröffentlichten Text von Michel Foucault (1926–1984) wieder.[i] In Andere Räume entwickelte er das Konzept der Heterotopie in Abgrenzung zur Utopie
[i] Michel Foucault, „Andere Räume“ (im Original „Des espaces autres“, 1967), übers. von Walter Seitter, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hrsg. von Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris, Leipzig 1990, S. 34–46.
[i] Michel Foucault, „Andere Räume“ (im Original „Des espaces autres“, 1967), übers. von Walter Seitter, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hrsg. von Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris, Leipzig 1990, S. 34–46.
„Es gibt gleichfalls – und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation – wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen [sic] oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz anders [Kursivierung im Original] sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien [Kursivierung im Original].“[i]
[i] Ebd., S. 39.
Diese „anderen Räume“ entstehen nach Foucault dann, wenn die Gesellschaft einem Ort eine oder mehrere spezifische Funktionen überschreibt, die sich nicht unmittelbar aus dessen Topografie erklären oder von dieser ableiten lassen. Erlischt diese bestimmte Aufgabe, löst sich die Heterotopie auf oder gleicht sich den neuen Umständen an. Ein zentrales Charakteristikum besteht folglich darin, dass sie von den Mitgliedern der Gesellschaft jederzeit beliebig umgewertet werden können. Heterotopien sind keine statischen Gebilde, sondern machen Orte zu wandelbaren Räumen, deren Verständnis und damit einhergehend auch deren jeweilige Bedeutung sich erst aus der Analyse all jener Kontexte ergibt, in denen diese Räume konstituiert werden.
Der Definition zufolge bezeichnet der ursprünglich aus dem Französischen stammende Terminus des Ateliers, der ab der Mitte des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebrauch Verwendung fand, die Werkstätte einer kunstschaffenden Person. Unabhängig davon, ob diese eigens zu diesem Zweck errichtet wurde oder einst eine andere Funktion besaß, ist die Deklaration eines Raumes als Atelier demnach allein an die Künstler*innen und deren Intention geknüpft. Der diskursive Ansatz von Foucault hilft dabei, diesen starren Fokus zu verlagern und betrachtet das Atelier von Mack und Piene in der Gladbacher Straße 69 in Düsseldorf, in der die Geschichte von ZERO ihren Anfang nehmen sollte, hier über die begriffliche Erklärung hinaus als potenziell multidimensionale Räumlichkeit, die gleichermaßen auch von der anderen Seite, von dem Kreis der Besucher*innen geformt werden konnte. Neben den verschiedenen nutzungsspezifischen Aspekten des Ortes zeigt sich im Hinblick auf Mack und Piene als aktive Gestalter des Raumes auf diese Weise zudem ein differenzierter Umgang mit dessen Inszenierung, bei der sie den Topos Atelier je nach Anlass bewusst zu negieren versucht oder aber als Instrument gezielt eingesetzt haben.[i]
[i] Die Idee, Foucaults Theorie der Heterotopie auf das Atelier anzuwenden, stammt von Eva Mongi-Vollmer, die sich auf diese Weise mit den verschiedenen Ausprägungen des Ateliers im deutschsprachigen Raum während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigte. Siehe Eva Mongi-Vollmer, „Das Atelier als ‚anderer Raum‘. Über die diskursive Identität und Komplexität des Ateliers im 19. Jahrhundert“, in: Kunstforum International, Nr. 208, 2011, S. 92–107.
Kerzen, ein umgedrehtes Glas, offene Farbdosen, verschiedene Flaschen, Kartons, eine kleine Tischuhr sowie eine Vielzahl weiterer Utensilien liegen wild durcheinander und sich stapelnd auf dem Deckel eines Flügels, der darunter als solcher kaum mehr zu erkennen ist. Überall finden sich Spuren künstlerischen Schaffens – der Korpus des hier scheinbar zur Werkbank umfunktionierten Musikinstruments, der Fußboden, die Staffelei im Hintergrund, das komplette Mobiliar ist von hellen Farbrelikten überzogen. Vereinzelt liegen Papierreste herum, daneben Kanister in den unterschiedlichsten Größen. Und inmitten des kreativen Chaos: sein Urheber mit einem seiner berühmten Raster in den Händen.

Die Fotografie von 1958 zeigt Piene in seinem Atelier und ist augenscheinlich arrangiert. In Anzug mit Fliege, vor allem aber mit dem schwarzen Rastersieb vor der Brust, jenem Werkzeug, mithilfe dessen er sich vom Habitus der gestischen Malerei zu distanzieren und eine Vereinheitlichung der Fläche anzustreben begann, inszenierte Paul Brandenburg den Mitbegründer von ZERO an der Klaviatur sprichwörtlich den Ton angebend als Repräsentant einer neuen Kunstauffassung. Die klare, gleichmäßige Struktur des Rasters steht im deutlichen Kontrast zur Unordnung der Materialsammlung vor ihm, über die er hinwegsieht, den Blick streng nach vorne wie in die Zukunft gerichtet. ZERO ist der (Neu-)Anfang, so scheint die programmatische Devise der Darstellung zu lauten, die das Studio eindeutig in den Dienst des self fashionings des Künstlers stellt. Der vermittelte räumliche Eindruck scheint indes authentisch zu sein. Der Vergleich mit einer Aufnahme stärkeren dokumentarischen Charakters von Charles Wilp (1932–2005), die Piene im Begriff eine Leinwand zu grundieren wiedergibt, zeichnet ein ähnliches Bild und kennzeichnet die Räumlichkeit als schlichte, auf die künstlerische Tätigkeit ausgerichtete Werkstätte – ein Atelier per definitionem. Hier materialisiert sich die flüchtige Idee, nimmt langsam Form an und manifestiert sich schließlich im vollendeten Kunstwerk. Es herrschen eigene Regeln, die keine strikte Ordnung verlangen, sondern allein dem kreativen Prozess obliegen.
Das Atelier befand sich im Obergeschoss eines durch den Zweiten Weltkrieg teilweise zerstörten Hinterhofgebäudes der Gladbacher Straße 69 im Düsseldorfer Stadtteil Bilk, in dessen unterer Etage eine Dreherei betrieben wurde.[i] Das obere Stockwerk, zu dem eine schmale und äußerst steile Treppe direkt hinter der Holztür mit dem weißen Briefkasten führte, bestand im Wesentlichen aus drei Räumen, zwei links und einer rechts der Treppe. Letzteren hatte Mack bereits als Werk- und zeitweise auch als Wohnstätte genutzt, als sich durch den Auszug einer zuvor dort untergebrachten Ballettschule um 1955/1956 die Gelegenheit bot, den größeren der beiden auf der gegenüberliegenden Seite gelegenen Räume zu übernehmen.[ii] So taten sich Mack, Piene und Hans Salentin (1925–2009), zwischen denen sich über die gemeinsame Zeit an der Düsseldorfer Kunstakademie hinaus eine Freundschaft entwickelt hatte, mit dem Künstler Hans-Joachim Bleckert (1927–1998) und dem Werbefotografen Wilp zusammen und mieteten ihn kollektiv an.[iii] Er maß im Grundriss etwa 56 Quadratmeter und war an der Süd- und Westwand jeweils mit mehreren Fenstern ausgestattet.[iv] Als Dach diente Wellblech, das die ursprüngliche, durch den Krieg ruinös gewordene Decke ersetzte.[v] Sichtbare Stahlgitterträger stützten die Konstruktion und bewirkten, gepaart mit dem unverkleideten Ziegelmauerwerk, dass dem Raum stets etwas Industrielles anhaftete, wie es Mack in der eingangs zitierten Aussage unterstrich, um die Einfachheit der räumlichen Verhältnisse zum Ausdruck zu bringen.[vi] Piene bezeichnete sie in diesem Kontext ähnlich karg auch als „Rohbau“[vii]. Ein Oberlicht gab es nicht, ebenso wenig wie separate Sanitäranlagen, die sich die Künstler stattdessen in Form eines Toilettenhäuschens im kleinen Garten neben der Dreherei mit dieser teilten. Fror dessen über den Hof verlaufende Wasserleitung im Winter zu, suchten sie das Lokal Hafenquelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf.[viii] 1957 ging der Raum allein an Piene über, der ihn bis 1966, bis zur Auflösung von ZERO, behielt.[ix] Das angrenzende kleinere Studio hatte zwischenzeitlich der Bildhauer Kurt Link (1926–1996) gemietet, ehe es später offiziell von Mack übernommen wurde und teilweise als zusätzliche Fläche für die sogenannten Abendausstellungen diente[x] – jenes legendäre Unternehmen Macks und Pienes, das letztlich zur Gründung von ZERO führen sollte und das Atelier der Idee und Funktion nach über die bekannte, begriffliche Bedeutung als Arbeitsraum der Künstler hinaus öffnete.
[i] Vgl. Otto Piene, „Wo sich nichts spiegelte als der Himmel“, in: Meister (wie Anm. 1), S. 5–46, hier S. 15.
[ii] Vgl. Thekla Zell, EXPOSITION ZERO. Vom Atelier in die Avantgardegalerie. Zur Konstituierung und Etablierung der Zero-Bewegung in Deutschland am Beispiel der Abendausstellungen, der Galerie Schmela, des studio f, der Galerie nota und der d(ato) Galerie, Diss. Kiel, Wien 2019, S. 81.
[iii] Die Angaben darüber, wer wann welchen Raum anmietete, sind nicht immer deckungsgleich. Piene, in: Meister (wie Anm. 1), S. 15, erwähnte neben Bleckert auch Kurt Link im Zusammenhang mit der Miete für den großen Raum. Zell (wie Anm. 6), S. 81, die sich in ihren Angaben auf Pienes Aussagen stützt, lässt Bleckert unerwähnt. Mack gab allgemein an, dass das „größere Zimmer […] fünf Leute gemietet“ hatten „und das kleinere […] später Kurt Link und dann ich [Mack]“. Mack, in: Meister (wie Anm. 1), S. 55.
[iv] Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 83.
[v] Vgl. Piene, in: Meister (wie Anm. 1), S. 15.
[vi] Mack, in: Meister (wie Anm. 1), S. 57, verglich sein kleines Apartment sogar „fast“ mit einer „Strafanstalt“, betonte am Ende seiner Antwort aber ausdrücklich, dass sie „das Elend nicht so empfunden“ haben.
[vii] Piene, in: Meister (wie Anm. 1), S. 17.
[viii] Vgl. ebd.
[ix] Vgl. Otto Piene, „Das Gold namens Licht“, in: Das Ohr am Tatort. Heinz-Norbert Jocks im Gespräch mit Gotthard Graubner, Heinz Mack, Roman Opalka, Otto Piene, Günther Uecker, hrsg. von Anna Lenz, Ulrike Bleicker-Honisch, Ostfildern 2009, S. 91–115, hier S. 101.
[x] Vgl. ebd. Siehe auch Mack, in: Meister (wie Anm. 1), S. 55.

Derselbe Ort, nahezu aus demselben Blickwinkel aufgenommen, und doch ein gänzlich anderer Raum. Nichts erinnert mehr an die geheimnisvolle Atmosphäre, welche die Fotografie von Brandenburg ausstrahlt, dem kreativen Prozess des Künstlers auf der Spur. Zum Zeitpunkt dieser Aufnahme hat die künstlerische Produktion bereits zu einem Abschluss gefunden, wie die hängenden Gemälde unterschiedlichen Formats und Inhalts deutlich machen. Die Wände scheinen weißer. Es wurde aufgeräumt, nichts liegt mehr herum. Der Requisitenturm ist fein säuberlich aufgereihten Gläsern gewichen. Sie sind unbenutzt, die Bierflaschen im Kasten unter dem Flügel voll – offensichtlich hat die Vernissage noch nicht begonnen.
Das Bild von Salentin dokumentiert den 26. September 1957, als Mack und Piene ihre 4. Abendausstellung veranstalteten. Aus der allgemeinen Not heraus entstanden, dass im konservativ geprägten Düsseldorf der 1950er Jahre für junge, progressive Kunstschaffende kaum eine Plattform existierte, um ihre Arbeiten der Öffentlichkeit vorzustellen, hatten die beiden etwas mehr als ein halbes Jahr zuvor beschlossen, selbst aktiv zu werden und ihre berühmten Abendausstellungen ins Leben gerufen.[i] In regelmäßigen Abständen von ein bis drei Monaten öffneten sie von April 1957 bis Oktober 1958 für die Dauer von jeweils einem Abend die Tür zu ihrem Atelier in der Gladbacher Straße, um dem interessierten Publikum die neuesten Entwicklungen in der zeitgenössischen Malerei zu demonstrieren.[ii]
Die Idee, die eigene Werkstätte zum Ausstellungsraum umzufunktionieren, war nicht neu. Asmus Carstens (1754–1798) oder Jacques-Louis David (1748–1825) etwa nutzten ihre römischen Studios schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts, um ihre Werke in eigens für die Allgemeinheit arrangierten Schauen zu präsentieren.[iii] Dass Künstler*innen neben ihren eigenen Arbeiten auch, respektive sogar primär jene ihrer Kolleg*innen ausstellten, hatte es zuvor hingegen noch nicht gegeben und markiert einen entscheidenden Unterschied. Abseits von merkantilen Gründen wie der Werbung um potenzielles Käuferpublikum[iv] und fernab des Ausdrucks von Unabhängigkeit gegenüber etablierten Instanzen wie dem Pariser Salon im Falle von Courbet oder Édouard Manet (1832–1882)[v] verfolgten Mack und Piene mit der Öffnung des Ateliers vorrangig die Absicht zu zeigen und dem künstlerischen Diskurs im wahrsten Wortsinn einen Raum zu geben. Mack erklärte Austausch zum existenziellen Bedürfnis:
[i] Vgl. Dirk Pörschmann, „‚M.P.Ue.‘ Dynamo for ZERO. The Artist-Curators Heinz Mack, Otto Piene and Günther Uecker“, in: The Artist as Curator. Collaborative Initiatives in the International ZERO Movement 1957–1967, hrsg. von Tiziana Caianiello, Mattijs Visser, Gent 2015, S. 17–57, hier S. 20.
[ii] Die Begrenzung der Laufzeit beruhte auf dem pragmatischen Grund, dass Mack und Piene tagsüber als Lehrer tätig waren und nur des Abends Zeit für eigene Projekte aufbringen konnten. Vgl. Heinz Mack, „Am Anfang war Bach“, in: Lenz, Bleicker-Honisch (wie Anm. 13), S. 35–69, hier S. 52. Schnell kristallisierte sich jedoch die gewisse Exklusivität heraus, die mit der limitierten Dauer einherging, weshalb die Veranstaltungen strategisch weiterhin als „Ein-Abendausstellungen“ beworben wurden, obgleich sie schon bald auch über den Vernissage-Abend hinaus besucht werden konnten. Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 80; siehe ebenso Otto Piene an Oskar Holweck (Durchschrift), Düsseldorf, 21.07.1958, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.884.
[iii] Vgl. Michael Diers, „atelier/réalité. Von der Atelierausstellung zum ausgestellten Atelier“, in: Topos Atelier. Werkstatt und Wissensform (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte, Bd. 7), hrsg. von dems., Monika Wagner, Berlin 2010, S. 1–20, hier S. 3.
[iv] Vgl. Oskar Bätschmann, Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997, S. 138. Der Autor begründet die Entwicklung zum geöffneten Atelier im ausgehenden 19. Jahrhundert mit der zunehmend notwendigen „Werbung um Publikum“, von welcher der „Ausstellungskünstler“ abhängig wurde.
[v] Vgl. Diers (wie Anm. 17), S. 3.
Piene formulierte denselben Ansatz in einem Brief an Adolf Zillmann aus der Perspektive auf die Rezipierenden: „Die Dreiheit Urheber-Bild-Betrachter ist unvollkommen, wo der Urheber den Betrachter unterschätzt. Dass das Publikum grausam irren kann, wissen wir alle; aber selbst das gehört zu seiner Rolle. Seine Sicht wird letztlich den sensiblen Künstler vorantreiben. Auch ein ordinäres Publikum hat noch etwas zu bieten. […]“[i] Und auch Klaus Jürgen-Fischer (1930–2017), der die Eröffnungsrede zur 7. Abendausstellung hielt, betonte darin die zentrale Rolle des Publikums, ohne dessen Resonanz „die Kunst leicht in Rezepten, im Risikolosen, in der Prominenz oder sogar in der Meisterschaft verdorrt.“[ii] Im geöffneten Atelier konnten alle drei Entitäten – Kunstschaffende, Werk und Besucher*innen – miteinander in den direkten Kontakt treten und den künstlerischen Dialog in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Gegenüber führen. Eine weitere Aufnahme Salentins von der 4. Abendausstellung zeigt Mack und Piene als die beiden Organisatoren des Abends in Anzug gekleidet in einem halben Stuhlkreis vor den Exponaten sitzen, die uns regelrecht auffordern, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und den auf Kommunikation ausgerichteten Ansatz der Veranstaltung in persona veranschaulichen.
Dass dies nicht nur das ausdrückliche Anliegen der beiden Künstler darstellte, sondern ebenso eine Leerstelle auf Seiten des Publikums zu füllen schien, zeigt sich an dem beträchtlichen Zulauf, den die Abendausstellungen schon während der ersten Male erfuhren. Das Konzept traf offenbar den Nerv der Zeit, wie auch in der Presse mehrfach betont wurde, deren Berichterstattung nach der zweiten Ausstellung einsetzte.[iii] Karl Ruhrberg (1924–2006) unterstrich in den Düsseldorfer Nachrichten vom 17. Mai 1957 die „lebendige Diskussion über Wesen und Wollen der jungen Kunst“[iv] und hob die Veranstaltung somit gegenüber anderen Ausstellungen hervor, welche diesen Aspekt häufig vernachlässigten. Dabei bezog er sich ausdrücklich auch auf die „ganze Reihe interessierter Laien“[v], die sich neben den Kenner*innen unter den Anwesenden befanden und den Diskurs mitgestalteten. In einem Artikel in der Rheinischen Post wurde das „angeregte […] und anhaltende […] Debattieren“ explizit mit der „Atelierstimmung“[vi] in Verbindung gebracht beziehungsweise sogar in einen direkten, kausalen Zusammenhang gestellt und hierbei mit der Institution der Galerie kontrastiert. Im Rahmen der Abendausstellungen nahm das Atelier an der Schnittstelle zwischen Künstler*in, Werk und Öffentlichkeit eine Zwischenposition an der Seite von Galerie und Museum ein und avancierte zu einer Art Forum, das den Austausch förderte, mitunter katalysierte.[vii] Binnen weniger Monate hatten Mack und Piene aus dem Mangel an Ausstellungsplattformen für junge Kunst einen allgemeinen Ort des gesellschaftlichen Zusammentreffens geschaffen, wie ein Schnappschuss der ersten Veranstaltung zeigt, in der die Exponate vor lauter Besucher*innen kaum mehr zu erkennen sind.[viii] Der ausgeprägte soziale Aspekt, den im Unterschied zu den genannten Vorläufern im 19. Jahrhundert schon die Absicht des Unternehmens in sich trug, zog sich wie ein roter Faden bis hin zur Realisierung des Konzeptes. Mack traf rückblickend treffend die folgende Bilanz:
[i] Otto Piene an Adolf Zillmann, Düsseldorf, 21.11.1958, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.958.
[ii] Klaus Jürgen Fischer, Eröffnungsrede zur 7. Abendausstellung, 24.04.1958, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.VI.27.
[iii] Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 87.
[iv] Karl Ruhrberg, „Junge Bilder im alten Bilk. Ein Maler verleiht sein Atelier an die Kollegen“, in: Düsseldorfer Nachrichten, 17.05.1957.
[v] Ebd.
[vi] K-k, „Neuer Treffpunkt ‚Abendausstellungen‘. Max Bense als Gast“, in: Rheinische Post, Nr. 293, 18. Dezember 1957, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.II.32.
[vii] Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 60, und vgl. Diers (wie Anm. 17), S. 4. Beide beziehen sich hier auf die Einordnung des Ateliers im 19. Jahrhundert, die sich jedoch zweifellos auf die Situation von Macks und Pienes Studio übertragen lässt.
[viii] Fotografie abgedruckt bei Annette Kuhn, ZERO. Eine Avantgarde der sechziger Jahre, Frankfurt a. M., Berlin 1991, S. 14, Abb. 4.
„Das Ganze war auch ein gesellschaftliches Ereignis, ein Event. So würde man heute sagen. Auf einmal war unser Atelier mehr als nur ein Raum für Bilder. Es war ein gesellschaftlicher Treffpunkt, wo Leute zusammenkamen, die sich nie vorher begegnet waren, und dadurch einzigartig.“[i]
[i] Mack, in: Lenz, Bleicker-Honisch (wie Anm. 13), S. 52. Piene, in: Meister (wie Anm. 1), S. 18: „Die Gladbacher Straße wurde ein Treffpunkt […].“
Für die Künstler selbst tat sich damit zudem eine ideale Form des ungezwungenen Netzwerkens auf, das sie sowohl mit künstlerisch Gleichgesinnten wie Yves Klein als auch mit Galerist*innen, Kritiker*innen, Medienvertreter*innen, potenziellen Sammler*innen und Personen aus der Museumslandschaft in Kontakt brachte.[i]
[i] Schon während der ersten Abendausstellungen lernten Mack und Piene beispielsweise die späteren Sammler*innen Ilse Dwinger oder das Ehepaar Troost kennen. Vgl. Mack, in: Lenz, Bleicker-Honisch (wie Anm. 13), S. 53. Vgl. ebenso Piene, in: Meister (wie Anm. 1), S. 18, der weitere bekannte Persönlichkeiten als Besucher*innen der Abendausstellungen aufführte, darunter Rolf Wiesselmann vom WDR oder Clement Greenberg.

Neben dem impliziten Zwang, am Abend der Vernissage zu erscheinen, waren es ebenso die baulichen Umstände, die einen großen Reiz auf das Publikum ausübten. Immer wieder wurde in den Zeitungsberichten ein besonderes Augenmerk auf die spezifische Architektur des Ortes und deren teilweise baufälligen Zustand gelegt, obgleich dies von Mack und Piene so nicht intendiert war, ganz im Gegenteil. Wie Letzterer betonte, bemühten sie sich vielmehr, ihr Studio „möglichst sauber zu machen, so daß (sic) keine Ruinenromantik oder Ruinensentimentalität daraus herausgelesen werden konnte.“[i] Was in den Augen der Besucher*innen vor allem die typische Vorstellung des Ateliers als „phantasmatisch“ aufgeladener Ort des kreativen Aktes hervorrief, dessen Besuch verhieß, diesem Rätsel näher zu kommen, setzte bei den Künstlern in erster Linie Assoziationen an den Krieg und in künstlerischer Hinsicht ferner an den diesen bildlich verarbeitenden Tachismus frei, also jener malerischen Artikulation, von der sie sich in ihren Arbeiten nach und nach zu lösen versuchten.[ii] Um die Räumlichkeiten im übertragenen Sinne vom Schmutz und von der Last der Vergangenheit zu befreien und eine gedanklich sowie optisch möglichst neutrale Präsentationsfläche zu generieren, räumten sie das Atelier im Vorfeld der Veranstaltungen komplett aus und kalkten die Wände weiß, „was sowieso nötig war nach dieser tachistischen Ära“[iii], wie Mack postulierte und damit die ungewollte Verbindung herausstellte. Die an das Prinzip des White Cubes erinnernde Raumgestaltung vermochte also nicht nur die äußere Wandlung vom Atelier als Werkstätte hin zum Atelier als Ausstellungsraum zu unterstreichen, sondern verfolgte gleichfalls ideologische Zwecke – ein Plan, der trotz der geschilderten Differenzen in der Rezeption des Ortes aufgehen sollte. In einem Artikel in den Düsseldorfer Nachrichten vom 7. Oktober 1958 beschrieb ein Kritiker den Gang ins Atelier, als vollzöge sich hierbei der Weg von der kriegsverarbeitenden, dunklen tachistischen Malerei, wie ZERO sie dann zu interpretieren pflegte, zur eigenen, von Struktur und Licht geleiteten Bildsprache[iv]:
[i] Otto Piene, „o. T.“, in: Selbstdarstellung. Künstler über sich, hrsg. von Wulf Herzogenrath, Düsseldorf 1973, S. 130–152, hier S. 132.
[ii] Dazu Heinz Mack, „Gespräch mit Heinz Mack“, in: Dieter Hülsmanns und Friedolin Reske. Ateliergespräche, Düsseldorf 1966, hrsg. von Susanne Rennert, Köln 2018, S. 109–111, hier S. 109: „Wie die meisten meiner Freunde habe auch ich mich kurzfristig vom Tachismus verführen lassen. Ohne innere Überzeugung habe ich diese damals neueste aller Kunsterscheinungen mitgemacht, was zu inneren Zerreißspannungen führte. Die mehr vom Zufall abhängigen Ergebnisse befriedigten mich nicht, ich litt darunter und war verzweifelt […].“
[iii] Der vollständige Satz lautet: „Und da man […] Mitte der fünfziger Jahre, so gut wie keine Chance hatte, auszustellen, [..] ergab sich aus dieser Situation der Entschluß (sic), unsere Ateliers einmal aufzuräumen, was sowie nötig war nach dieser tachistischen Ära, die Wände weiß zu kalken und unsere neuen Arbeiten aufzuhängen.“ Heinz Mack, „o. T.“, in: Herzogenrath (wie Anm. 31), S. 104–115, hier S. 106.
[iv] Vgl. Kuhn (wie Anm. 28), S. 14.
„Gladbacher Straße: Häuserzeilen wie sonst – plötzlich Trümmermauern im Dunkel, gespiegelt in schwarzen Pfützen […]. Das düstre Gähnen eines Torwegs nimmt uns auf und führt uns in einen feuchten, dem Auge kaum abtastbaren Hof. Drüben die hellen, gegitterten Rechtecke dreier Fenster in harten Mauerkonturen. […] [Ü]ber Holzstufen steigt man eine endlose Stiege hinauf […], zwei Schritte: dann steht man im blendenden Licht kühlsachlicher Birnen, die die letzten Ritzen eines weißen weiten Mauerquadrats ausleuchten: Es ist kein Tempel, kein elfenbeinerner Turm, aber eine Enklave avantgardistischer Kunst, in Trümmern erbautes ‚Laboratorium‘ […].“[i]
[i] M. W., „Malerei im Trümmergrundstück“, in: Düsseldorfer Nachrichten, 7.10.1958, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.II.21.
Mehr zu den Abendausstellungen im Atelier
„Es ging einfach darum, zu zeigen, was wir 20- bis 25-Jährigen arbeiteten“
Im Zuge der Abendausstellungen potenzierte sich das Atelier in der Gladbacher Straße zur multiplen Räumlichkeit, deren Dimensionen über die begriffliche Definition hinausgingen. Im Ergebnis der Veranstaltungsreihe sollte sich im gewissen Sinne indes wieder ein Bogen zur ursprünglichen, etymologischen Bedeutung des Studios als Ort der künstlerischen Entstehung schlagen. Die ersten Abendausstellungen waren ohne inhaltliche Ausrichtung als allgemeine Demonstrationen der aktuellen künstlerischen Positionen konzipiert. „Es ging einfach darum, zu zeigen, was wir 20- bis 25-Jährigen arbeiteten“[i], fasste Piene die Idee rückblickend zusammen. Als Voraussetzung zur Kollaboration galt nur, dass sie „von keiner Galerie vertreten waren. Dass sie, gemessen an dem, was es damals gab, experimentierten und neue Dinge suchten“[ii]. Die stets nach demselben, schlichten Layout gestalteten Einladungskarten nennen die Namen der ausstellenden Künstler*innen. Bis auf Johannes Geccelli (1925–2011), dem später der fünfte Abend als monografische Schau gewidmet wurde, handelte es sich tatsächlich ausschließlich um abstrakt arbeitende Kunstschaffende.[iii] Diese gehörten primär der Gruppe 53 an und orientierten sich in ihren Werken am gestischen Stil des aus Frankreich stammenden Informel, wie es zu diesem Zeitpunkt auch noch Mack und Piene taten.[iv] Eine erste Wende erfolgte mit der 4. Abendausstellung im September 1957, in der Piene zum ersten Mal seine in der Sommerpause neu komponierten Rasterbilder vorstellte, mit denen er sich allmählich begann, von der vorherrschenden Bildsprache abzuwenden und einen eigenen Duktus zu entwickeln.[v] Gleiches lässt sich in Bezug auf die Konzeptionierung der Exposition beobachten, die in der Künstler*innenauswahl eine Abgrenzung von der Gruppe 53 dokumentiert.[vi] Der endgültige Paradigmenwechsel fand mit der 7. Abendausstellung im April 1958 statt, die mit dem Titel Das rote Bild erstmalig einem konkreten Thema unterstellt war. In der „Einladung zur Beteiligung“ forderten Mack und Piene die Zusendung eines Bildes „mittlerer Größe“, „dessen dominierende Farbe Rot ist“[vii] – so der Wortlaut des Rundschreibens, das sie gezielt an jene ihnen bekannte Kolleg*innen versandt hatten, in deren Werken sie eine Verwandtschaft zu ihren eigenen Arbeiten sahen, darunter zum ersten Mal auch Günther Uecker.[viii] Das zunächst als reines Experiment begonnene Projekt nahm somit zunehmend eindeutig programmatische Züge an, die sich in den kunsttheoretischen Beiträgen der ersten Ausgabe ihrer parallel zur Ausstellung im Eigenverlag publizierten und namens- sowie identitätsstiftenden Zeitschrift ZERO manifestieren sollten.[ix] Unter dem Motto Vibration folgte im Oktober 1958 die 8. Abendausstellung, die das Profil mit dem sich nun deutlicher herauskristallisierenden Ziel einer gemeinsamen künstlerischen Tendenz weiter schärfte und von der Herausgabe von ZERO 2 begleitet wurde.[x] ZERO war offiziell geboren. Dirk Pörschmann bezeichnet die Serie der Abendausstellungen retrospektiv treffend als „mythical, legendary humus of ZERO’s history“[xi]. Die Keimzelle bildete dabei das Atelier, die Werkstätte Macks und Pienes, die entschieden zum frühen Erfolg der Veranstaltungsreihe und damit zur Formung und Etablierung von ZERO beigetragen hat, und zwar sowohl aufgrund ihrer besonderen Gegebenheiten und Ausrichtung als physischer Raum wie auch als in die wahrhaftigen Räumlichkeiten hineingezeichnete „andere“ Räume. Dass das Atelier hier zu Beginn des vorliegenden ZERO-ABCs steht, resultiert zunächst aus dem Anfangsbuchstaben des Wortes, macht darüber hinaus aber auch inhaltlich Sinn, denn: Am Anfang war das Atelier (in der Gladbacher Straße 69).
[i] Piene, in: Lenz, Bleicker-Honisch (wie Anm. 13), S. 100.
[ii] Ebd., S. 101.
[iii] Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 85.
[iv] Vgl. ebd.
[v] Vgl. ebd., S. 91.
[vi] Vgl. ebd.
[vii] Otto Piene, Einladung zur 7. Abendausstellung (Konzept), 5.03.1958, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.963.
[viii] Vgl. Pörschmann (wie Anm. 15), S. 29.
[ix] Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 85.
[x] Vgl. ebd., S. 117. ZERO 3 wurde 1961 bei der Veranstaltung ZERO. Edition, Exposition, Demonstration bei der Galerie Schmela präsentiert. Die dritte und letzte Nummer der Zeitschrift beinhaltet Beiträge von über 30 Künstlern aus diversen Ländern und gibt eine Überschau der sich zu einer international ausstrahlenden Kunstbewegung entwickelnden ZERO-Haltung.
[xi] Pörschmann (wie Anm. 15), S. 20.
Sobald Galerien die Arbeiten von Mack und Piene in ihr Portfolio aufnahmen, stellten die beiden Künstler das in Eigenregie organisierte Unternehmen Abendausstellungen ein.[i] Die Heterotopie Ausstellungsplattform für progressive Kunst im Studio der Gladbacher Straße hatte ihre Aufgabe erfüllt, wurde daher zunehmend überflüssig und verschwand wieder. Zwei Jahre nach der achten und eigentlich letzten Veranstaltung richtete Piene noch eine als „9. Abendausstellung“ überschriebene Exposition aus, die trotz des fortlaufenden Titels jedoch als komplett eigenständiges Format einzustufen ist, wich diese konzeptionell doch grundlegend vom ursprünglichen ab. Sie fand in Kooperation mit der Galerie Schmela im Rahmen Pienes zweiter dortiger Einzelausstellung unter der Überschrift Piene. Ein Fest für das Licht statt, die am 7. Oktober 1960 in den Räumlichkeiten der Hunsrückenstraße in der Düsseldorfer Altstadt eröffnet wurde. Parallel zur Laufzeit in der Galerie inszenierte Piene in seinem Atelier an drei Abenden verschiedene Versionen seines seit etwa einem Jahr entwickelten Lichtballetts.[ii] Das Ausstellungsplakat führt beide Veranstaltungsorte auf und macht auf diese Weise deren symbiotischen Charakter deutlich, der sich ebenso im Aufbau des Posters niederschlägt. Auf derselben Zeilenhöhe angegeben – hier auf einer der Entwurfszeichnungen Pienes mit der unterstrichenen Anweisung „achsial!“ als zentrales sowie bedeutungstragendes Gestaltungsmittel markiert –, erscheinen sie sozusagen als gleichberechtigte Spielorte auf Augenhöhe, wobei die jeweils zur Schau gestellte Kunst die Bedeutung der entsprechenden Orte bestimmte respektive diese im Falle des Ateliers sogar entscheidend veränderte. Während Alfred Schmela neue Rauchbilder und Lichtgrafiken von Piene zeigte, also greifbare und beständige Arbeiten, die sich zur Vermarktung eigneten und die Funktion der Galerie bestätigten, bot der Künstler mit den verschiedenen Choreografien seines Lichtballetts selbst ein rein ephemeres Werk dar, das sich weder für eine dauerhafte Präsentation einfangen ließ noch für den Verkauf infrage kam.[iii] Es war – vor allem bei der ersten Vorführung Lichtballett„mit Folien nach Jazz“[iv], bei der mehrere Personen das Licht im Raum zum Tanzen brachten und keine Maschinen wie beim dritten, Vollelektronischen Lichtballett – just für den Moment geschaffen und nur in diesem existent und verwandelte das Atelier augenblicklich in einen „experimentelle[n] […] Aktionsraum“[v]. Hatte es bei den acht vorausgehenden Abendausstellungen in seiner grundlegenden Funktion zuvor als Fläche gedient, die mit Exponaten bespielt wurde, nobilitierte es nun zu einer Art Bühne und wurde damit selbst Teil des vorgestellten Kunststückes.[vi]
[i] Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 63.
[ii] Vgl. ebd., S. 125.
[iii] Vgl. ebd., S. 127.
[iv] Otto Piene, Typoskript, Düsseldorf, 3.01.1965, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.IV.58.
[v] Zell (wie Anm. 6), S. 127.
[vi] Dies gilt allerdings ausschließlich für den Moment der Aufführung. Zudem bleibt zu berücksichtigen, dass Piene seine Lichtballette in der Regel raumunabhängig erdachte und konzipierte. Sie konnten vielmehr überall projiziert werden – der Ort an sich spielte daher stets eine untergeordnete Rolle, obgleich er freilich ein werkimmanentes Kriterium darstellt, ohne welches die Installation nicht funktionieren kann.

1966 organisierte Piene in Zusammenarbeit mit Schmela noch ein Zweites Fest für das Licht. Vom 11. November bis zum 9. Dezember realisierte der Künstler mehrere Aktionen, die sich, analog zur gleichlautenden, ersten Veranstaltung sechs Jahre zuvor, auf mehrere Spielstätten aufteilten. Zu den beiden bereits bekannten Standorten kamen als dritte Location Pienes neue Atelierräume in der Hüttenstraße 104 hinzu – der heutige Sitz der ZERO foundation –, wo er an zwei Abenden Blackout 1 und Blackout 2 vorführte, zwei interaktiv angelegte Happenings, welche die Besucher*innen als Teilnehmende in die aus Diaprojektionen und Multimedia-Elementen bestehende Aktion miteinbanden.[1] In seinem alten Studio in der Gladbacher Straße führte Piene am 2. Dezember 1966 die Demonstration Die rotglühende Venus durch, im Zuge derer die Örtlichkeit ein letztes Mal in eine Performance eingespannt und zum Ereignisraum werden sollte. Im abgedunkelten Atelier erhitzte er eine frei im Raum hängende Metallplastik in Form einer kleinen Engelsfigur mit einem Bunsenbrenner so lange, bis die Bronze rot zu glühen begann und nach ein paar Minuten während des Erkaltens langsam wieder an Farbe verlor.[2] Auf dem Plakat wird die Aktion als „letzte Abendausstellung“[3] angekündigt, was verdeutlicht, dass die Bezeichnung allein im Kontext des Ateliers in der Gladbacher Straße Verwendung fand und das Format konkret an die dortigen Räumlichkeiten gebunden war.[4] Mit dem Erlöschen der rotglühenden Venus wurde dabei nicht nur die Reihe der Abendausstellungen beschlossen und die Geschichte des Ateliers in der Gladbacher Straße fand durch den folgenden Wegzugs Piene in die Hüttenstraße ein nahes Ende. Im Rahmen der Eröffnung der Ausstellung Zero in Bonn in den Städtischen Kunstsammlungen in Bonn am 25. November 1966 hatten Mack, Piene und Uecker eine Woche zuvor offiziell das Aus ihrer künstlerischen Kooperation erklärt – auch mit ZERO war Schluss.[5]
[1] Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 130.
[2] Vgl. Piene, in: Meister (wie Anm. 1), S. 30 f.
[3] Plakat, Piene. Zweites Fest für das Licht, Galerie Schmela, Düsseldorf, Atelier Piene Gladbacher Straße 69, Düsseldorf, Atelier Piene Hüttenstraße 104, Düsseldorf, 1966, Archiv der ZERO foundation, Vorlass Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.0.VII.4.
[4] Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 129. Interessanterweise taucht der Terminus des Ateliers ausschließlich auf den beiden Postern zum Fest für das Licht auf, das heißt nur dann, wenn es allein mit Arbeiten von Piene bespielt wurde. Die Einladungskarten der ersten acht Abendausstellungen nennen als Lokalisierung die Adresse der Gladbacher Straße 69 ohne einen Hinweis auf das Atelier von Mack und Piene zu geben, was einmal mehr den sozialen Aspekt des Unternehmens untermauert – nicht sie sollten im Vordergrund stehen, sondern die Gemeinschaft aller ausstellenden Künstler*innen.
[5] Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 131.


Endnotes
B Bücher
ZERO und die gedruckte Seite
Bartomeu Mari
Dieser Text handelt von einem Schnittpunkt, an dem mehrere Spezialgebiete aufeinandertreffen: In ihm begegnen sich Kunst, kuratorische Praxis, Ausstellung und Dokumentation, Schreiben über Kunst (beziehungsweise Kunstkritik), verlegerische Tätigkeit, Grafikdesign und Werbung. Wohlgemerkt gehörten oder gehören diese Bereiche nicht zu meinen Forschungsschwerpunkten. Ich nähere mich ihnen vielmehr als Zeuge, der – im Sinne einer eigenen „Atelierpraxis“ – sich selbst als Teil des untersuchten Gegenstandes sieht. Jedenfalls nähern sich diese Tätigkeiten meiner Einschätzung nach an, wenn man Bücher oder „Drucksachen“ aller Art (einschließlich Zeitschriften, Flugschriften, Plakaten, Manifesten, Werbeanzeigen, Veranstaltungseinladungen, um nur einige zu nennen) herstellt. Dieser Kosmos drückt sich auf Papier aus und kommt in größeren Stückzahlen daher. In ihm gibt es keine Einzelobjekte, sondern nur Reproduktionen ohne Original. Die von Thekla Zell erarbeitete und reich bebilderte Chronologie, die 2015 erschien,[i] führt uns auf einem reizvollen, gewundenen Pfad durch die ästhetische Vielfalt, die wir den europäischen ZERO-Künstler*innen zu verdanken haben.
[i] Thekla Zell, „Wanderzirkus ZERO. Dokumentation der Ausstellungen, Aktionen, Publikationen 1958–1966“, in: Dirk Pörschmann und Margriet Schavemaker (Hg.), ZERO, Ausst.-Kat. Zero foundation, Düsseldorf, und Stedelijk Museum, Amsterdam, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2015, S. 19–176.

Ich nähere mich ihnen vielmehr als Zeuge, der – im Sinne einer eigenen „Atelierpraxis“ – sich selbst als Teil des untersuchten Gegenstandes sieht.
Bücher und Zeitschriften gehören nur scheinbar unterschiedlichen Kategorien an, denn innerhalb des Kontexts der künstlerischen Nachkriegsavantgarde in Europa sind sie fester Bestandteil eines noch größeren Ganzen, das mittlerweile als wichtiges Kulturerbe gilt und neben Kunstwerken im engeren Sinne des Wortes gezielt gesammelt, konserviert und ausgestellt wird. Insbesondere im Umfeld der Gruppe ZERO spielten Bücher und Zeitschriften eine wesentliche Rolle bei der Verbreitung von Ideen, die innerhalb einer ganzen Künstlergeneration zentrale Bedeutung gewinnen sollten. Bewusst oder unbewusst das Erbe eines Geistes der Erneuerung antretend, den die Avantgarde der Zwischenkriegszeit geatmet hatte, versuchten die Vertreter*innen dieser neuen Generation, ihre Vorgänger zu übertreffen, mit der Vergangenheit reinen Tisch zu machen und eine neue ästhetische Sprache, neue Funktionen und Handlungsfelder für die Kunst zu etablieren sowie – warum eigentlich nicht – zur Erfindung einer neuen Welt beizutragen, die nach der zerstörerischen Barbarei des Zweiten Weltkriegs neu entstehen sollte. Die meisten Künstler, von denen in diesem Text die Rede sein wird, waren während des Kriegs noch Kinder: Das gilt für Heinz Mack, Otto Piene – der als sogenannter Flakhelfer eingezogen wurde – und Günther Uecker, der einmal erwähnte, dass seine charakteristische Materialwahl auf ein Kriegserlebnis zurückgehe.[i] Sie klammerten die negativen Seiten einer Moderne nicht aus, die – wie Goya es mit dem „Schlaf der Vernunft, [der] Ungeheuer gebiert“ vorwegnahm – letztlich die erste Tragödie wirklich globalen Ausmaßes ausgelöst hatte.
[i] „Günther Uecker . Poetry Made with a Hammer“, YouTube-Video, 41:42 Min., Upload durch Louisiana Channel, 13.06.2017, https://www.youtube.com/watch?v=MPH7XSsK3SY (zuletzt abgerufen am 21.10.2023).
Die Kunstkritik hat sich bereits umfassend mit dem Thema künstlerischer Publikationen befasst, und die Inhalte der Publikationen, auf die ich mich hier hauptsächlich beziehe, waren ebenfalls schon Gegenstand eingehender Untersuchungen. Ich werde allerdings versuchen, einige Fragen in Bezug auf die periodisch erscheinenden Publikationen, insbesondere ZERO, Azimuth und Nul=0, zu stellen. Ich hätte auch Publikationen wie Nota, De Nieuwe Stijl[i] oder andere Veröffentlichungen berücksichtigen können, die im Kontext bestimmter Ausstellungen entstanden sind. Doch möchte ich mich an dieser Stelle auf die von den Künstlern selbst herausgegebenen und produzierten Zeitschriften beschränken und Ausstellungskataloge und Bücher, die von einzelnen Institutionen, etwa Museen, herausgegeben wurden, außer Acht lassen. Diese bieten den Stoff für eine gesonderte Untersuchung. Den letztgenannten Publikationen lagen meines Erachtens andere redaktionelle Kriterien zugrunde, durch die sie sich grundlegend von Ersteren unterscheiden. Mir geht es hier hingegen vor allem um die von allen Künstlern geteilten Absichten, einen Raum zum Ausdruck und zur Vermittlung der eigenen Diskurse zu schaffen. Dies ist ein sehr modernes Bedürfnis: Ein Kunstwerk, das seine Existenz nicht dem Auftrag einer herrschenden Macht verdankt, sondern allein der Kreativität und der Intention des/der Künstler*in, muss in seiner Bedeutung argumentativ bekräftigt werden. Jedes Kunstwerk scheint einer – mehr oder weniger systematischen, mehr oder weniger kohärenten – Theorie zu bedürfen, die ihm in einem neuen Betrachtungskontext Sinn verleiht.
[i] Sowohl Nota als auch De Nieuwe Stijl stellen einen Zusammenhang zwischen bildender Kunst und konkreter Poesie her.
„Ausstellungen gehen, Bücher bleiben.“ Harald Szeemann
All diesen Publikationen und Zeitschriften ist gemein, dass sie aus der Hand von Künstlern stammen, die sich damit ganz bewusst und gezielt zu Autoren, Designern und Herausgebern machen, womit sie den Bereich der bloßen Herstellung von Kunstwerken oder zum Abdruck bestimmter Bilder verlassen. Wie aus dem Band The Artist as Curator: Collaborative Initiatives in the International ZERO Movement 1957–1967 hervorgeht, erweitern die jeweiligen Künstler ihre Handlungsfelder aktiv um Spezialgebiete, zu denen auch das Publizieren von Zeitschriften und Büchern gehört, was eine ganz entscheidende Abgrenzungsmöglichkeit darstellt.[i] Die Kunstschaffenden sehen in den Medien Buch und Zeitschrift einen kreativen Raum, der mit dem Atelierraum vergleichbar ist und der den Galerieraum erweitert. Es ist ein Raum, der als Multiplikator fungieren kann. Es geht dabei um die Besetzung eines modernen Raums (im Habermas’schen Sinne des Begriffs), der mit dem Raum jener Institutionen gleichgesetzt werden kann, welche die Kultur einer offenen Gesellschaft prägen. Der Ort der Kunst ist nicht mehr die fürstliche Kunstkammer. Die Kunst wird auch nicht von der Regierung gelenkt (wie es bei totalitären Regierungen der Fall war und ist). Sie ist auch nicht auf Museen beschränkt, die erst seit Kurzem der zeitgenössischen Kunst offenstehen, oder auf Messen oder Salons, in denen ästhetische Neuerungen präsentiert werden. Die Kunst nimmt mit einer gewissen Alltäglichkeit, aber auch auf mehr oder weniger außergewöhnliche Art und Weise einen neuen öffentlichen Raum in Beschlag, dessen traditionelle Aufgabe eigentlich in der Verbreitung von Informationen und öffentlichen Debatten bestand. Die umfangreiche Monografie Artists‘ Magazines[ii] bietet eine prägnante Auseinandersetzung mit dem Thema Künstlerzeitschriften. Ihr Hauptaugenmerk richtet sich zwar auf Publikationen aus dem nordamerikanischen Kontext, doch sie erwähnt auch die deutsche Kunstzeitschrift Interfunktionen (1968–1975), die in diesem Kontext umso deutlicher heraussticht. Folgt man dieser Analyse, sind Publikationen Kommunikationsräume, genau wie Galerie- oder Ausstellungsräume auch. Während Institutionen und Museen in Büchern eine Erweiterung des institutionellen Repräsentationsraums sehen, fungieren (oder fungierten) Publikationen für Kunstkritik, Kurator*innen oder Autor*innen als natürlicher Raum zur Vermittlung der eigenen Ideen oder Argumente. Aus diesem Grund treffen auf den Seiten von Büchern und Zeitschriften die Interessen zahlreicher Akteur*innen des Systems aufeinander. Die gedruckte Seite, das Buch, die Zeitschrift oder das Flugblatt, sie alle sind Verkörperungen eines sehr mächtigen und wichtigen Hybridraums. „Ausstellungen gehen, Bücher bleiben“, ließ mich Harald Szeemann schon vor vielen Jahren wissen. Heute sind Ausstellungen für uns von geschichtlicher Bedeutung, was vor allem auch an den Spuren liegt, die sie hinterlassen – also den Katalogen und Zeitschriften –, die ihrem flüchtigen Dasein etwas entgegensetzen. Insofern scheint es mir bemerkenswert, dass in der kunsthistorischen Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst überhaupt erst seit Kurzem die Geschichte von Ausstellungen ein Thema geworden ist.
[i] Vgl. Tiziana Caianiello,Mattijs Visser (Hg.), The Artist as Curator: Collaborative Initiatives in the International ZERO Movement, 1957–1967, Gent, 2015.
[ii] Gwen Allen, Artists’ Magazines: An Alternative Space for Art, MIT Press, Cambridge, Mass., und London 2011. Jenseits der Besonderheit der Zeitschriften als „alternative“ Räume für Kunst sei hier auch verwiesen auf: Brian O’Doherty, Atelier und Galerie / Studio and Cube, Merve Verlag, Berlin 2012.


Zu den publizistischen Aktivitäten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts findet sich in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg eindeutig ein Pendant. Die sogenannten historischen Avantgarden entfalteten eine genauso üppige literarische und kritische Aktivität, und sie entwickelten ebenfalls zahlreiche Publikationsprojekte. Erinnert sei hier nur an einige der zahlreichen Publikationen, die für die Entwicklung der damaligen Kunstbewegungen und -gruppen von Bedeutung waren, etwa De Stijl (1917–1920 und 1921–1932), Mécano (1922–1923), MA (1916–1925), 391 (1917–1924), L’Esprit Nouveau (1920–1925), Bauhaus (1926–1932), Der Sturm (1910–1932), Die Aktion (1911–1932), Die Freie Strasse (1915–1918), Dada (1919–1920), Merz (1923–1932), LEF (1923–1925), unter anderen. Viele von ihnen kamen aus Deutschland. Vergleicht man die beiden Publikationskontexte, lässt sich ein erstes Fazit ziehen: Die überwiegende Zahl der Publikationen aus der Zwischenkriegszeit zeugt von einer enormen grafischen Kreativität; die nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Publikationen hingegen zeichnen sich durch eine große visuelle und grafische Nüchternheit aus, die in einem deutlichen Gegensatz zur Ästhetik der Vorgänger steht. In der Zwischenkriegszeit wurde in neuen Bereichen wie etwa der Typografie mit großer kompositorischer Freiheit visuell experimentiert. Das geschriebene Wort wurde zu einem Bild von großer Kraft, radikal anders als etwa im Mittelalter oder in der Renaissance. Lautgedichte und konkrete Poesie hoben Schrift und Bild auf eine gleichwertige Ebene. Die Kombination aus visuellen Innovationen, konkreter Poesie und Lautgedicht, typografischen Umwälzungen und den bahnbrechenden grafischen Möglichkeiten der Fotografie bildete den idealen Nährboden für die Entwicklung einer modernen Ästhetik, die später auch von der Werbung aufgegriffen wurde.


Anders als es der vermeintlich nihilistische Name der Gruppe vielleicht vermuten ließe, ging es bei ZERO um eine Stunde null, die Herstellung eines neuen Zustands, eine Wiedergeburt.
Wie lässt sich die grafische Nüchternheit der Künstlerpublikationen aus der Nachkriegszeit erklären? Ich habe keine endgültige Antwort darauf, aber ich kann mir vorstellen, dass sich die Autoren dieser Zeitschriften ihrer Ziele sehr genau bewusst waren: Ihnen ging es darum, eine öffentliche Sichtbarkeit, Bedeutung und Relevanz für sich zu beanspruchen, die ihnen Respekt und Anerkennung verschaffen würden. Ich möchte damit nicht sagen, dass sie damit „Marketing“ im heutigen Sinne betrieben. Denn diese Künstler-Generation musste sich ja erst einmal eine eigene Öffentlichkeit aufbauen. Es ging nicht darum, sich in einer schon bestehenden Szene durchzusetzen, auch nicht darum, eine zerstörte Szene wiederaufzubauen. Der enthusiastische Geist, der ihre Texte und Statements durchzieht, folgt eher dem Wunsch, etwas Neues zu erfinden, als dem Willen, Bestehendes zu verändern. Im Unterschied dazu hatten die Künstler*innen des Futurismus und Dadaismus ebenso viel Energie auf die Zerstörung einer überkommenen herrschenden bürgerlichen Kultur verwendet wie auf die Entwicklung eines neuen ästhetischen Programms; deshalb wurde Dada lange Zeit (und meiner Meinung nach zu Unrecht) mit Anti-Kunst gleichgesetzt. Anders als es der vermeintlich nihilistische Name der Gruppe vielleicht vermuten ließe, ging es bei ZERO um eine Stunde null, die Herstellung eines neuen Zustands, eine Wiedergeburt.
Die Bücher und Publikationen, die von den ZERO-Künstlern und den ihnen nahestehenden Gruppen herausgebracht wurden, scheinen im Gegensatz zu der spielerischen, betriebsamen, dynamischen Atmosphäre und dem unberechenbaren und überraschenden Charakter zu stehen, den die Performances der Gruppe im öffentlichen Raum, bestimmte Eröffnungen, die damaligen Fernsehauftritte Piero Manzonis (1933–1963) oder die Treffen der Künstler*innen ausstrahlten. Die Zeitschriften sind „ernsthaft“; sie „stellen fest“, dass das, was diese Künstler*innen tun, ernstzunehmend ist, dass sie die Aufmerksamkeit des Publikums verdienen und man ihr Schaffen nicht einfach auf die leichte Schulter nehmen kann.
Die Publikationen, von denen hier die Rede ist, erschienen in relativ kleinen Auflagen, und die bekanntesten unter ihnen, ZERO und Azimuth, waren recht kurzlebige Projekte. Die ersten beiden Ausgaben von ZERO wurden 1958 in Auflagen von 400 beziehungsweise 350 Exemplaren herausgebracht. Nummer drei, Apotheose und Abschluss zugleich, erschien 1961 in einer Auflage von 1225 Exemplaren: Die Macher waren davon überzeugt, dass die Nachfrage exponentiell steigen werde. Die Zeitschrift Azimuth, der authentische Höhepunkt und Widerhall eines ganz besonderen Augenblicks, erschien in nur zwei Ausgaben mit einer Auflage von jeweils etwa 500 Stück.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die westeuropäische Wirtschaft einschließlich der Insel West-Berlin bald jahrelang stark von der Förderung durch den Marshallplan geprägt. Die unangefochtene militärische und wirtschaftliche Dominanz der Vereinigten Staaten von Amerika sollte sich bald in einer „Kulturindustrie“ – wie Theodor Adorno und Max Horkheimer sie nannten – sowie in der Entstehung von „Prestige-Gewerben“ manifestieren, wie etwa das Kunstsystem eines darstellt. Nicht nur „stahl“ New York Paris den Status als Welthauptstadt der Kunst, vielmehr verlagerte sich das gesamte Gravitationszentrum auf die andere Seite des Atlantiks, insbesondere aufgrund der Macht der Akademie und des ihr Glaubwürdigkeit und Autorität verleihenden kritischen, redaktionellen und publizistischen Apparats. ZERO und sein Umfeld sind der Abgesang auf ein Europa der Nachkriegszeit, in dem die Kultur und das kulturelle Erbe durch Industrie, Handel, den militärischen Komplex und die Wissenschaft aus ihrer zentralen Stellung verdrängt wurden, eine Entwicklung, die mit dem Ringen der dominierenden ideologischen Antagonisten, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, um globale Vorherrschaft zu tun hatte. Die geistige und ästhetische Dramaturgie, um die es hier geht, entfaltete sich parallel zu denkwürdigen Ereignissen aus der Zeit des Kalten Krieges, aber auch parallel zum Übergang von der Beatnik-Generation zu den Hippies, der in die 68er-Bewegung mündete. Ist es insofern nicht seltsam, dass wir heute, weit ins 21. Jahrhundert hinein, noch so wenig über die Nove Tendencije-Ausstellungen wissen, die 1961, 1963 und 1965 in Zagreb stattfanden und für die sich offenbar niemand zu interessieren scheint? Die im damaligen Kontext geführten Debatten stellen ein historiografisches Grenzgebiet dar, dem sich die Forschung umgehend widmen sollte.
ZERO, Azimuth, Nul=0
Die niederländische Zeitschrift Nul=0 erschien in zwei Ausgaben. Die erste, aus dem Jahr 1961, enthält Textbeiträge von Künstlern in deutscher, französischer und englischer Sprache, begleitet von Abbildungen ihrer Werke. Die zweite Ausgabe aus dem Jahr 1963 war den kurz zuvor verstorbenen Künstlern und wahren Medien-Agitatoren Yves Klein (1928-1962) und Piero Manzoni gewidmet. Beide Ausgaben zeichnen sich durch ihre große grafische Nüchternheit aus, die die Aufmerksamkeit auf die verwendeten Schriftarten lenkt, die an das Schriftbild alter Schreibmaschinen denken lassen.
Die zwei Ausgaben der Zeitschrift Azimuth erschienen im September 1959 und im Januar 1960. Beide weisen dieselbe Struktur auf: Sie enthalten Textbeiträge von Künstlern und Werkabbildungen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Texte in der zweiten Ausgabe auf Italienisch, Deutsch, Französisch und Englisch abgedruckt sind, was den internationalen und kosmopolitischen Anspruch des Projekts unterstreicht.
Vorreiter war allerdings die deutschsprachige Zeitschrift ZERO, deren erste beide Ausgaben ein ähnliches Konzept aufweisen und die im Vergleich die größte Zahl an begeisterten europäischen Künstlern inspirierte und zusammenbrachte. Die erste Ausgabe war der Farbe Rot gewidmet und erschien begleitend zu einer Abendausstellung mit demselben Thema. Dem Heft war ein Hegel-Zitat vorangestellt, auf das bekannte Künstler und Intellektuelle antworteten, unter ihnen Arnold Gehlen (1904–1976), Max Burchartz (1887–1961), Georg Muche (1895–1987) und Yves Klein. Die zweite Ausgabe, die begleitend zur 8. Abendausstellung erschien, drehte sich thematisch um die Idee der Vibration in der Malerei – eine Idee, die von den jungen italienischen Künstler*innen des Gruppo T und Gruppo N ein Jahr später im wörtlichen Sinne aufgegriffen wurde, was in eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten einer echten Vibration von Objekten und Oberflächen in dreidimensionalen und animierten Werken mündete.
Nur das dritte ZERO-Heft, erschienen 1961 als letzte Ausgabe des Publikationsprojekts, enthält einige mit Bedacht gestaltete Seiten, die das traditionelle Verhältnis von Bild und Text aufbrechen, um ein konzeptuell gestaltetes visuelles Narrativ zu bilden. ZERO 3 nimmt mehrfach Bezug auf die Ausstellung Dynamo, die 1959 in der Galerie Renate Boukes in Wiesbaden stattgefunden hatte, und enthält mehrere „visuelle Essays“, die eine besondere ikonografische Atmosphäre schaffen, welche auf einigen Seiten an Details aus der Pop Art oder an die Bildsprache der Massenmedien denken lässt. Es sind nicht nur Kunstwerke abgebildet – ausführlich gewürdigt werden etwa Lucio Fontana (1899–1968), Yves Klein, Jean Tinguely (1925–1991), Otto Piene (1928–2014) und Heinz Mack (geb. 1931) –, sondern wir sehen darüber hinaus auch ein dichtes Bildraster, das auf dem Papier verschwimmt, und kräftige weibliche Lippen, die uns zur lauten Aussprache eines nicht zu vernehmenden Wortes zu animieren scheinen. Ein numerischer Countdown führt uns zum Start einer Rakete, die ZERO an die Grenzen des Firmaments katapultiert (im Rahmen des „Wettlaufs ins All“ sollten noch weitere acht Jahre ins Land gehen, bis der erste Mensch tatsächlich den Mond betrat). Am Ende des Bandes findet sich eine eindeutige Botschaft: „Wir leben. Wir sind für alles.“[i] Im Innenteil wird Yves Kleins Text abrupt von einer „brutalen“ Intervention des Künstlers unterbrochen: Sein Text endet mittendrin auf einer angesengten Buchseite, deren unteres Stück fehlt.
[i] „Proklamation“, in: ZERO, in deutscher Sprache mit Übersetzung ins Englische von Howard Beckman, Massachusetts Institute of Technology, Cambridge, MA, 1973, S. 329.




Auch wenn einige von ihnen Werke von fast asketischer Nüchternheit schufen und andere einen dezidiert konzeptuellen Ansatz verfolgten, waren sie eindeutig Kinder „ihrer“ Zeit
1956 organisierten Richard Hamilton und die Künstler*innen der Independent Group die heute als bedeutend geltende Ausstellung This Is Tomorrow in der Londoner Whitechapel Art Gallery, in deren Rahmen erstmals die Sprache der Werbung, der Populärkultur und der Konsumgesellschaft sowie die Überschwänglichkeit der Massenmedien in die heiligen Hallen der bildenden Kunst Einzug hielten. ZERO, Azimuth, Nul=0 und weitere Publikationen sollten visuelle Antipoden nicht nur der typografischen Experimente aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern auch der überwältigenden visuellen Reize bleiben, die bald den Alltag der Menschen in Europa bestimmen sollten. Ich möchte hier nicht die Gegensätzlichkeit bestimmter Ästhetiken in den Mittelpunkt stellen, sondern vielmehr die Beweggründe und Strategien jener Künstler*innen, welche sich einer minimalistischen Abstraktion verschrieben, die Malerei zum Vibrieren bringen wollten, das Monochrom fast zu ihrem transzendentalen Glaubensbekenntnis machten und von Lucio Fontanas unermüdlicher Suche nach einer neuen Art von Raum – einem aus Leere bestehenden Raum – fasziniert waren. Das Interesse der Nachkriegskünstler*innen an populären Subkulturen, die im Zusammenhang mit der Unterhaltungsindustrie, der Werbung, der Konsumgesellschaft und den Medien standen, ist gut dokumentiert. Die europäischen Künstler*innen allerdings haben die visuellen und gesellschaftlichen Veränderungen ihres Umfelds nicht beschönigt, sondern ihnen gegenüber eine sehr kritische oder distanzierte Haltung bewahrt. Auch wenn einige von ihnen Werke von fast asketischer Nüchternheit schufen und andere einen dezidiert konzeptuellen Ansatz verfolgten, waren sie eindeutig Kinder „ihrer“ Zeit. Es ging ihnen nämlich auch darum, mit ihrer Kunst ästhetischen Widerstand zu leisten angesichts einer Öffentlichkeit, die sich auf neue Formen gemeinschaftlicher Vergnügungen und kollektiven Austauschs einzulassen begann. Die Massenmedien faszinierten sie, insbesondere das Fernsehen. Einige von ihnen waren exzellente Kommunikatoren oder Entertainer (oder Clowns, wie manche sie nannten). Ihr Sinn für Humor und ihre provokative Ader erwiesen sich als effiziente Kommunikationsstrategien, die allerdings im Widerspruch zu der visuellen Strenge ihrer Veröffentlichungen standen.
Die Zeitschriften ZERO, Azimuth und Nul=0, die die wichtigsten Sprachrohre für die Düsseldorfer, Mailänder und Rotterdam-Amsterdamer Szenen darstellten, ähneln sich in ihrer inhaltlichen Struktur: Sie enthalten Texte von Künstlern, die sich auf bestimmte Werke oder Projekte beziehen, Texte von Kritikern oder Museumskuratoren, die diesen Ideen beipflichten, ergänzt um Abbildungen von Werken der direkt oder indirekt beteiligten Künstler*innen. Die Bücher und Zeitschriften ließen ein anhaltendes Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen. Seit der Moderne waren Künstler mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich zur eigenen Existenzsicherung zusammenzuschließen, zusammenzutun und zu organisieren. Künstler*innen wurden zu Autor*innen, Herausgeber*innen oder Teilnehmer*innen an Ausstellungen, die im Zusammenhang mit dem Erscheinen einer bestimmten Zeitschrift veranstaltet wurden. Darüber hinaus scheint mir ein zusätzliches Element erwähnenswert: Parallel zu den vielgerühmten Publikationen entstanden bei ZERO und im ZERO-Umfeld zahlreiche weitere Druckerzeugnisse: Plakate, Faltblätter, Ankündigungen, Einladungen, um nur einige zu nennen – Infomaterial, das Aktivitäten bewarb, die manchmal von Katalogen begleitet wurden. Innerhalb dieser gemischten Kategorie der Druckerzeugnisse lässt sich zudem eine grafische Vielfalt von großer kommunikativer Wirkung ausmachen. In der Ausstellung Far from the Void: ZERO and Postwar Art in Europe 2022 am IVAM Centre Julio González in Valencia waren die Bücher und vielfältigen Publikationen, Filme und Dokumentationen der einzelnen Gruppen in Vitrinen und Displays im zentralen, alle Räume und Bereiche verbindenden Korridor der Ausstellung zu sehen, sozusagen als deren „Rückgrat“, das als verbindendes Element zwischen den Werken, Künstler*innen und Ideen fungieren sollte. Bücher, Zeitschriften und Drucksachen schufen nicht nur eine visuelle Identität im öffentlichen Raum, sondern dienten auch als konzeptuelles „Bindemittel“. Der physische Raum der Stadt und der ätherische Raum der Medien sorgten dafür, dass sie untereinander in Verbindung blieben. Die Kunsthistorikerin und -kritikerin Claire Bishop hat unlängst das Problem des inflationären Auftretens von dokumentarischem Material im Ausstellungsraum angesprochen, der ja traditionellerweise Kunstwerken vorbehalten ist: Das künstlerische Erbe ist ein unermessliches Ganzes, dessen Handhabung aber widersprüchlichen Kriterien unterliegt.[i]
[i] Claire Bishop, „Information Overload“, in: Artforum, 61, Nr. 8, April 2023, S. 122–189.

ZERO, Azimuth und Nul=0 waren zwar keine Begleitpublikationen zu einzelnen Ausstellungen im traditionellen Sinne, doch sie teilten sich mit diesen die ihnen entgegengebrachte öffentliche Aufmerksamkeit, die Ideen, für die sie eintraten, und die geistigen Anregungen und Argumente, die sie vermittelten.
Wie lässt sich die deutlich zur Schau getragene grafische und visuelle Nüchternheit der erwähnten Publikationen erklären? Allem Anschein nach waren sich die hier besprochenen Künstler sehr wohl darüber im Klaren, dass eine kreative grafische Gestaltung ein machtvolles und nützliches Instrument sein kann, wenn man die eigenen Projekte überzeugend zur Geltung bringen will. Ihre neuen künstlerischen Ideen strebten nach einem Sichtbarkeit gewährenden Raum, nach einer öffentlichen Sphäre, die gerade einen sagenhaften Umbruch durchmachte. Diese von Künstlern ausgehenden Initiativen sorgten sowohl in Europa als auch in den USA für eine grundlegende Neuausrichtung der Branche der Kunstbuchverlage. Der künstlerische Aufbruch der 1960er-Jahre manifestierte sich zunächst in einer von den Künstler*innen selbst entfalteten Publikationstätigkeit, bevor der Raum der gedruckten Seite von profitorientierten Verlagen besetzt wurde. Die anfänglich herrschende Hingabe wurde erst später von der Shareholder-Value verdrängt.
Auch wenn ZERO, Azimuth und Nul=0 jeweils nur für kurze Zeit existierten, bin ich davon überzeugt, dass die Künstler*innen, die sich im Dunstkreis dieser Publikationsprojekte bewegten, damit keine Alternative zum traditionellen Ausstellungsraum der Galerien und Museen suchten. Heinz Mack und Otto Piene hatten nämlich bereits neue Ausstellungsformate erfunden und dafür neue Orte erschlossen: Sie veranstalteten Ausstellungen in ihren eigenen Ateliers, wobei die Vernissage jeweils die raumzeitlichen Koordinaten lieferte, innerhalb derer sich die gesamte Ausstellung abspielte. Andererseits wurde im Rahmen dieser Vernissagen weiterhin an einigen traditionellen Ausstellungsritualen festgehalten, wie etwa der Einladungskarte oder der Eröffnungsrede, gehalten jeweils von einer Autorität aus der Wissenschaft oder einer Kunstinstitution. Piero Manzoni und Enrico Castellani (1930-2017) eröffneten in Mailand ihre eigene Galerie, und die niederländischen Künstler „besetzten“ zweimal das wohl dynamischste Museum der damaligen Zeit, das Stedelijk Museum in Amsterdam. Ihre belgischen Kollegen nutzten einen neuen, von ihnen selbst betriebenen Ausstellungsort in Antwerpen, das Hessenhuis, wo 1959 denkwürdige Ausstellungen stattfanden. Einige Jahre später versuchte sich das US-amerikanische Magazin Aspen an einer neuen Art von Ausstellungsraum in Form eines experimentellen Magazins, das als Alternative zum dreidimensionalen euklidischen Raum der kommerziellen Galerien, Museen oder Nonprofit-Räume gedacht war. ZERO, Azimuth und Nul=0 waren zwar keine Begleitpublikationen zu einzelnen Ausstellungen im traditionellen Sinne, doch sie teilten sich mit diesen die ihnen entgegengebrachte öffentliche Aufmerksamkeit, die Ideen, für die sie eintraten, und die geistigen Anregungen und Argumente, die sie vermittelten.
Relativ schnell folgten Ausstellungen in kommerziellen Galerien und einige wenige Museumsausstellungen. Die Teilnahme an Großveranstaltungen wie der Documenta oder der Biennale von Venedig samt der damit einhergehenden Würdigung blieb den Künstler*innen aus diesem Umfeld weitgehend versagt – Mack, Piene und Uecker stellten jedoch 1964 in Kassel aus. Als die ästhetischen Formen und Ideen der europäischen ZERO-Künstler*innen 1964 die USA erreichten,[i] wurden sie einer Kategorie zugeschlagen, die mit ihren ursprünglichen Ansätzen eigentlich nichts zu tun hatte, was der Tatsache geschuldet war, dass der überwältigende Erfolg der US-amerikanischen Pop Art im internationalen Kontext damals bereits alles überstrahlte.
In einer Zeit des multidisziplinären und antiakademischen Aufbruchs – geprägt vom Bruch mit dem Überkommenen, aber den bestehenden Institutionen gegenüber nicht respektlos, innovativ, aber nicht blind gegenüber den neuen Ordnungen, die sich nun nach und nach herauszubilden begannen – waren die Bücher und Publikationen Teil eines größeren Repertoires an Aktionen und Medien, welches etwa auch Performances, beziehungsweise kollektive und theatralische Handlungen, oder den Einsatz neuer Medien (Fernsehen) beinhaltete. Die neue Kunst setzte sich nach und nach durch und ging im System auf, in den Schatten gestellt durch die von Galerien und Kunstkritik befeuerte schnelle Abfolge der Trends, Gruppen und Strömungen.
[i] Die Ausstellung The Responsive Eye fand vom 23. Februar bis zum 25. April 1965 im New Yorker Museum of Modern Art statt. In der Presseerklärung zu dieser Ausstellung heißt es: „The Responsive Eye exhibition will bring together paintings and constructions that initiate a new, highly perceptual phase in the grammar of art.… Certain of these artists establish a totally new relationship between the observer and the work of art.“ („Die Ausstellung The Responsive Eye versammelt Gemälde und Konstruktionen, die eine neue, hochgradig perzeptuelle Phase in der Grammatik der Kunst einläuten… Einige dieser Künstler etablieren eine völlig neue Beziehung zwischen dem Betrachter und dem Kunstwerk.“) Vgl. Website des Museum of Modern Art, https://assets.moma.org/documents/moma_press-release_326375.pdf (zuletzt abgerufen am 06.11.2023).
Ich kann mir vorstellen, dass – bei allen möglichen Unterschieden und Umständen – während der Abendausstellungen, die Heinz Mack und Otto Piene in ihrem Düsseldorfer Atelier veranstalteten, eine Atmosphäre vorherrschte, wie wir sie alle aus unserer Jugend kennen. Aus künstlerischer Sicht ist jede schöpferische Handlung notwendig und vital. Und ein Teil dieser Vitalität, um die es mir hier geht, bestand, wie ich mir vorstellen kann, in der Rationalisierung machtvoller Intuitionen, die jederzeit auftauchen und wieder verschwinden konnten, und die im Atelier materiell verwirklicht werden mussten, um zu Kunstwerken zu werden. Kreativität zu rationalisieren – das heißt, begrifflich und argumentativ darzulegen, warum ein Kunstwerk so ist, wie es ist, und nicht anders –, diese Aufgabe wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ein ganz selbstverständlicher Bestandteil künstlerischen Schaffens.
Die gedruckte Seite wird sich immer von den Bildschirmen unterscheiden, die uns umgeben.
Während die Künstler*innen im Umfeld von Futurismus, Surrealismus und Dada die Ersten waren, die eine systematische Praxis des experimentellen und kritischen Schreibens mit aktivistischen oder kreativen Absichten etablierten und eigene Medien, Bücher und Zeitschriften veröffentlichten, waren es die europäischen ZERO-Künstler und deren Umfeld, die die Stellung dieses Genres in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts festigten. Diese Publikationen, die in maximal drei Ausgaben und jeweils nur über ein, zwei oder drei Jahre hinweg erschienen, faszinieren uns mit ihrer enormen grafischen Einfachheit und ihrer hohen Druckqualität noch heute. In schöner Regelmäßigkeit befassen sich Museums- oder Galerieausstellungen, Symposien, Artikel oder Bücher mit ihnen, zudem sind sie in spezialisierten öffentlichen und privaten Sammlungen zu finden. Einige von ihnen wurden nachgedruckt und neu aufgelegt, andere zirkulieren frei in digitaler Form. Viele Ideen, die in ihren Texten zum Ausdruck kommen, mögen uns heute vielleicht naiv oder überholt erscheinen. Aber zweifellos verweisen sie uns auf Umstände, Formen und Materialien, ohne die die Kunst von heute nicht das wäre, was sie ist.
Die Haltung, auf der all dies beruhte – eine echten „Do-it-yourself“-Einstellung –, lehrt Kunstschaffende und Intellektuelle dieser Tage, dass man zur Vermittlung neuer Ideen den passenden Kanal selbst herstellen muss, wenn er noch nicht existiert. Darüber hinaus lässt sich daraus ableiten, dass neue Formen ohne die entsprechenden Ideen, die sie stützen, nur selten längerfristig Bestand haben. Wir befinden uns heute am Schnittpunkt einer Reihe komplexer Gewerbe, die durch die Digitalisierung und das World Wide Web für immer verändert wurden. Die gedruckte Seite wird sich immer von den Bildschirmen unterscheiden, die uns umgeben. Letztere aber verdanken Ersteren die Fähigkeit, Bilder, Worte, Ideen und Empfindungen – unsere geistige Aktivität und unsere Gefühle – miteinander in Verbindung zu setzen.
Dieser Text wurde von Michael Ammann aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.
Endnotes
C Konkrete Poesie
Konkrete Poesie und ZERO (1979)
Eugen Gomringer
Im gleichen Zeitraum – mit einer Verschiebung von nur wenigen Jahren – sind in der Schweiz und in Brasilien die konkrete Poesie einerseits und in Düsseldorf Zero andererseits entstanden. Konkrete Poesie wird zwar mit Recht den dichterischen Bewegungen zugezählt, sie ist jedoch ohne den Bezug zur konkreten Kunst, der in der Schweiz durch meine Begegnung mit der Galerie Des Eaux Vives 1944 in Zürich gegeben war, ja teilweise ihrer Verwurzelung in der visuellen Kunst, in der schweizerischen Graphik und Typographie, nicht denkbar. Philosophie und Thematiken von Zero sind der konkreten Poesie deshalb phänomenologisch auf alle Fälle nicht wesensfremd. Im Gegenteil, es ergaben sich bald Grenzverschiebungen und Interaktionen, die bis heute [1979] immer wieder Früchte tragen. Dass sich beide Bewegungen, ohne anfangs viel voneinander zu wissen, ähnlichen Zielen und Inhalten widmeten, lässt sich mehrfach belegen.

Im ersten Manifest der konkreten Poesie, das ich vor genau 25 Jahren, 1954, in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichen konnte („Vom Vers zur Konstellation“) habe ich die „Konstellation“ wie folgt beschrieben: „Sie umfasst eine Gruppe von Worten – wie sie eine Gruppe von Sternen umfasst und zum Sternbild wird.“ Und zur Funktion der neuen Dichtung innerhalb der Gesellschaft heisst es da: „Der Beitrag der Dichtung wird sein die Konzentration, die Sparsamkeit und das Schweigen: Das Schweigen zeichnet die neue Dichtung gegenüber der individualistischen Dichtung aus. Dazu stützt sie sich auf das Wort.“ In späteren Manifesten tritt zur Beschreibung der „Konstellation“ und der Forderung nach dem Schweigen als Ausgangssituation schöpferischen Arbeitens immer mehr das Problem der Fläche und des Raumes auf allein schon deshalb, weil Sternbilder, Konstellationen aus Sternen wie aus Worten ihre Wirksamkeit dem weiten Raum verdanken. Pierre Garnier hat später in Frankreich die konkrete Poesie konsequenterweise sogar in den „Spatialisme“ übergeführt. Sein Manifest ist von fast allen Autoren der Fünfzigerjahre mitunterzeichnet worden.
Nicht zu verkennen ist auch, dass die konkrete Poesie ihre Absichten betont positivistisch, in der Stimmung optimistisch und den „dunklen“ Kräften, auch den emotionalen, abgewandt, vortrug. Es ging um die neue Dichtung einer neuen Welt. Der Begriff „Konstellation“ bezeichnet auf seine Weise, dass sich der Blick am Himmel orientieren wollte, dass das Sternbild vom Himmel auf die Erde heruntergeholt werden sollte.
Im Katalog zur Zero-Ausstellung in der Kestner-Gesellschaft Hannover im Jahr 1965 beschreibt Wieland Schmied den Begriff „Zero“: „Es blieb aber nicht bei dieser ‚punktuellen‘ Vorstellung von Zero als Augenblick des Starts oder als Nullpunkt. Schon bald sprachen sie von der ‚Zone Zero‘, und in dieser Zone der Einkehr, des Stillhaltens, des Überlegens hat auch sehr wohl die Null als Objekt der Meditation und Konzentration ihren Platz. Zero bedeutete für Mack, Piene, Uecker, Holweck, Goepfert eine unbesetzte Zone, einen noch nicht betretenen Raum, einen Bereich, noch nicht von Vorstellungen, Theorien und misslungenen Realisationen okkupiert, ein Bereich, aus dem heraus noch alles möglich ist, aus dem heraus sich beginnen lässt ohne Voraussetzung, ohne belastendes Erbe, ohne Fessel des Vergangenen.“
Die Vorstellung eines noch nicht betretenen Raumes, einer Zone der Einkehr, des Stillhaltens oder die Vorstellung der Null als Objekt der Meditation und Konzentration – sie hätte ebensogut zu den Vorstellungen der frühen konkreten Poeten gehören können. Es ist derselbe Ausgangspunkt, der sich mit den Begriffen „Konzentration“, „Schweigen“, „Raum“ immer wieder von beiden Seiten identifizieren lässt. Es sind die Begriffe der ersten Phase, in der die Entscheidung für ein neues, reines Weltbild fällt. Aber nicht nur im grossräumigen Denken bestand Verwandtschaft. Zero war früh für „Nuancen“ – im Gegensatz zu „Geschrei“ und „Höchstaufwand an körperlichem Einsatz“ (Otto Piene). Uecker schreib 1960: „Der Wind ist die Schönheit des Eises, wie die Sonne fliegt, ich fliege, es geht durch mich hindurch, wie es durch etwas und nichts geht, es hat sich und mich verwandelt. Es ist der neue Blick für die elementaren Kräfte, ja für eine zentrale Kraft, für das unmittelbare Erlebnis. In meinen frühesten Konstellationen spielten ebenfalls das Fliegen und der Wind und der Baum eine entscheidende Rolle.“
Uecker hielt 1961 einen „Vortrag über Weiss“, der in Wahrheit ein Hohelied der weissen Welt ist:
„Um auf meine Arbeit zu kommen“, – sagte er am Schluss – „hier sehen Sie ein leises Stakkato, eine lesbare Weisszone, die in ihrer Freiheit unsere sensibelste Regung erweckt, die uns eine neue Welt der kleinen Nuancen, der Stille, abseits allen Geschreies vermittelt.“


Unnötig auf Parallelen bei der konkreten Poesie zu verweisen, in der Ideogramme das Schweigen darzustellen versuchen, bzw. das Schweigen provozieren sollen. Und gleichfalls ist das Weiss die grosse anregende Situation bei den konkreten Poeten. Das leere Blatt ist für den Dichter das weisse Feld, auf dem jedes kleine Zeichen, jedes einzelne Wort zu einer vollen Grösse wird, Beachtung erheischt, eine Tat ist.
Doch haben Zero wie konkrete Poesie auch zahlreiche Wege der Gestaltung aufgezeigt. Leider ist man im Falle der konkreten Poesie von der Kunstkritik noch immer nicht darauf gekommen, dass die minimalen positiven Gestaltungen – Dieter Rot war auch hierin ein grosser Anreger – unbedingt Vorläufer der späteren Minimal Art waren. Zero hat bekanntlich Bahnbrechendes geleistet in der Erkenntnis der künstlerischen Struktur. Uecker: „In eine neue Realität führt uns die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Strukturen“. – „Meine Weissstrukturen, die ich bewusst Objekte nenne, da sie sich von der bildhaften Projektion auf eine Leinwand unterscheiden, baute ich mit vorfabrizierten Elementen, wie Nägeln. Im Anfang benutzte ich streng gereihte Rhythmen, mathematische Folgen, die sich später auflösten in einen freien Rhythmus.“ Was Uecker mit den Nägeln erreichte, gestalteten konkrete Poeten mit Buchstabengruppen, Wörtern. Die Übereinstimmung erreicht nochmals einen Höhepunkt, wenn Uecker feststellte: „Gegenwärtige Strukturmittel können als Sprache unserer geistigen Existenz verstanden werden.“


Dann aber wird auch deutlich, dass sich die Gestaltungsmöglichkeiten unterscheiden. Ein wichtiger Begriff für Zero war die „Vibration“ und „Schwingung“. „Mir geht es darum“, sagte Uecker, „mit diesen Mitteln in ihrem geordneten Verhältnis zueinander eine Schwingung zu erreichen, die ihre geometrische Ordnung stört und sie zu irritieren vermag.“ Auch die Gedichte der konkreten Poesie gerieten in der zweiten Phase in Bewegung. Aus den Kristallen der Frühphase wurden ebenfalls irritierende Strukturen. Der Unterschied zu den Gestaltungsmitteln von Zero war allein der, dass alle sprachlichen Mittel nie und nimmer nur Gestalten, Hüllen sein konnten und sich eben immer wieder auch als semantische Mittel erwiesen, was freilich wiederum ganz andersartige Irritationen ermöglichte. Viele Texte von Ernst Jandl beruhen auf Irritationen solcher Art.
Es könnte heute, wo man so gerne Rückschau hält, die Erkenntnis geweckt werden, dass die beiden Bewegungen – die eigentlichen avantgardistischen Bewegungen der Nachkriegszeit – zum Teil sicherlich ausgezeichnet ihre Rolle in den Fünfziger- und Sechzigerjahren spielten, dass aber ihre gestalterischen wie psychologischen Potenziale weit über eine historische Stilzugehörigkeit hinausgeführt haben. Im Sinne der konkreten Poesie dichterisch gestalten heisst, mit den Elementen der Sprache, d.h. der Schrift wie des Sprechens, arbeiten, sie als Elemente der geistigen existenziellen Auseinandersetzung positiv in der grossen offenen Struktur einzusetzen. Und die Zero-Texte von Piene, Mack und Uecker – wer möchte behaupten, dass sie in ihrer intelligenten Auseinandersetzung mit dem elementaren Lebensgefühl, ja eben: und auch mit der grossen, offenen Struktur, allein historisch zu fixieren wären? Beide Bewegungen sind erkenntnismässig noch nicht ausgeschöpft.
Nachdruck aus „ZERO. Bildvorstellung einer europäischen Avantgarde 1958-1964“, hrsg. von Ursula Perucchi-Petri, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich 1979, S. 37-39.
Endnotes
D Diagramm
ZERO's Diagramme
Astrit Schmidt-Burkhardt
Am 26. September 1964 wurde in Antwerpen die Ausstellung Integratie 64 eröffnet. Organisiert hatten sie der belgische Künstler Jef Verheyen (1932-1984) und der Schriftsteller Paul de Vree (1909-1982). Letzterer war zudem in der Außenkommunikation des Projekts federführend. In seinem kurzen Einführungstext hob de Vree die Notwendigkeit hervor, Architektur, Kunst und Technologie zu einer „universalen Einheit“ zusammenzuführen, nachdem die Industrie und mit ihr die Technologie auf der gesellschaftlichen Ebene neue soziale Strukturen geschaffen hätten, die nach einer innovativen Einheit verlangten. Statt von Kunstwerken im herkömmlichen Sinn zu sprechen, schwebten de Vree künstlerische Prototypen vor, die an der Gestaltung der Zukunft mitwirken sollten. Statt die eigene Realität kritisch zu hinterfragen, wurden die Kunstschaffenden angehalten, an einer „neuen Realität“ mitzuwirken. Denn: Seit dem 19. Jahrhundert seien Architekten, bildende Künstler und Musiker damit beschäftigt gewesen, Massenkultur und technische Innovationen in Einklang zu bringen. Nun aber gelte es, moderne Materialien experimentell auf ihre Anwendbarkeit hin zu prüfen und mit ihnen in neue ästhetische Dimensionen vorzudringen. Von derart grundlegenden Veränderungen, so de Vrees zukunftsoptimistische Überzeugung, würden schließlich alle zivilisatorischen Bereiche erfasst werden.[i]
[i] Vgl. Paul de Vree, „Integration 64“, in: Plan 1, 15. Oktober 1964, S. 5.
Parallel zur Schreibarbeit hatte de Vree seine Leitideen in einem Diagramm zum Ausdruck gebracht. Integratie wiegt an Anschaulichkeit auf, was seine holprig auf Deutsch formulierte Einführung zu Integratie 64 an Klarheit vermissen ließ. Die programmatische Bedeutung, die de Vree seiner Schemazeichnung beimaß, lässt sich daran erkennen, dass er sie zeitnah zur Ausstellungseröffnung in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift De Tafelrondeabgebildet hat. Mag die Originalzeichnung inzwischen verloren gegangen sein, ihre Veröffentlichung qualifizierte sie zum bleibenden Dokument einer kultursoziologisch geprägten Theoriebildung, die de Vrees Leitartikel „Integratie“ vorangestellt ist.[i]
[i] Vgl. ders., „Integratie“, in: De Tafelronde, 10. Jg., Nr. 1, 1964, S. 3‒10.

Denkt man sich das Queroval in de Vrees Schaubild als geschlossenen Kosmos des Kunstgeschehens, dann wird er von zwei Parametern bestimmt, die von der Peripherie aus ins Zentrum einwirken: die „sociale omwereld“ (gesellschaftliches Umfeld) oben und die „technische omwereld“ (technisches Umfeld). In diesen Hemisphären stehen sich mit „massa“ und „machine“ zwei Kategorien dialektisch gegenüber, getrennt von einem Zeitstrahl, der ohne eine einzige Jahresangabe durch die gesamte Breite des ellipsenförmigen Raums verläuft. Auf dieser Achse hat de Vree markante Etappen der Kunstentwicklung notiert: Beginnend mit dem „klassicisme“ und „impressionisme“, zwei in optischen Angelegenheiten („optiek“) konträre Stilrichtungen des 19. Jahrhunderts, die sich ganz links, gleichsam auf exterritorialem Gebiet, in jedem Fall außerhalb der Kunstwelt des 20. Jahrhunderts befinden. Die Entwicklungsschritte verlaufen – der Leserichtung folgend ‒ vom Klassizismus und Impressionismus über den „kubisme“ und „dada“ bis zum „nieuw realisme“. Oder allgemeiner formuliert: von der Tafelmalerei des 19. Jahrhunderts in linear-progressiver Abfolge zur künstlerischen Gestaltung des menschlichen Lebensraumes nach dem Zweiten Weltkrieg. Parallel versetzt und der „sociale omwereld“ zugeordnet, führt ein weiterer Entwicklungsstrang vom „fauvisme“ bzw. „expressionisme“ zur „nieuwe figuratie“.
De Vree zeichnete ein Bild des europäischen Kunstgeschehens, in dem ältere Modelle nachwirken. Man muss keine 30 Jahre zurückgehen, um in Alfred H. Barrs (1902-1981) Diagram of Stylistic Evolution from 1890 until 1935,1936, das Leitmotiv der Binarität wiederzuerkennen.[i] Freilich hat dieser Vergleich seine Tücken. Im Flussdiagramm von Barr driftet die abstrakte Kunst in dichotomer Zweiteilung in eine nicht geometrische und eine geometrische Richtung auseinander. De Vree charakterisiert diese Entwicklung zwar ebenfalls in immer neuen Aufspaltungsprozessen: So gehen in Integratie etwa aus dem „kubisme“ mit „surrealisme“ und „konstruktivisme“ zeitparallel zwei konträre Avantgarderichtungen hervor ‒ vermittelt sowie beeinflusst durch „dada“ ‒ und repräsentieren so exemplarisch die von „Subjektivismus“ bzw. „Objektivismus“ durchzogenen Hemisphären. Jedoch anders als Barr operiert de Vree mit Temperaturangaben: mit der „warmen“ Strömung des „informeel“ und der „kalten“ des Geometrischen.[ii] In dieser Binnenwelt des Ästhetischen führt auf Äquatorhöhe die thermodynamisch aufgeheizte Avantgarde zu immer weiteren Schismen: zu „experimenteel“ und zu „lyrisch abstrakt“, alles kunstimmanente Eigenschaften, die sich bis zur „pop’art“ und „op’art“ weiterverfolgen lassen.
[i] Michel Seuphor gehörte als Verächter der Figuration zu den Ersten, die das Barr-Chart umfassend würdigten: Er nahm es in sein grundlegendes und wiederholt aufgelegtes Buch L’Art abstrait. Ses origines, ses premiers maîtres,1949, auf, und trug damit zur Verbreitung der binären Geschichtskonstruktion bei.
[ii] Germano Celant sollte später ‒ unter Rückgriff auf Marshall McLuhans Terminologie ‒ vom Übergang eines „warmen“ Informel (Jackson Pollock, Willem de Kooning, Franz Kline, Hans Hoffmann, Mark Rothko, Jean Fautrier, Alberto Burri, Jean Dubuffet, Georges Mathieu) zum „kalten“ Informel (Neodada, Nouveau Réalisme, Fluxus, Happening, Gruppe ZERO, Concept-Art) sprechen. Vgl. ders., o. T., in: Piero Manzoni 1933‒1963, Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, Kunsthalle Tübingen, übers. von Michael Obermayer, München 1973, S. 4‒9, hier S. 4.
Wie vor ihm Barr bemühte de Vree dialektische Extreme, die in der Tradition des polarisierenden Argumentierens stehen, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Er überführt die ästhetischen Gegensätze, die Pop-Art und Op-Art bilden, in eine übergeordnete Einheit. Unter dem in Fettschrift hervorgehobenen Großbegriff „integratie“ wird zusammengefasst, was im Kern zwar nicht zusammengehört, aber zukunftsweisend als symbiotisch und progressiv wirksam gedacht wird – mit der Faszination für technische Errungenschaften und mit ihnen verbundene Expansionsmöglichkeiten. So nimmt die mit gestrichelter Linie als aufnahmefähig charakterisierte Keimzelle „integratie“ konträre Tendenzen in sich auf und strebt ‒ programmatisch aufgeladen, wie sie ist ‒ nach Verselbständigung jenseits alter Rahmenbedingungen einer neuen Ära zu.
De Vree zeichnete in seinem Diagramm gleichsam die großen, um nicht zu sagen groben Linien ästhetischer Entwicklungen des 20. Jahrhunderts im Spannungsfeld von „Massengesellschaft“ und „Maschine“ auf, um mit „Integration“ eine produktiv erhoffte Zukunftsperspektive zu entwickeln. So entstand ein Theoriebild, das einen Eindruck von der vorherrschenden Aufbruchsstimmung in den 1960er Jahren vermittelt, zu der nicht zuletzt die „zero beweging“ beigetragen hatte, die bei de Vree der Op-Art zugeordnet ist.[i] Unter welchen konzeptuellen Voraussetzungen die ZERO-Bewegung angetreten war, welche bildnerischen Leitideen sie verfolgte, wer sich mit ihr assoziierte, kurz: Worin ihre Quintessenz besteht, darüber gibt Integratie allerdings keine Auskunft. Es war Heinz Mack (*1931), der diese Informationen anhand von drei Schaubildern nachreichen sollte.
[i] ZERO im engeren Sinne, das waren Heinz Mack, Otto Piene und ab 1961 Günther Uecker. Gemeinsam waren die Düsseldorfer Protagonisten ‒ neben 16 weiteren Künstlern und Künstlerinnen ‒ in der eingangs erwähnten Ausstellung Integratie 64 mit Werken vertreten.
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1966 war Mack nach einem zweijährigen Aufenthalt in New York nach Deutschland zurückgekehrt ‒ und orientierte sich künstlerisch neu. Die Anregung, die dreiköpfige Zero-Assoziation – bestehend aus ihm, Otto Piene (1928-2014) und Günther Uecker (*1930) – noch im gleichen Jahr aufzulösen, ging von ihm aus. Die Zeit war reif für ein Resümee. Mit Zéro ‒ mögliche Konzeptionen[i], so die konjunktivische Themenstellung, entwarf Mack ein Schaubild, das im Rückblick ZEROs ästhetisches Programm zusammenfasst. Im Moment des einvernehmlichen Auseinandergehens hält es fest, was die Düsseldorfer Gruppe ohne Gründungsveranstaltung, ohne Manifest und ohne Bindungspflicht acht Jahre lang ideell miteinander und mit anderen Künstlern verbunden hatte.
Mit dicken Pfeilzeichen und Farbstiften rekonstruierte Mack das Gedankenfundament, auf dem die Zero-Ideen gründeten. Dabei wurde hier (Kunst-)Theorie in ihrem ursprünglichen Sinne aufgefasst und gleichsam kantianisch gedacht. Sie erscheint in grafisch pointierter Weise dargestellt, die umgekehrt aus der Anschauung stets in Theorie umschlagen kann, deren kleinste Einheiten die Schlüsselbegriffe sind. Macks elaboriertes Text-Bild leistet beides: Es zerlegt die bildnerischen Vorstellungen in Begriffe, denen mit Skizzen wiederum zu bildlicher Gestalt verholfen wird. Entstanden ist so ein kunsttheoretisches Tableau, in dem die didaktischen Erfahrungen des ehemaligen Kunsterziehers nachwirken, einem Brotberuf mit Beamtenstatus, den Mack parallel zur künstlerischen Tätigkeit noch bis 1964 ausgeübt hatte. Als Inspirationsquelle diente das von ihm und Piene herausgegebene Katalog-Magazin ZERO(1958‒61).
[i] Heinz Mack, Zéro ‒ mögliche Konzeptionen, 1966, Filzstift, Buntstift, Bleistift, Kugelschreiber, Tusche und Collage auf weißem Papier, montiert auf schwarzem Karton, 74,5 × 100 cm (Karton), 70,5 × 65 cm (Blatt), Archiv der ZERO foundation, Vorlass Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.IV.30.

Das titelgebende Motto der Übersicht Zéro ‒ mögliche Konzeptionen ist kompositorisch durch zwei schwarze Pfeile von der oberen rechten Ecke zur unteren Blatthälfte verspannt, das Schaubild mit dem waagerecht gezogenen blauen Verbindungspfeil inhaltlich zweigeteilt. Die obere Hälfte, in fünf Kolumnen strukturiert, wird am besten von links nach rechts und von oben nach unten gelesen. Das zentrale Anliegen der in drei Gruppen zusammengestellten Künstler wird durch je eine Schemazeichnung verdeutlicht: das Koordinatenkreuz, das Kreismodell und der horizontale Strich. Sie stehen für „Struktur“, „Zentralisation“ und „Linie(n)“, alles Leitbegriffe, die gemeinsame Schnittmengen bilden und auf formalen Kriterien beruhen: auf „Fläche“, „Punkt“ und „Linie“. Diese Begriffstriade hat in Wassily Kandinsky (1866-1944) einen ihrer maßgebenden Vordenker. Dessen Schrift Punkt und Linie zu Fläche, die zunächst als neunter Band der Reihe „Bauhaus-Bücher“ 1926 erschien, war in rascher Folge von 1955 bis 1963 in drei Neuauflagen gedruckt worden, die der ehemalige Bauhaus-Schüler Max Bill (1908-1994) besorgt hatte. Mit Kandinskys Plädoyer für eine abstrakte Formensprache war dem Buch eine rege Rezeption beschieden, die dem anhaltend großen Interesse ‒ zumal unter Künstler und Künstlerinnen ‒ an „Konkreter Kunst“ geschuldet war.[i]
Die aus den malerischen Elementen „Fläche“, „Punkt“ und „Linie“ mit einer geschweiften Klammer gezogene Schlussfolgerung lautete für ZERO: „Reduktion“. Gemeint war die „Aufhebung der Komplexität“, wie eine nachträglich mit Bleistift eingefügte Ergänzung präzisiert. Damit einher geht die „Tendenz zur Minimal Art“, die Mack in den USA aus nächster Nähe hatte verfolgen können. Was mit der typografischen Klammer nicht zur Sprache kommt, ist die implizite Stoßrichtung der Begriffe: das Informel und der Tachismus, kurz Expressionismen jeglicher Couleur, mit denen die drei „ZEROisten“ in ihren künstlerischen Anfängen zwar experimentiert hatten, von denen sie sich dann aber durch die formale Reduktion befreiten.
[i] Am Beginn der von Max Bill initiierten Ausstellung Konkrete Kunst stand darum auch Kandinsky. Vgl. Konkrete Kunst. 50 Jahre Entwicklung, Ausst.-Kat. Helmhaus Zürich, hrsg. von Zürcher Kunstgesellschaft, Verwaltungsabteilung des Stadtpräsidenten, Zürich 1960, S. 9 f.
Auf halber Höhe des Blattes rücken ‒ von einem nachträglich aufgeklebten kurzen schwarzen Pfeil nach rechts angeschoben ‒ Veranstaltungen mit performativem Charakter ins Blickfeld: „Aktionen“, „Demonstrationen“, „Manifestationen“ und „Koloboration“ [sic].[i] Der gemeinsame Nenner dieser Werkgruppen: die künstlerischen Handlungsmöglichkeiten auszuweiten, verbunden mit dem Ansinnen, als „Team erhöhte Aufmerksamkeit“ in der Öffentlichkeit zu generieren. Die damit einhergehenden Gefahrenpotenziale unterschlägt Mack indes nicht: reine „Provokation“ und der Rückfall in „Ideologien“. Angespielt wird damit ‒ in geflissentlicher Abgrenzung ‒ etwa auf die Vereinnahmung der Kunst durch den Nationalsozialismus, womit sich nicht zuletzt ZEROs ästhetisch orientierte Allianzen ohne jegliches politische Anliegen erklären.
In vier eingerahmten Begriffskästchen stehen sich die bildnerischen Leitideen in den für ZERO charakteristischen Nichtfarben Weiß, Schwarz und Grau gegenüber. Streng dialektisch denkt Mack beim „Schatten“ das „Licht“, bei „Stille“ die „Bewegung“, bei „Monochrom“ das (Farben)„Spektrum“ und bei „Space Art“ die „Landart“ [sic] immer mit, um sie mit zentralen Theoremen (z. B. „Vibration“, „Achrom“) zu unterfüttern, alles Programmwörter einer „postkoloristischen Malerei“ (Robert Fleck). Zwischen diesen Themensetzungen stellen rote Pfeile Querverbindungen her oder verweisen auf die aktionistischen Großbegriffe darüber. In diesem gerichteten Bezugssystem sind mit „Happening“ auf der einen und der „Landart“ auf der anderen Seite künstlerische Richtungen erfasst, von denen die Düsseldorfer ZEROisten wesentliche Impulse aufgegriffen haben, um eigene ästhetische Setzungen vorzunehmen.
[i] Zu ZEROs Aktionen in Abgrenzung zum Happening und zu Fluxus-Events vgl. Malte Feiler, „Aktionen bei ZERO ‒ Happenings?“, in: Zero-Studien. Aufsätze zur Düsseldorfer Gruppe Zero und ihrem Umkreis, hrsg. von Klaus Gereon Beuckers, (Karlsruher Schriften zur Kunstgeschichte, Bd.2), Münster 1997, S. 135-148.
Augenscheinlich hat Mack sein informationsdichtes Diagramm deszendierend wie einen Text entwickelt, wodurch sich zumindest das rückseitig zum Hochformat hinzugeklebte Blatt im unteren Drittel erklären ließe und die ‒ nach Ablösung des durchsichtigen Klebebandes ‒ notwendige Stabilisierung der gesamten Komposition auf einem Karton. Durch die Ergänzung des zweiten Papiers war ausreichend Platz geschaffen, um noch einen anderen konzeptuellen Aspekt von ZERO hinzuzufügen: der konsequente Einsatz neuer Materialien, allen voran die vier Elemente „Feuer“, „Luft“, „Wasser“ und „Erde“, denen wiederum einzelne Künstler zugeordnet sind.
Mit dem Hinweis auf den dreidimensionalen „Raum“ am unteren Blattrand wird eine Kategorie aufgerufen, die sich topografisch nicht fassen lässt. Zwischen „endlich“ und „unendlich“ angesiedelt, kann der Maßstab vom Punkt bis zum Kosmos variieren. ZERO suchte den offenen, unberührten Raum jenseits der Museumsmauern. Dessen Dimension war das Licht. Fontänenartig greift es über der ikonischen Bildformel mit ihren drei Koordinaten zu den in den Rubriken „Luft“, „Wasser“ und „Erde“ aufgelisteten Künstlern aus, gemäß Macks Devise:
„Ohne Licht ist die Materie nicht sichtbar, und ohne Raum ist die Materie nicht existent.“[i]
[i] Zit. n. Daniel Birnbaum, Hans-Ulrich Obrist im Gespräch mit Heinz Mack, „Das Einfache ist das Komplexe“, in: Heinz Mack. Licht ‒ Raum ‒ Farbe / Light ‒ Space ‒ Colour, Ausst.-Kat. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Köln 2011, S. 10‒29, hier S. 12.
Das avantgardistische Expansionsstreben in die unendliche Tiefe des Himmels, in die immense Ausdehnung des Meeres oder in die monochrome Weite der Wüste wird am unteren Blattrand durch geografische Ortsangaben wieder in die menschliche Zivilisation zurückgeführt: An den weit auseinanderliegenden Städten wie „New York“, „London“, „Düsseldorf“, „Milano“, „Paris“, „Amsterdam“ und „Eindhoven“ mag man die Zentrifugalkräfte der ZERO-Bewegung ermessen.
Macks Farbkodierung folgt klaren Zuordnungen, die sich ‒ Ausnahmen eingeschlossen ‒ folgendermaßen darstellen: Raumbezogene Begriffe sind blau, aktionistische Programmwörter grün und prägende Gestaltungsideen sind in Schwarz geschrieben. Räumliche Verhältnisse sowie thematische Zusammenhänge werden durch rote Pfeile angezeigt. Immer wieder griff Mack zur feinen Feder, um kurze Erläuterungen zu den Großbegriffen in schöner gleichmäßiger Handschrift hinzuzufügen. Auf diese Weise werden Begriffe aufeinander bezogen, die in ZEROs Kunstansatz entsprechende Schlüsselrollen spielen. Die Textblase „Ruhe der Unruhe“ am oberen Rand liefert einen ersten Hinweis. Die paradox klingende Formulierung geht auf einen gleichnamigen Text zurück, in dem Mack 1958 die künstlerische Entfaltungstendenz beschreibt:
Die hier anklingende Entwicklungsrichtung verläuft in Zéro ‒ mögliche Konzeptionen progressiv von der flächenverhafteten Elementarlehre zu raumbestimmenden Gestaltungsfragen.
Indem Mack die konzeptuellen Ansätze von ZERO und dessen Mitstreitern unter wechselnden Gesichtspunkten zusammenstellte und ordnete, ging er über die ästhetischen Gemeinsamkeiten einer ganzen Künstlergeneration hinweg, um in immer wieder neuen Namenslisten zu differenzieren. Was diese knapp zwei Dutzend angeführten Künstler (und es waren ausschließlich Männer) aus neun Ländern tatsächlich miteinander einte, war das Selbstbehauptungsstreben, das sie mit allen Avantgardebewegungen teilen. Sieht man sich die mit dünnem Strich eingefassten Zusammenstellungen der Namen genauer an, dann wird klar: Mack, Piene und Uecker standen von Anfang an mit zahlreichen Künstlern in Kontakt, und dies bis weit über die deutschen Landesgrenzen hinaus. Das Stichwort „Koloboration“ [sic] als Synonym für „Team-Work“ und „Gruppenbewegung“ ist hierfür signifikant. Denn die Vorzüge kollektiver Vorgehensweise wurden von den Düsseldorfern schnell erkannt. War ZERO also ein Metakollektiv, das sich unter der Sammelbezeichnung „zero beweging“ fassen lässt, wie de Vree insinuiert hat? Oder doch eher eine „Gruppe von Gruppen“, wie es Piene einmal formulierte?[i] Macks zweites Diagramm gibt darauf eine Antwort.
[i] Otto Piene, „ZERO Retrospektive“, in: ZERO aus Deutschland 1957‒1966. Und heute / ZERO out of Germany. 1957‒1966. And Today, hrsg. von Renate Wiehager, Ausst.-Kat. Galerie der Stadt/Villa Merkel, Esslingen, Ostfildern-Ruit 2000, S. 37.
Der Entstehungshintergrund des Schaubilds Radius Zero[i], ca. 1970, ist schnell benannt. 1970 wurde Mack ‒ zusammen mit Uecker ‒ eingeladen, um an der Vorbereitung einer Ausstellung zum Thema „Radius ZERO“ mitzuwirken. Den Anstoß dazu hatte Alexander Schleber gegeben, der als Leiter des Phaidon Verlags in Köln den Direktor der Kunsthalle Düsseldorf Karl Ruhrberg (1924-2006) für dieses Projekt gewinnen konnte, das er mit einer Publikation begleiten wollte. Die für das Frühjahr 1973 anberaumte Ausstellung scheiterte schlussendlich aus organisatorischen sowie finanziellen Gründen. Was blieb, sind Planungsunterlagen ‒ und ein Diagramm Macks, das als Grundlage für die Gestaltung des Ausstellungsplakates hätte dienen sollen.[ii]
Mit Schlebers Themenstellung im Fokus griff Mack zum Großfolioblatt und skizzierte mit Filzstiften und Kugelschreiber ein umfassendes Bild der Reichweite ZEROs. Erklärtermaßen half ihm die zeitliche Distanz zu den Ereignissen, einen größeren „Zusammenhang“ all jener wechselwirksamen Aktivitäten zu erkennen, die „direkt“ oder „indirekt“ mit dem Düsseldorfer Dreiergestirn zusammenhingen.[iii] In Macks analytischer Betrachtungsweise zerfällt die ZERO-Bewegung in einzelne Kollektive.
[i] Heinz Mack, Radius Zero, ca. 1970, Filzstift und Kugelschreiber auf Papier, montiert auf grauem Karton, 53 × 69 cm (Karton), 50 × 65 cm (Blatt), Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.IV.25.
[ii] Vgl. Anette Kuhn, Zero. Eine Avantgarde der sechziger Jahre, Frankfurt a. M., Berlin 1991, S. 57 f., 241 f., Anm. 240; dies., „Zero im Kontext der europäischen Avantgarde“, in: Zero – Eine europäische Avantgarde, hrsg. von ders., Ausst.-Kat. Galerie Neher, Essen, Galerie Heseler, München, Mittelrhein-Museum, Koblenz, Oberhausen 1992, S. 10‒23, hier S. 11 f.
[iii] Vgl. Birnbaum, Obrist, Mack (wie Anm. 9), S. 18; Valerie L. Hillings, „Die Geografie der Zusammenarbeit. Zero, Nouvelle Tendance und das Gruppenphänomen der Nachkriegszeit“, in: Zero ‒ Internationale Künstler-Avantgarde der 50er/60er Jahre, Ausst.-Kat. Museum Kunstpalast, Düsseldorf, Musée d’art moderne et contemporain, Saint-Etienne, Ostfildern 2006, S. 74‒84, hier S. 76.

Entstanden ist ein topologisches Blockmodell mit drei vertikalen Formationen aus einem guten Dutzend gleichgesinnter Gruppierungen. Die räumliche Nähe dieser Gruppen auf dem Blatt erzeugt so etwas wie Struktur, auch wenn deren Anordnung keinen dezidiert nationalen respektive geografischen Parametern folgt. Zunächst notierte Mack die einzelnen Kollektive, um sie dann mit den Namen ihrer Vertreter und Vertreterinnen, mit Ortsangaben oder Gründungsdaten zu versehen. Um diese verschiedenen Künstlerkreise besser auseinanderzuhalten, zog Mack mit schnellem Strich Ovalformen um sie. Dabei tritt die von ZERO typografisch zelebrierte Rundzahl „0“ ‒ in die Horizontale gekippt ‒ in neuer Gestaltvariante auf. Und wie immer in der Geschichte der Zeichen verschiebt sich mit der Transformation gleichsam die Semantik. So lassen sich nun die Querovale als Keimzellen avantgardistischer Bestrebungen verstehen.
Durch nachträgliche Faltung, einmal horizontal und einmal vertikal, hat sich dem Papier diskret ein rechtwinkliges Achsenkreuz eingeschrieben, das die Fläche in vier gleichmäßige Rechtecke teilt. Leicht aus dem Koordinatennullpunkt im linken oberen Quadranten positioniert, bildet „Zero“ in Düsseldorf mit seinen drei Protagonisten den kompositorischen Mittelpunkt von Radius Zero. Auf der chronologisch ausgerichteten Mittelachse präsentiert sich „Zero“ sogar als ideelles Zentrum in Raum und Zeit: zwischen konstruktivistisch inspirierter Theorie ganz oben ‒ dem „Unismus“ Władysław Strzemińskis (1893-1952) und der „Mechano Faktura“ von Henryk Berlewi (1894-1967) („Berlevi“), beides Mitglieder der polnischen „Blok-Gruppe“ ‒ und dem „Neuen Realismus“ in Frankreich am unteren Ende der Mittelachse.Bekräftigt und bestätigt wird die von „Zero“ eingenommene Sonderstellung durch osmotischen Austausch mit geistesverwandten Kollektiven im benachbarten Ausland. Zwischen den dezentralen Kunstszenen schlagen Doppelpfeile immer wieder Brücken, markieren Verbindungen graduell abgestufter Affinitäten.
Ein kurzer schwarzer Doppelpfeil betont die engen Bande zum Mailänder Zirkel um die Zeitschrift Azimuth, deren erste Nummer im September 1959 herauskam. Im Dezember wurde die gleichnamige Galerie gegründet, die bis zur Schließung ein halbes Jahr später in Italien die wichtigste Plattform für Künstler und Künstlerinnen rund um Zero bilden sollte, auch die „Gruppo MID“ gehörte dazu. Die Gründungen der Mailänder „Gruppo T“ (Oktober 1959) und der „Gruppo N“ (eigentlich: enne) in Padua (November 1959) waren ebenfalls von Azimuth inspiriert. Beide Außenseiter hat Mack als Inselgruppe rechts der Hauptachse notiert.
Ein anderer kräftiger Doppelpfeil stellt die intensive Verbindung zur holländischen Gruppe „Nul“ her, hier in zwei Flügel getrennt.[i] Demgegenüber wurden mit violetten Umrisspfeilen gleich zwei wichtige Beziehungen zur französischen Kunstmetropole aufgenommen: einerseits zu „GRAV“ (Groupe de Recherche d’Art Visuel) und andererseits zum „Neuen Realismus“. Der Wirkungskreis, den Mack aufzeigt, ist auf Europa konzentriert. Hier entstand eine Art übergreifende Gruppenformation, gut zu erkennen an den mit Rot eingefassten Künstlerkreisen, die am Rhein, am Lambro und an der Amstel zuhause waren.
[i] Herman de Vries ‒ von Mack in Radius Zero noch als Einzelgänger charakterisiert ‒ wird aufgrund seiner vorwiegend publizistischen Tätigkeit späterhin von der kunstwissenschaftlichen Literatur zumeist nicht mehr der (Künstler-)Gruppe „Nul“ zugerechnet.
Gemessen an dem weit ausholenden Pfeilzeichen nach Fernost war der tatsächliche Aktionsradius von Zero deutlich kleiner als suggeriert. Zur japanischen „Gutai Gruppe“ am linken Blattrand pflegten die Düsseldorfer Künstler nur lose Kontakte. Noch schwieriger, da politisch brisanter und ästhetisch herausfordernder, gestaltete sich die Zusammenarbeit mit avantgardistischen Gruppierungen in Argentinien („Gruppo Arte Concreto“), Spanien („Equipo 57“, im Pariser Exil gegründet), der UdSSR („Gruppe Dvizdjenje“ [Bewegung]) und Jugoslawien („Nove Tendencije“), alles zeitparallele Erscheinungen jedoch ohne sichtliche Anbindung an „Zero“.[i]
[i] Zu den Gemeinschaftsarbeiten der von Mack angeführten Kollektive vgl. Nina Zimmer, SPUR und andere Künstlergruppen. Gemeinschaftsarbeit in der Kunst um 1960 zwischen Moskau und New York, Diss. Göttingen, Berlin 2002, S. 264‒293.
Was in Radius Zero zwar angelegt, aber nicht explizit zum Ausdruck kommt, ist der Nutzen der zunächst freundschaftlich geschlossenen Künstlerallianzen über Länder und Kontinente hinweg: die strategische Erweiterung der Einflusssphäre von Zero mit dem dezidierten Ziel, die eigene Internationalisierung voranzutreiben, Gruppenausstellung um Gruppenausstellung, Publikation um Publikation. Es wird sich zeigen, dass diese Bündnispolitik von wechselnden Interessen diktiert war, in denen sich das latent konkurrierende Verhältnis zusehends offenbarte.
Während die im Diagramm abgezirkelten Künstlergruppen sich partiell berühren, mitunter Schnittmengen bilden oder ansatzweise verketten, bilden sich mit dem dünnen zwischen „Zero“ und der „Gutai Gruppe“ gelegten Langpfeil räumliche Entfernung und innere Entfremdung ab. Die Fernbeziehung, die Zero zu dem 1954 in Osaka gegründeten Kollektiv unterhielt, basierte anfänglich auf dem gemeinsamen Interesse, nach dem Zweiten Weltkrieg einen künstlerischen Neubeginn zu initiieren. Doch weder transkontinental wirksame Bindungskräfte noch Macks Einschätzung waren von Dauer. Die Verbundenheit mit der japanischen Gruppe nahm mit der Zeit sogar ab, bis Mack sie in selbstreflexiver Distanznahme als „Parallelbewegung“ beschrieb, mit der Zero angesichts der „poetischen“ und „dadaistischen“ Objekte nichts (mehr) verband ‒ eine nachträgliche Korrektur, die eine andere Gemeinsamkeit völlig unterschlägt: die hier wie dort durchgeführten Space-Art-Aktionen.[i]Aus dem Diagramm selbst ist dies freilich so wenig ablesbar wie die späterhin konstatierten Unterschiede zu „Nul“, zu „GRAV“ oder „Nove Tendencije“.[ii]
In Radius Zero fand hingegen eine andere, an „artesischen Brunnen“ gemachte Beobachtung Macks ihren sichtlichen Niederschlag: Dass sich nämlich zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten ähnliche künstlerische Ideen manifestieren, die sich umstandslos dem Umkreis von „Zero“ zuordnen ließen.[iii]
[i] Vgl. Birnbaum, Obrist, Mack (wie Anm. 9), S. 19 f., 22.
[ii] Vgl. Hillings (wie Anm. 14), die ‒ teils unter Berufung auf Mack und Piene ‒ die Unterschiede zwischen den genannten Gruppen herausgearbeitet hat.
[iii] Vgl. Heinz Mack im Gespräch mit Stephan von Wiese, „ZERO e Azimuth. Un pozzo artesiano“, in: Zero. 1958‒1968 tra Germania e Italia, hrsg. von Marco Meneguzzo, Stephan von Wiese, Ausst.-Kat. Palazzo delle Papesse Centro Arte Contemporanea, Siena, Mailand 2004, S. 165 f.; „Christiane Hoffmans im Gespräch mit Heinz Mack”, in: Piene im Gespräch. Christiane Hoffmans in Gesprächen mit, hrsg. von Jürgen Wilhelm, München 2015, S. 79‒89, hier S. 83.
Um im Bild zu bleiben: Diese Gruppierungen, die wie Geysire vielerorts aus dem Boden schossen, verband eine „Art unterirdische Korrespondenz“.[i] Von daher wird verständlich, warum Mack nicht alle Künstlervereinigungen auf der Oberfläche seiner Zeichnung mit Pfeilen an „Zero“ binden musste. Von den dreizehn rund um „Zero“ angeordneten Gruppen waren die Düsseldorfer nur mit fünf direkt verknüpft. Dennoch: Wie kommunizierende Gefäße standen sie als transnational wechselnde Ausstellungsgemeinschaften in ständigem Austausch miteinander ‒ sei es in Briefen, in Telefonaten oder in persönlichen Gesprächen. Das diagrammatische Bild, das Mack zur Veranschaulichung dieser geistesverwandten Phänomene wählte, entstammte allerdings nicht der alten „aquatischen“ Symbolik, sondern einem modernen Netzwerkdenken.[ii]
[i] Hoffmans (wie Anm. 19), S. 83.
[ii] Vgl. Ulrich Pfisterer, Christine Tauber (Hrsg.), Einfluss, Strömung, Quelle. Aquatische Metaphern der Kunstgeschichte, Bielefeld 2018; Hartmut Böhme, „Einführung: Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion“, in: Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, hrsg. von Jürgen Barkhoff, dems., Jeanne Riou, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 17‒36.

Besonders deutlich tritt dieses multipolare Beziehungsgeflecht von gleichgesinnten Ideenträgern in einer anderen abstrakten Bildformel von Mack hervor, die ebenfalls als Plakatentwurf entstand. ZERO (Circles)[i], undatiert, ist eine Collage mit kreisrunden Versatzstücken aus Publikationen, ausgerichtet an der Achsensymmetrie, in Zeilen angeordnet und mit Doppelpfeilen engmaschig aufeinander bezogen. Die elf Scheiben ‒ optische Rotoren, Lichtreliefs, Texte und eine Schallfolie, alles Hinweise auf konkrete Arbeiten ‒ funktionieren gleichwohl nicht als Räderwerk.Der mit der Kunst verbundene Freiheitsanspruch von ZERO ließ sich ohnehin nicht mit einem mechanischen Getriebe veranschaulichen. Schon eher begriff sich ZERO als rotierende Kraft einer Bewegung, die 1962 in einer Berner Ausstellung 33 Künstler (rechts oben) auflisten konnte. Alle pfeilgeleiteten Verbindungen lenken direkt oder indirekt den Blick auf eine Telefonwählscheibe mittig am unteren Rand der Collage. Die Selbststilisierung als kommunikative Drehachse mit der Apparatrufnummer „Mack“ spricht für sich. In dem Bewusstsein, das Sprachrohr einer größeren Bewegung zu sein, versuchte ZERO, eine neue Zeit einzuläuten. Der abgebildete „ZERO-Wecker“[ii], 1961, schlägt die Stunde null. Später wird die Kunstgeschichte von der ersten deutschen Avantgardebewegung nach 1945 sprechen.[iii]
[i] Heinz Mack, ZERO (Circles), o. D. [nach 1963], Collage, Filzstift, Bleistift auf Karton, 74,5 × 100 cm, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.IV.31.
[ii] Das Objekt ZERO-Wecker von Heinz Mack, ca. 1961, 15 x 13 x 6 cm, Wecker mit Collage, befindet sich in der Sammlung der ZERO foundation, Inv. Nr. mkp.ZERO.2008.12.
[iii] Vgl. Kuhn 1991 (wie Anm. 13), S. 8; Renate Wiehager, „5-4-3-2-1-ZERO40. Countdown für eine neue Kunst in einer neuen Welt“, in: Günther Uecker. Die Aktionen, hrsg. von Klaus Gereon Beuckers, Petersberg 2004, S. 11‒38, hier S. 23.
Doch zurück zu Radius Zero: Die verschiedenen Künstlergruppierungen vertraten wenngleich nicht identische, wohl aber wahlverwandte Ideen; gemeinsam bezogen sie Position gegen die aktuelle Kunst. Für diese Art von Gesinnungsästhetik zirkuliert seit dem 19. Jahrhundert der metaphysische Begriff „Zeitgeist“. Mack sprach nüchtern-analytisch von „Ubiquität“ der Ereignisse.[i] Mit Blick auf sein Diagramm wird überdies klar: Den verschiedenen Künstlergruppierungen gelang es nicht, ihre Kräfte zu bündeln, um sich als international wirksame „Schule“ zu etablieren, und auch der Umstand, dass Mack, Piene und Uecker ab Dezember 1966 eigene Wege gingen, hatte darauf entscheidenden Einfluss.
[i] Vgl. Birnbaum, Obrist, Mack (wie Anm. 9), S. 18. ‒ Almir Mavignier machte dagegen aus seiner Verblüffung über dieses Phänomen keinen Hehl; vgl. ders., „Neue Tendenzen I. Ein überraschender Zufall“ (Original 1969), in: Tendencije 4 / Tendencies 4, Ausst.-Kat. Galerija Suvremene Umjetnosti, Zagreb [1968‒69], Zagreb 1970, o. S.
In der kritischen Rückschau, als der Höhepunkt der ZERO-Bewegung längst überschritten war, beschrieb Mack die Beziehungen der 14 Künstlergruppierungen untereinander als „Nachbarschaften“ ohne sichtliches Bedürfnis, die eigenen Grundstücksgrenzen überschreiten zu wollen.[i] Diese Metapher weckt Vorstellungen von ideellen Reichweiten und geistigem Eigentum. Letzteres wollte nicht mehr geteilt, sondern verteidigt werden. Die Gründe dafür sind in der unterschiedlichen DNA der Kollektive zu suchen. Jack Burnham (1931-2019) konnte daher zwei Blockbildungen im Umkreis von Zero unterscheiden: jene Künstlergruppen, die experimentelle Objektivität, Anonymität, Wahrnehmungspsychologie und Sozialismus bevorzugten (GRAV, die Gruppen T, N und MID sowie Equipo 47), und diejenigen, die verstärkt auf experimentelle Versuche („individual research“), Erkenntnis („recognition“), Poesie, Idealismus, Immaterialität, Leuchtkraft und Natur setzten (Zero, Nul und mit Yves Klein ein Teil der Neuen Realisten).[ii] So plausibel Burnhams paradigmatische Differenzierung auf den ersten Blick erscheinen mag, spiegelt sich darin doch die Blockbildung auf der politischen Weltbühne während der Zeit des Kalten Krieges wider, so wenig sich das anhand von Macks räumlicher Lagerbildung auch verifizieren lassen mag. Schließlich verschoben sich die Fraktionen zwischen 1957 und 1966 immer wieder. Die Bündnispolitik innerhalb der ZERO-Bewegung blieb stets unterschiedlichsten Eigeninteressen unterworfen. Sie war so wenig stabil wie die um Anerkennung rivalisierenden Kräfte auf dem weiten Feld der Avantgarde.
In ihrer künstlerischen Aufbruchsphase suchten die Düsseldorfer ZEROisten intensiven Kontakt zu anderen Gruppierungen als Bündnispartner zur Verbreitung, Etablierung respektive Durchsetzung der eigenen Position. Sie begrüßten die Beteiligung wichtiger Impulsgeber, etwa des gleichaltrigen Yves Klein (1928-1962) oder des Grand Seigneurs der Concetti spaziali Lucio Fontana (1899-1968), so wie sie umgekehrt mit zunehmendem Erfolg auf ästhetische Souveränität in der Außenwahrnehmung hinzuwirken suchten.
[i] So in einem Gespräch mit Anette Kuhn am 6. Februar 1992, vgl. Kuhn 1992 (wie Anm. 13), S. 12.
[ii] Vgl. Jack Burnham, Beyond Modern Sculpture. The Effects of Science and Technology on the Sculpture of this Century, New York 1969, S. 247.
Bezeichnend dafür war die Bestürzung der Düsseldorfer darüber, dass der Galerist Howard Wise (1903-1989) im November/Dezember 1964 ihre Werke zunächst in „enger Nachbarschaft“mit den einstigen Idolen präsentieren wollte.[i] Genealogische Kurzschlüsse nach dem Motto „aha, das sind die geistigen Väter“ sollten bei den US-amerikanischen Besuchern erst gar nicht aufkommen.[ii] Schließlich handelte es sich um die erste Einzelausstellung von Zero in New York.[iii] Für Beruhigung sorgte dann der Vorschlag, dass je ein Bild von Fontana und Klein ‒ beide Namen nennt Macks Diagramm ‒ im Büro des Galeristen aufgehängt werden könnten, so dass sich kein unmittelbarer Zusammenhang aufdrängte.[iv]
Diese Akzentverschiebung im Umgang mit geistesverwandten Mitstreitern lässt sich auch in Radius Zero ablesen. Ohne Anbindung sind in der Fußzeile die Pioniere aufgezählt – allen voran der schon erwähnte und in der Grafik in Rot herausgehobene Gründungsdirektor der Ulmer Hochschule für Gestaltung Max Bill. Die Einladung der ZEROisten zur Ausstellung Konkrete Kunst 1960 nach Zürich sollte ihm später das zwiespältige Lob eines „(zeitweisen) Förderers“ eintragen.[v] Neben Bill werden Fontana, Ad Reinhardt (1913-1967), Barnett Newman (1905-1970), Piero Dorazio (1927-2005) und Jesús Rafael Soto (1923-2005) genannt, alles Einzelgänger und für ZERO maßgebende Künstler, deren amikale Begegnungen für die Düsseldorfer von großer Bedeutung waren ‒ zumindest so lange, wie die eigene Karriere von ihnen nicht überschattet wurde.[vi]
[i] „Wir, d. h. Uecker u. ich, ‒ waren zien ziemlich erschrocken, zu hören, daß H.[oward] W.[ise] ein Bild von Fontana u. Yves in unsere Ausstellung hängen möchte.“ Heinz Mack in einem Brief an Otto Piene, 21. September 1964, 13Seiten, hier S. 12, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.1.2688_14 (Unterstreichungen im Original, die erste in Rot).
[ii] Mack (wie Anm. 28).
[iii] „Es ist doch unsere Ausstellung u. Fontana ist Fontana u. Yves ist Yves“. Mack (wie Anm. 28), S. 13, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.1.2688_15 (doppelte Unterstreichung im Original).
[iv] Vgl. Mack (wie Anm. 28).
[v] Vgl. Otto Piene, „ZERO 1989“, in: Gruppe Zero, hrsg. von Hubertus Schoeller, Ausst.-Kat. Galerie Schoeller, Düsseldorf 1988, S. 24‒27, hier S. 27; vgl. Konkrete Kunst (wie Anm. 7).
[vi] Heinz Mack, „Aus meinem Leben“ (2010), in: ders., Leben und Werk. Ein Buch vom Künstler über den Künstler /Life and Work. A Book from the Artist about the Artist. 1931‒2011, hrsg. von dems. und Ute Mack, Köln 2011, S. 8‒18, hier S. 12, 15; Mack zit. n. Birnbaum, Obrist, Mack (wie Anm. 9), S. 18 f.
Zwischen der polnischen Avantgarde der 1920er Jahre und der Konkreten Kunst US-amerikanischer Ausprägung behaupten Mack, Piene und Uecker in Radius Zero eine kunstgeschichtliche Schlüsselposition. Zur ganzen Wahrheit dieser (ambivalenten) Selbsthistorisierung gehört aber auch, dass Zero seine Impulse nicht von den angeführten Vorläufern empfangen haben will. Der Einspruch kam aus dem eigenen Lager. „Zero“ sei vital entstanden ‒ ohne Ahnenstolz wie historische Avantgarden.[i]
[i] Vgl. weiterführend Astrit Schmidt-Burkhardt, Stammbäume der Kunst. Zur Genealogie der Avantgarde, Berlin 2005.
Von Künstlern wie etwa Strzemiński hätten er und seine beiden Mitstreiter erst viel später durch die Pariser Galeristin Denise René erfahren, um einmal mehr in der Geschichte der Kunst das Gleichnis vom Phönix aus der (Nachkriegs)Asche zu beschwören.[i] Zeros „Wahlverwandtschaften“, so Piene nachdrücklich, seien ausschließlich persönliche Beziehungen gewesen; diese zeigten sich in ZERO-Veröffentlichungen, ZERO-Ausstellungen und ZERO-Aktionen.[ii]
[i] Historisch rückschauend stellt Mack Zero ungebrochen in die Tradition von Strzemiński; vgl. Hoffmans, Mack (wie Anm. 19), S. 86.
[ii] Vgl. Piene (wie Anm. 32), S. 24.
Es gibt Avantgardebewegungen, die ein diagrammatisches Bild ihrer selbst entwarfen, um sich von Anfang an ein Programm zu geben, und dann wiederum solche, die sich erst im Nachhinein der ästhetischen Prinzipien, ideologischen Grundierung und historischen Konstellationen vergewisserten, die ihren Erfolg begünstigt hatten. Zu Letzteren gehört ZERO. Rückschauend wie historisierend arbeitete Mack heraus, was die ZERO-Bewegung acht lange Jahre ideell verbunden hatte. Zwischen 19[63]/66 und 1970 entstanden, kam diesen Diagrammen lange Zeit nicht der Status von eigenständigen Werken zu, obwohl sie sich teils durch Signatur und Datierung durchaus als autonom zu erkennen gaben. Symptomatisch dafür ist, dass die Diagramme in der von den beiden Galeristen Otmar Neher und Walter Heseler organisierten Ausstellung nicht den Arbeiten zugerechnet wurden, die 1992 zum Verkauf standen. Mehr noch: Im Katalog kamen sie erst gar nicht vor.[i] Mit der Durchsetzung des „diagrammatic turn“ in der Kunstwissenschaft nach der Jahrtausendwende sollte sich diese Einstellung grundlegend ändern.[ii] Im Zuge einer Neubewertung von Schaubildern als ästhetische Artefakte werden Macks Diagramme nun nicht mehr länger als kunstlose Veranschaulichungen abstrakter Tatsachen respektive Zusammenhänge wahrgenommen. Im Gegenteil: Grafische Repräsentationen bilden als repräsentative Tableaus nun eine eigene Gattung in der Kunstgeschichte ‒ und mithin auch im Œuvre von Heinz Mack.
[i] Vgl. Zero – Eine europäische Avantgarde (wie Anm. 13).
[ii] Vgl. Astrit Schmidt-Burkhardt, Die Kunst der Diagrammatik: Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas, 2., erw. Aufl., Bielefeld 2017, S. 25‒28.
Endnotes
E Experiment
Regina Wyrwoll befragt Andreas Joh. Wiesand
Regina Wyrwoll Andreas Joh. Wiesand
„Künstler sind besonders neugierig“ Otto Piene[i]
[i] Helga Meister, ZERO in der Düsseldorfer Szene. Piene Uecker Mack, Düsseldorf 2006, S. 35.
Unser Beitrag, eine Art Frage- und Antwortspiel, könnte im ZERO-ABC selbst als eine Art Experiment wahrgenommen werden, wird er doch weitgehend ohne kunsthistorische Werkanalysen auskommen. Wie gleich zu sehen, wäre das aber vielleicht in Kauf zu nehmen, weil aus Experimenten nicht zwingend Ergebnisse für die Ewigkeit zu erwarten sind, wohl aber oft spannende Diskurse.

Regina Wyrwoll: Experimente in der Kunst: Sind sie die notwendige Voraussetzung, damit Neues entstehen kann?
Andreas Joh. Wiesand: Kunst und Literatur sind auf Veränderung angewiesen, zu denen Experimente beitragen können. Anders als beim regelbasierten wissenschaftlichen Experimentieren können diese Versuche Regelverstöße beinhalten, und gelegentlich müssen sie das sogar. Der Philosoph Otto Neumaier drückt es so aus: „Kunst ist auf ein Erweitern des Regelgebrauchs, auf ein Verändern der Regeln aus; so gehören zum Beispiel auch Werke der Dichtung jeweils zu einer Sprache, aber es wäre tödlich für sie, würde sich ihr Sprachgebrauch weitgehend mit jenem einer Alltagskommunikation decken.“[i]
Dass gerade bildende Künstler und Künstlerinnen mit den von ihnen verwendeten Techniken, Farben und anderen Materialien experimentieren, ist bekannt, spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Nicht alle solche Experimente führten dann allerdings zu den erhofften Ergebnissen oder wurden gar zu konstitutiven Elementen einer neuen künstlerischen „Bewegung“, als die ZERO heute teilweise benannt wird. Heinz Mack (*1931) ist dafür ein gutes Beispiel, denn vor der Abwendung vom Informel und Tachismus hatte er, wie er selbst schreibt, „[…] eine Zeitlang tachistisch gemalt, mein Atelier sah aus wie ein Schweinestall. Alle meine Experimente versetzten mich in eine unsichere Lage“, erinnert er sich, und diese Erfahrung führte dann zum Entschluss eines radikalen Neubeginns und dem Versuch „etwas zu schaffen das ganz einfach ist, so einfach wie möglich“.[ii]
Experimente liefern also nicht zwingend das ganz Neue, sind eher ein ergebnisoffener Bestandteil künstlerischer Arbeitsprozesse. John Coltrane, Jazz-Legende der 1950er und 1960er Jahre, drückte es so aus: „I’ve got to keep experimenting. I feel that I’m just beginning. I have part of what I’m looking for in my grasp, but not all.“[iii] Neue Themen und ein veränderter Einsatz von Materialien, Instrumenten oder Techniken können darauf beruhen, dass bisherige Versuche und daraus resultierende Erkenntnisse am Ende bewusst, manchmal radikal, verworfen werden. Was aber ZERO-Künstler, Künstlerinnen und viele andere, mindestens bis zur erfolgreichen Setzung künstlerischer „Markenzeichen“[iv], nicht an weiteren Experimenten hinderte.
RW: Waren die Ablehnung der gängigen Kunstrichtungen und diese Art des Experimentierens in der Nachkriegszeit ein ZERO-Alleinstellungsmerkmal?
AJW: Nein, es gab viele radikale künstlerische Initiativen in Deutschland und zahlreichen anderen Ländern. Zum Beispiel: Schon 1948 gründeten Künstler und Künstlerinnen aus drei Ländern die – sehr kurzlebige – Gruppe COBRA (Abkürzung für Copenhagen, Brüssel, Amsterdam). Ihr Programm war es, „Kräfte zu bündeln im Streit, der gegen die verkommenen ästhetischen Auffassungen geführt werden muss, die dem Entstehen einer neuen Kreativität im Weg stehen.“ Uwe M. Schneede schreibt dazu im Katalog der Hamburger Ausstellung COBRA:
[i] Otto Neumaier, Vom Ende der Kunst. Ästhetische Versuche, Wien 1997, S. 10; s. auch ders. (Hrsg.), Grenzgänge zwischen Wissenschaft und Kunst, Münster 2015.
[ii] Heinz Mack zit. n. Heike van der Valentyn (Hrsg.), Heinz Mack, Ausst.-Kat. Kunstpalast, Düsseldorf 2021, S. 41.
[iii] Zit. n. Plattencover zu John Coltrane, My Favourite Things, Atlantic 1361, 1961.
[iv] Vgl. Thomas Ayck im TV-Beitrag „Kunst als Markenzeichen“, bei Titel-Thesen-Temperamente, 3. November 1972, speziell mit Blick auf die Entwicklung von Heinz Mack und Günther Uecker.
„Die meisten dieser Künstler, noch nicht einmal dreißig Jahre alt, waren, ob in Belgien, Dänemark oder den Niederlanden, während des Kriegs von der zeitgenössischen Kunst abgeschnitten. Eine Auseinandersetzung, eine Entwicklung konnte nicht stattfinden. 1945 stehen sie vor dem Nichts.“[i]
[i] Uwe M. Schneede (Hrsg.), COBRA: 1948-51, Ausst.-Kat. Kunstverein in Hamburg, Hamburg 1982.

Einzelne COBRA-Mitglieder beteiligten sich ab 1957 an der Münchner Gruppe SPUR, die gegen den „kanonischen Rang abstrakter Kunst“ protestierte und Verbindungen zur Situationistischen Internationale unterhielt.[i] Zu SPUR stieß auch der spätere Kommunarde Dieter Kunzelmann.
RW: Blieb der kulturelle Aufbruch nach dem Zweiten Weltkrieg auf die bildende Kunst beschränkt?
AJW: Für die Literatur belegt schon die prominente Gruppe 47 das Gegenteil. Oft wurden in dieser Zeit Treffen und Gruppen in Opposition zu bestehenden Institutionen organisiert, teils aber auch mit öffentlicher Unterstützung, wie etwa die schon 1946 entstandenen und die Musikentwicklung bis heute prägenden Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt. Zudem gab es informelle Treffs mit avantgardistischen Ausstellungen, Konzerten, Lesungen oder Tanzdarbietungen, bei denen die Interdisziplinarität beziehungsweise das „intermediale“ Experiment zum Programm gehörten, wie das Beispiel des Ateliers Mary Bauermeister (1934-2023) in Köln zeigt, in dem Persönlichkeiten wie George Brecht (1926-2008), John Cage (1912-1992), Merce Cunningham (1919-2009), Mauricio Kagel (1931-2008), Nam June Paik (1932-2006) oder Karlheinz Stockhausen (1928-2007) im Diskurs standen, ebenso übrigens Heinz Mack und Otto Piene (1928-2014).[ii]
RW: Radikale Experimente waren aber schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und teilweise noch viel früher verbreitet?
AJW: Es gibt in der Tat viele solche und auch weiterführende Beispiele, am bekanntesten sind vielleicht Wassily Kandinskys (1866-1944) synästhetische Experimente mit Farben und Musik oder das suprematistische Gemälde Das Schwarze Quadrat auf weißem Grund, 1915, des Ukrainers Kasimir Malewitsch (1879-1935). Josef Albers (1888-1976) hat dies am Ende wohl inspiriert: Mit seinem auch durch familiäre Traditionen geformten Talent entwickelte er am Bauhaus in Weimar und später in Dessau zunächst mit „Glasstudien“ neue Ausdrucksformen, bis er nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten nach Amerika emigrierte. In einer amerikanischen Zeitschrift wurde der Arbeitsraum von Albers am Black Mountain College, North Carolina,1935 eher „als Labor denn als Atelier“ skizziert und über ihn heißt es:
[i] Vgl. Beate von Mickwitz, Streit um die Kunst, München 1996, S. 56-63.
[ii] Vgl. Historisches Archiv der Stadt Köln (Hrsg.), Das Atelier Mary Bauermeister in Köln 1960-62: intermedial, kontrovers, experimentell, Köln 1993.
„Er studiert wie ein Wissenschaftler, der entschlossen ist, Formen, Werte und Farbbeziehungen zu entdecken, die zuverlässig sind, und durch Ausprobieren das Ungewisse und Falsche auszuschließen.“[i] Bis er, während seiner Lehrtätigkeit in Yale, zu seinem heute gefeierten Hauptwerk fand – Hommage to the Square – vergingen dann allerdings noch etwa anderthalb Jahrzehnte.
[i] Grace Alexander Young in Arts and Decoration, Januar 1935, zit. n. Charles Darwent, Josef Albers – Leben und Werk, Bern, Wien 2020, S. 311.

RW: Legt das Beispiel von Josef Albers nicht nahe, dass künstlerische und wissenschaftliche Experimente vieles gemeinsam haben?
AJW: Die Frage nach Unterschieden oder Gemeinsamkeiten zwischen Experimenten der wissenschaftlichen Forschung und solchen in der künstlerischen Arbeit ist aktuell durchaus umstritten.
Katharina Bahlmann[i] durchforstet Kunsttheorie und Philosophie im Hinblick auf begriffliche Klarheit und Stolpersteine zum künstlerischen Experimentieren. Nach ihr „besteht das künstlerische Experiment in der Arbeit mit Differenzen, darin, die Möglichkeiten der Umlenkung des Blicks zu erforschen und darüber Bedeutung zu verhandeln.“[ii] Sie geht dabei auf Ähnlichkeiten zwischen künstlerischen und wissenschaftlichen Experimenten ein, die jeweils ihr eigenes, auch philosophisch geprägtes „Bezugssystem“ bearbeiten. Dabei bezieht sie sich unter anderem auf Thomas Kuhn[iii], der mit seinen Überlegungen zu den Bedingungen für einen „Paradigmenwechsel“, also den großen Umbruch in der Wissenschaft (und darüber hinaus), bekannt wurde; sie besteht am Ende aber darauf, „dass zwischen der Umgestaltung der wissenschaftlichen Welt und der Kunstwelt ein wesentlicher Unterschied besteht: Die Umgestaltung der wissenschaftlichen Welt wird zu einer Notwendigkeit, wenn immer mehr Fakten gegen eine bestehende Theorie sprechen. Das künstlerische Experimentieren bleibt von widerspruchslogischen Überlegungen hingegen unberührt. Eine künstlerische Sichtweise wird nicht widerlegt oder ungültig; sie verliert allenfalls an Bedeutung.“[iv] Wir dürfen aber annehmen, dass für einen „Paradigmenwechsel“ in der Kunst radikale Sichtweisen, Experimente oder Selbstermächtigungen allein nicht ausreichen.
Auch Nicole Vennemann[v] sieht künstlerische Experimente in einem Gegensatz zu ergebnisorientierten Experimenten in der Wissenschaft als von Künstlern und Künstlerinnen offen gestaltete Forschungshandlungen, innerhalb derer Partizipation möglich ist (wie zum Teil bei den ZERO-Künstlern).
Manche Fachleute scheinen inzwischen allerdings von dieser scharfen Trennung abzurücken. Die Ankündigung der Fachtagung Zufall und Einfall. Medien der Kreativität in Kunst und Wissenschaft der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik (DGAE), November 2023 in Linz, erklärte sie sogar zu „falschen Vorstellungen“[vi], denn:
[i] Katharina Bahlmann, „Das künstlerische Experiment zwischen Fortschritt und Wiederholung“, in: Experimentelle Ästhetik, (Kongress-Akten der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik, Bd. 2), hrsg. von Ludger Schwarte, 2011, http://www.dgae.de/kongresse/experimentelle-aesthetik/ (August 2023).
[ii] Bahlmann (wie Anm. 11).
[iii] Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962.
[iv] Bahlmann (wie Anm. 10).
[v] Vgl. Nicole Vennemann, Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst. Initiierte Ereignisse als Form der künstlerischen Forschung, Bielefeld 2018.
[vi] Zufall und Einfall. Medien der Kreativität in Kunst und Wissenschaft, Deutsche Gesellschaft für Ästhetik, 2023, http://www.dgae.de/dgae-plattform3/ (Juli 2023).
„Ebenso wenig wie ästhetische Formgestaltung aus dem Nichts entsteht, lassen sich wissenschaftliche Tatsachen durch deduktive Verfahren allein erreichen. Zwischen Kunst und Wissenschaft spannt sich vielmehr ein experimentelles Feld auf, in dem das Aleatorische, Serendipität, aber auch materielle Veranlassungen eine weit größere Rolle besitzen als gedacht.“[i]
[i] Deutsche Gesellschaft für Ästhetik (wie Anm. 15).
Mit einem Workshop wurde unter anderem versucht zu ermitteln, welche Rolle „medialen Auslösern“ in innovativen wissenschaftlichen und künstlerischen Prozessen zukommt: „Dass dem Experimentieren mit Verfahren sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft eine derart signifikante Bedeutung zukommt, legt den Schluss nahe, dass sich in beiden Bereichen das gewünschte Ergebnis oft nur indirekt und non-intentional einstellt.“[i]
RW: Solche Veränderungen in den künstlerischen und wissenschaftlichen Strategien sind vor allem im letzten Jahrzehnt so deutlich hervorgetreten. Was sind die Konsequenzen – oder geht es nur um neue Begrifflichkeiten?
AJW: Begriffe in Publikationstiteln auf der Homepage der DGAE[ii] zeigen jedenfalls, dass die Vorstellung vom „forschenden Künstler“ heute offenbar Allgemeingut geworden ist. Da tauchen zum Beispiel „Versuch“, „Transformation“, „Innovation“, „Fluidität“, „Encounter“ oder „Labor“auf. Nachdem vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten die Kunst- und Musikhochschulen ihre Curricula in diese Richtung aktualisiert beziehungsweise noch mehr „verwissenschaftlicht“haben[iii], finden sich heute Selbstbeschreibungen wie „Research Artist“[iv] oft in künstlerischen Biographien und auf Internet-Plattformen. Zudem hofft ein eigenes Genre, die sogenannte „SciArt“[v], mit eher gesellschaftlicher, sozialer und ökologischer Orientierung, auf eine Überwindung traditioneller Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft.
Das alles ist aber weniger neu als manche annehmen und Silvia Krapf will es bereits bei ZERO lokalisieren:
[i] Deutsche Gesellschaft für Ästhetik (wie Anm. 15).
[ii] Vgl. Homepage der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik, http://www.dgae.de/ (August 2023).
[iii] Mick Wilson, Schelte van Ruiten (Hrsg.), SHARE. Handbook for Artistic Research Education, Amsterdam 2013.
[iv] Vgl. www.gloriabenedikt.com (August 2023).
[v] Vgl. https://twitter.com, dort findet sich diese Beschreibung für „SciArt“: „Scientists and artists working together to stimulate the human imagination and make the world we live in more intelligible.“ (August 2023)
„Die Abwendung der Künstler vom subjektiven Ausdruck des abstrakten Expressionismus zeigte sich auch in der veränderten Rolle des Künstlers und der Kunst. So verstanden sie sich nicht mehr als rein intuitiv Schaffende, sondern als Wissenschaftler, die bestrebt waren, ihre Arbeit einer Analyse zu unterziehen. Kunstwerke entstanden aus dem Akt des Experimentierens und Erforschens heraus, Teamwork wurde propagiert.“[i]
[i] Silvia Krapf, „ZERO – Eine europäische Vision“, in: ZERO – Künstler einer europäischen Bewegung. Sammlung Lenz Schönberg 1956-2006, Ausst.-Kat. Museum der Moderne Salzburg, Mönchsberg 2006, S. 17-23, hier S. 22.
RW: Neben „Experiment“ und „Forschung“: Welche anderen Begrifflichkeiten bieten sich an, gerade für künstlerische Arbeitsweisen in den ZERO-Jahren?
AJW: Manches, was in künstlerischen Erprobungsphasen geschieht, könnte mit „(aus)testen“vielleicht sogar besser beschrieben werden als mit dem Begriff Experiment, weil hier – ähnlich wie bei technischen Vorhaben – weniger nach Ursachen oder Störfaktoren und eher nach von Künstlern oder Künstlerinnen erhofften Ergebnissen geforscht wird. Gelegentlich spielt auch der Zufall eine Rolle.[i]
Vor allem in der Musik (Jazz, neue Musik, manche Spielarten des Pop) und der darstellenden Kunst kommt als weitere experimentelle Vorgehensweise die Improvisation hinzu. Spielarten davon finden sich aber auch in der bildenden Kunst, über ZERO, Fluxus und Happening hinaus. So waren seit den 1960er Jahren etwa die österreichischen Aktionisten um Hermann Nitsch (1938-2022) (Orgien-Mysterien-Spiele) oder Otto Muehl (1925-2013) bekannt für ihre schwer kalkulierbaren, teils schockierenden Spektakel, die oft zu Konfrontationen mit der Polizei oder Justiz führten. Muehl hat in einem Gespräch diese experimentelle Praxis des Aktionismus einmal als „therapeutisches Ausagieren“ beschrieben, das er als eine Art Forschung betrieben habe.[ii]
Mack, Piene, Uecker (*1930) und andere in ihrem Umfeld zählten zu jenen künstlerischen Persönlichkeiten, die kulturelle Traditionen hinterfragten und über Versuche oder Experimente alte Images in neue Anschauungen und Bilder transformieren konnten. Dabei handelte es sich aber nicht um ein Alleinstellungsmerkmal von ZERO.
RW: Schon 1966 hat sich ZERO auf Betreiben von Heinz Mack als Gruppe aufgelöst – und doch gibt es ZERO nach wie vor, jedenfalls in der Kunstwelt. Wie lässt sich das erklären?
AJW: Wir sollten bestimmte Begrifflichkeiten im Zusammenhang mit ZERO nicht auf die Goldwaage legen, vielmehr als das verstehen, was sie häufig sind, nämlich Selbstbeschreibungen oder oft sogar spätere Zuschreibungen. Das trifft auch für den jetzt häufig genutzten Terminus „ZERO-Bewegung“ zu: In der Soziologie und Sozialpsychologie werden „Bewegungen“ als kollektive Akteure oder organisierte gesellschaftliche Systeme gesehen, die mit bestimmten Mobilisierungsstrategien und Aktionsformen versuchen, den sozialen Wandel zu beeinflussen, sei es vor- oder rückwärtsgewandt. Bei ZERO fehlte es aber sowohl am Kollektiv wie an der zielgerichteten sozialen Aktion – die Initiatoren verstanden sich als durchaus konkurrierende Individuen mit eigenständigen künstlerischen Zielen und Handschriften, die zudem, anders als der Fluxus, in alter künstlerischer Tradition dem Werkbegriff verpflichtet blieben. Eventuell könnte man ihre Ablehnung überkommener Strukturen und Denkweisen noch als Indiz für eine „Bewegung“ werten, für die aus Sicht der Systemtheorie Proteste als „Elementaroperationen“[iii] gelten. Piene, Mack und Uecker nahmen zwar in ihrer „Mobilisierungskommunikation“[iv] für Kunstevents den Wunsch oder sogar Hunger vor allem jüngerer Leute in der Nachkriegsbevölkerung nach sozio-kultureller Veränderung teilweise auf, doch ging es zum Beispiel bei der ZERO-Demonstration am 5. Juli 1961 in der Düsseldorfer Altstadt nicht um politischen oder sozialen „Protest“, sondern primär – und damit selbstreferentiell – um PR (Public Relations) für die Publikation ZERO 3 vor der Galerie Schmela.[v]
RW: Welcher andere Begriff wäre dann für eine Beschreibung der ZERO-Zusammenarbeit besser geeignet?
AJW: Günther Uecker lehnte sogar Bezeichnungen wie „Gruppe“ oder „Zusammenschluss“ ab, weil die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern und Künstlerinnen damals so „offen“ und informell ablief.[vi] Auch deshalb könnte man vielleicht ganz neutral von einer ZERO-Initiative oder einer – anfangs eher regionalen, dann bald europaweiten – künstlerischen „Plattform“sprechen. Heute würde eventuell sogar der Begriff einer „Community“ passen[vii], bei der es sich um eine Gruppe mit gemeinsamen oder ähnlichen Interessen, Werten oder Vorstellungen handelt, in der regelmäßig Erfahrungen ausgetauscht werden und wo die Beteiligten für bestimmte Ziele aktiv werden. Zu gemeinsamen Zielen kann, legitimer Weise der Wunsch gehören, bekannter zu werden, sich einen Markt im oft für Neues verschlossenen Kunstbetrieb zu erobern und diesen dadurch nachhaltig zu verändern, was bei ZERO wichtige Motive für die Zusammenarbeit waren, wie Interviews mit den Protagonisten nahelegen. Ein durchschlagender Erfolg auf dem Kunstmarkt konnte sich zwar in den wenigen gemeinsamen Jahren noch nicht einstellen, dafür aber umso mehr im Anschluss an die Trennung 1966, nach der die ZERO-Initiatoren individuell Karriere in Europa und in den USA machten.
RW: Das wirft ein Schlaglicht auf die kulturelle Situation 15–20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie müssen wir uns das „Kunstklima“ in dieser Zeit vorstellen?
AJW: Im Grunde existierte im ersten Jahrzehnt der deutschen Nachkriegszeit ein für radikal Neues offener Kunstmarkt praktisch noch nicht – in der Literatur waren da manche Verlage schon mutiger, wie anfangs etwa Rowohlt mit seinen „Rotationsromanen“ auf Zeitungspapier. Ebenso wenig gab es noch kaum eine solche Bestrebungen fördernde Kulturpolitik und auch die meisten einschlägigen Preise oder Stipendien entstanden erst später.[viii] Und der Mangel beschränkte sich keineswegs nur auf das Materielle, vielmehr gab es auch große sozio-kulturelle Defizite. Der Kunstwissenschaftler und Psychologe Friedrich Wolfram Heubach geißelte ästhetische Tendenzen und das intellektuelle Klima der 1950er Jahre als „miefige Verdrängungskultur“ mit der „kaum zufälligen Koinzidenz von Geschichtsverleugnung und Informel, Konflikt-Tabuisierung und Abstraktion, Intellektuellenfeindlichkeit und École de Paris“, begleitet von „Beschwörungen eines obskuren abendländischen Erbes“, von „militanter Bigotterie“ und der Suche nach „Eigentlichkeit“ oder „Tiefe“.[ix] Laut Heubach waren daher neue, gegen solche Verhältnisse gerichtete Gruppierungen wie Happening, Fluxus und Situationismus ebenfalls kein Zufall. Eine Ausstellung im Wuppertaler Von der Heydt-Museum[x] legte 2022 nahe, dass ZERO als experimenteller Vorreiter dieser und weiterer künstlerischer Initiativen in jener Zeit gesehen werden könnte.
[i] So bei Heinz Macks Entdeckung des Lichtreliefs durch den versehentlichen Fußtritt auf eine Aluminiumfolie, vgl. Aussage von Mack, in Meister (wie Anm. 1), S. 61.
[ii] Zum Verhältnis Kunst und Psychoanalyse s. a. Harald Falckenberg (Hrsg.), Otto Mühl. [sic] Retrospektive, Frankfurt 2005, S. 29-31.
[iii] Vgl. Niklas Luhmann, Protest, Frankfurt a. M. 1996.
[iv] Vgl. Heinrich W. Ahlemeyer, „Was ist eine soziale Bewegung? Zur Distinktion und Einheit eines sozialen Phänomens“, in: Zeitschrift für Soziologie, Bd. 18, Nr. 3, 1989, S. 175–191.
[v] Otto Piene, in Meister, (wie Anm. 1), S. 35 f.
[vi] Günther Uecker, in Meister, (wie Anm. 1), S. 77.
[vii] Hier als „analoge“ Gruppierung mit unterschiedlichen künstlerischen Interessen und Handschriften verstanden, damit also abzugrenzen von heutigen „virtual communities“, die sich oft über globale Herausforderungen verständigen, vgl. etwa Oliver Basciano, „What Does the ‚Global South‘ Even Mean?“, in: ArtReview, 23. August 2023, ebenso natürlich von künstlerischen „Kollektiven“, à la documenta fifteen.
[viii] Vgl. Karla Fohrbeck, Andreas Joh. Wiesand (Hrsg.), Handbuch der Kulturpreise und der individuellen Künstlerförderung, Köln 1978, liefern dazu Daten für den Zeitraum von 1945 bis in die späten 1970er Jahre.
[ix] Friedrich Wolfram Heubach, „Die Kunst der sechziger Jahre – Anmerkungen in ent/täuschender Absicht“, in: Die 60er Jahre. Kölns Weg zur Kunstmetropole. Vom Happening zum Kunstmarkt, hrsg. von Wulf Herzogenrath, Gabriele Lueg, Ausst.-Kat. Kölnischer Kunstverein, Köln 1985, S. 113 f.
[x] Vgl. ZERO, POP und Minimal – Die 1960er und 1970er Jahre, Von der Heydt-Museum, Wuppertal 10.04.2022 – 16.07.2023.
RW: Liest man die Kataloge der vielen, auch internationalen ZERO-Ausstellungen durch die Jahrzehnte, fällt auf, dass die Kunstwissenschaft und Kunstkritik, darunter viele Museumsleute sich schwertun, so etwas wie eine gemeinsame „ZERO-Handschrift“ zu identifizieren.
AJW: Die Ausstellung ZERO aus dem Frühjahr 2015, mit Arbeiten von rund 40 Künstlern (und nur 3 Künstlerinnen!), im Berliner Martin-Gropius-Bau und im Stedelijk Museum, Amsterdam, gilt immer noch als Meilenstein auf dem Weg zu einem besseren Verständnis dieser Kunstinitiative. Die Ausstellung verdeutlichte, dass dieses Verständnis weniger – wie bei vielen anderen künstlerischen Gruppierungen des 20. Jahrhunderts – über Gemeinsamkeiten in Sujets und Techniken oder Aktionsformen der Beteiligten zu gewinnen ist. Vielmehr konstatierte der Ausstellungskatalog, trotz einiger konzeptioneller Gemeinsamkeiten[i], eine große „Heterogenität“ der Werkkomplexe. Auch ein in Berlin parallel zu der Schau gemeinsam mit der Akademie der Künste veranstaltetes wissenschaftliches Symposium tat sich schwer damit, schlüssige Analyseinstrumente für ZERO-Kunst zu entwickeln. In einem Bericht von Barbara Wiegand für Deutschlandfunk Kultur[ii] wurde die Vorgehensweise der Kuratoren der Ausstellung skizziert, die etwa 200 Werke nach Themen wie Farbe, Licht, Struktur oder Bewegung geordnet hatten und durch verschiedene Forschungserträge zu demonstrieren suchten, was ZERO ausmacht:
[i] Darunter könnte z. B., wie es Barbara Könches beim Workshop ZERO-ABC am 2. September 2023 in Düsseldorf formulierte, ein „neu gewonnenes räumliches Denken“ in der Kunst verstanden werden.
[ii] Barbara Wiegand, „ZERO-Kunst im Martin Gropius Bau. Aus der Leere wollten sie Neues schaffen“, in: Deutschlandfunk, 20.03.2015, https://www.deutschlandfunkkultur.de/zero-kunst-im-martin-gropius-bau-aus-der-leere-wollten-sie-100.html (August 2023).
Im gleichen Bericht wird Heinz Mack zitiert, der davon spricht, dass er und Otto Piene schon früh bemerkten, wie wenig ihre, auch philosophische, Ausbildung dafür taugte, wirklich Neues zu schaffen. Das habe bei ihnen zu der Erkenntnis geführt:
„Wir müssen das alles vergessen, was wir gelernt haben. Und wir müssen einen Versuch machen, ganz von vorne zu beginnen, den Anfang suchen. Und das in einer Situation, wo der Horror vacui, die Leere um uns herum war. In dieser Leere erste Entdeckungen zu machen, Experimente zu machen und einen neuen Anfang zu finden, das war ein ganz wesentliches Moment.“[i]
[i] Zit. nach Wiegand (wie Anm. 34).
RW: Zielen künstlerische Tests oder Experimente allein auf ästhetische Innovationen oder nehmen sie manchmal auch Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungen?
AJW: Der Einfluss von Künstlern, Künstlerinnen und Intellektuellen auf gesellschaftliche – dabei nicht nur auf kulturelle, sondern auch auf wirtschaftliche und technische – Entwicklungen sollte nicht unterschätzt werden: Sie agieren oft als Impulsgebende an Schnittstellen von Kommunikationsprozessen und sind gleichzeitig Schöpfer neuer Botschaften und Anschauungen mit der Fähigkeit, diese in ästhetische Formen zu übersetzen. Ihr Einfluss kann entscheidend sein, wenn es einerseits darum geht, neue technische Mittel zu erproben und andererseits darum, alternative gesellschaftspolitische Perspektiven aufzuzeigen, heute zum Beispiel im Hinblick auf die Bedeutung und die Folgen der „Globalisierung“ oder, in früheren Zeiten, bei überfälligen politischen Veränderungen, die auch die Köpfe und Herzen verschiedener Bevölkerungsschichten erreichen müssen: Die politischen Umbrüche in Mittel- und Osteuropa seit etwa 35 Jahren liefern viele Beispiele für solche „Geburtshilfe“ aus Kunst und Literatur.
Die Lage in Deutschland in den 1950er Jahren, kurz nach dem Ende des NS-Regimes und der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, könnte ein ähnliches Szenario nahelegen: War hier nicht ein Neubeginn fällig, der hergebrachte politische Anschauungen und ebenso unklare künstlerische Positionen radikal in Frage stellt? Dieser Neubeginn gelang damals, aufs Ganze gesehen, nur teilweise, Adenauers Motto „Keine Experimente“ war angesagt – obwohl die schon wenige Jahre nach dem Krieg einsetzende Planung einer deutschen Wiederbewaffnung schon so etwas wie ein großes Experiment darstellte ….

RW: Wie entstehen solche Innovationen durch Kunst?
AJW: Gesellschaftliche Veränderungen können von „ästhetischen Irritationen“ bis hin zum Umsturz traditioneller Bilder und Überzeugungen abhängen, die Innovationen im Wege stehen. Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Michael Hutter hat solche Experimente und Prozesse über Jahrzehnte erforscht. Neben den bekannten künstlerischen, wirtschaftlichen und technologischen Innovationen wie denen der Bauhaus-Bewegung, auf die sich auch Mack[i]und andere im ZERO-Umfeld bezogen, verweist Hutter beispielsweise auf künstlerische und literarische Erfindungen vom Mittelalter über die Renaissance bis zum 19. Jahrhundert und ihre Rolle für unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit, die „zu den grundlegendsten kognitiven Konventionen in der menschlichen Interaktion“ gehört.[ii] Seinen Beobachtungen und denen anderer Forschenden zufolge leisteten etwa Künstler wie Ghirlandaio (1448-1494) oder Velásquez (1599-1660) entscheidende Beiträge zu einem Weltbild, in dem die traditionelle Unterscheidung zwischen einer himmlischen und einer irdischen Sphäre überwunden werden konnte. Die künstlerische Erfindung der Zentralperspektive ermöglichte nun neue Techniken, zum Beispiel in der Geometrie, im Bauwesen und in der Raumplanung; wirtschaftlich motivierte Expeditionen – und dabei allerdings auch koloniale Eroberungen – rund um den Globus konnten vorbereitet werden.
RW: Heute hat die immer rascher fortschreitende Entwicklung neuer Technologien eine große Bedeutung in gesellschaftlichen Umbrüchen. Spielen auch da Künstler und Künstlerinnen eine Rolle?
AJW: Einige Beobachter kommen – wie zuvor am Beispiel der DGAE angedeutet – zum Schluss, dass nur Kunst, Wissenschaft und Technologie gemeinsam die Grundlage für Kreativität, Innovation und Produktivität in der Gesellschaft bilden können. Von den Beteiligten manchmal gar nicht intendierte Innovationen in der Entwicklung und künstlerischen Validierung neuer Technologien hat es im Laufe der Geschichte immer wieder gegeben. Nur gelegentlich versuchten Kunstschaffende, dieses Potenzial ihrer Arbeit auch der Politik zu verdeutlichen; so nennt Günter Drebusch (1925-1998) vom Deutschen Künstlerbund zum Beispiel Willi Baumeister (1889-1955), der die Siebdruck-Technik um 1951 zuerst in Deutschland bekannt gemacht habe und fährt fort: „Wer denkt daran, dass die Anwendung von Silikonkautschuk und Hartschaum in der modernen Gießereitechnik ursprünglich von Bildhauern für komplizierte Gusstechniken entwickelt wurde? Welchem Architekten oder Werbefachmann fallen schon Raoul Hausmann und John Heartfield ein, wenn sie sich der Fotomontage bedienen? Wen interessiert es noch, dass die heute verbreitetste Drucktechnik, das Offset-Verfahren, im Grunde auf einer Erfindung beruht, die von Künstlern gemacht und fortentwickelt wurde?“. [iii]
Andere heben die innovative Rolle der Kreativen bei der künstlerischen Erprobung „neuer Medien“ hervor, die heute auch nicht-lineare Formen der Kommunikation ermöglichen.[iv]Führende Unternehmen des Kreativsektors haben dieses Potenzial künstlerischer Forschung und Produktivität seit einiger Zeit erkannt, so etwa Edgar Bronfman, CEO von Warner, auf der Freedom Foundation Convention in Aspen 2005: „Technology shapes music and music influences technology. The best proof for that is the iPod.“[v] Wobei dieses Beispiel aber ironischerweise verdeutlicht, dass manche technologischen Innovationen und darauf beruhende Konsumgüter eine relativ kurze Halbwertzeit haben können, während damit verknüpfte künstlerische Innovationen durchaus länger überleben.
RW: Kann man ZERO in solche Prozesse der Inwertsetzung und teilweise auch der Popularisierung neuer Technik einordnen?
AJW: Otto Piene, der 1972 Professor für Umweltkunst am Massachusetts Institute of Technology (MIT) wurde und seit 1974 dort das Center for Advanced Visual Studies (CAVS) leitete, kommt unter den ZERO-Initiatoren dieser – heute nicht mehr exotischen – künstlerischen Rolle durch seine Experimente und Strategien, Kunst mit technischen Innovationen zu verbinden, wohl am nächsten. Dies war im Kunst-Diskurs allerdings lange verpönt, woran die Zeitzeugin Marita Bombek (Universität Köln) erinnert: „Das war ein Tabu. Darüber habe ich damals immer mit ihm gestritten“, und sie fährt fort: „Er dachte nicht nur disziplinübergreifend, sondern handelte auch so.“[vi]
[i] „Im Bauhaus dachte man konstruktiv und positiv über ein harmonisches Zusammenleben in der Zivilgesellschaft nach. Dass Kunst nicht nur für Einzelgänger und romantische Elfenbeinturm-Bewohner galt, sondern gesellschaftliche Imperative und moralische Forderungen stellen konnte, hat mich am Bauhaus sehr beeindruckt. Nach all den Kriegsereignissen war die Klarheit dieser Bildsprache mehr als willkommen.“ Heinz Mack, zit. n. Meister (wie Anm. 1), S. 52.
[ii] Michael Hutter, „Structural Coupling between Social Systems: Art and the Economy as Mutual Sources of Growth“, in: Soziale Systeme, Bd. 7, Nr. 2, 2001, S. 290-312, bietet einen Überblick zu diesen Forschungsergebnissen.
[iii] Vortrag bei der Tagung „Kunst als Wirtschaftsfaktor“ der CDU/CSU Bundestagsfraktion im Juni 1983, zit. n. Karla Fohrbeck, Andreas Joh. Wiesand, Von der Industriegesellschaft zur Kulturgesellschaft?, München 1989, S. 81.
[iv] Vgl. Dieter Daniels, Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet, München 2002.
[v] Zit. nach Andreas Joh. Wiesand, Michael Söndermann, The „Creative Sector“ – An Engine for Diversity, Growth and Jobs in Europe. An overview of research findings and debates prepared for the European Cultural Foundation, Amsterdam 2005, S. 15.
[vi] Marita Bombek zit. nach Robert Filgner, „‚Ja, ich träumte von einer besseren Welt – sollte ich von einer schlechteren träumen?‘“, in: Kölner Universitätsmagazin, Nr. 2, 2015, S. 50-51, hier S. 50.
Stephen Wilson, selbst vom MIT, analysiert diese künstlerischen Potenziale so:
„At the early stages of an emerging technology, the power of artistic work derives in part from the cultural act of claiming it for creative production and commentary. In this regard, the early history of computer graphics and animation in some ways mimics the early history of photography and cinema.“[i]
[i] Stephen Wilson, Information Arts. Intersections of Art, Science and Technology, Cambridge, London 2002, S. 10.
RW: Zum Abschluss die Frage: Gab es auch eine „europäische Stunde ZERO“?
AJW: Tatsächlich könnte man als eines der wichtigsten gemeinsamen „Experimente“ der deutschen ZERO-Initiatoren vielleicht ihre – schnell geglückte – europäische Vernetzung ansehen. Das war ja keine Selbstverständlichkeit in der Nachkriegszeit, in der die NS-Jahre noch nicht wirklich aufgearbeitet waren. Sie hatten keine Scheu, sich, mit dem Ziel einer größeren Sichtbarkeit ihrer Kunst, mit Kollegen (und nur wenigen Kolleginnen) aus vielen anderen Ländern auszutauschen und auch zu verbünden, vor allem für Ausstellungen in verschiedenen Orten Europas. Das wurde dann sowohl von ihnen selbst im ZERO-Manifest von 1963 wie später erneut in einer Rückschau von Thekla Zell im Katalog der Berliner Ausstellung von 2015 als „Wanderzirkus ZERO“ apostrophiert. Allerdings sind, vielleicht abgesehen von ähnlichen Entwicklungen in den Niederlanden, die wenigen gemeinsamen Jahre der ZERO-Protagonisten wohl eher als Phänomen der deutschen Kunstszene in der Mitte des 20. Jahrhunderts einzuordnen. Trotzdem konnte ZERO danach, über die Jahrzehnte hinweg, seine Bedeutung als eine spezielle Düsseldorfer „Dachmarke“ mit internationaler Ausstrahlung behaupten und weiterentwickeln.
Zum Experiment

Endnotes
F Feuer
Das Element Feuer in den Werken der ZERO-Künstler*innen
Sophia Sotke

Den größten Wald- und Buschbränden in der Geschichte der Europäischen Union fielen in diesem Sommer über 174.000 Hektar Land in Griechenland zum Opfer.[i] Ebenso erlebte Kanada im Jahr 2023 die verheerendste Waldbrandsaison seit Beginn der Aufzeichnungen.[ii] Diese Katastrophen werden unter anderem bedingt durch Hitzewellen, durch die menschengemachte globale Erwärmung verstärkt, wobei die ökologischen Folgen für Flora und Fauna verheerend sind. In diesem Zusammenhang erleben wir in unserer hoch technologisierten Zivilisation das Feuer als überwältigende, elementare Naturgewalt, so wie es die Menschen in der Antike erlebt haben müssen. Auch die Christen nahmen das Naturelement über Jahrhunderte als „Strafe Gottes“ wahr, als Fegefeuer und Glut der Hölle.[iii] Gebändigt und gehütet ist das Feuer aber die Basis von Technik und Kultur: als Herd- und Schmiedefeuer und vor allem als Lichtquelle. Diese Duplizität im Charakter der Elemente beschrieb bereits Ovid (43 v. Chr.-17 n. Chr.) in den Metamorphosen (1. Jh. n. Chr.). Seine naturphilosophischen Betrachtungen beschreiben die Natur als
[i] Vgl. Seasonal Trend for European Union – Fires mapped in EFFIS of approx. 30 ha or larger, in: Copernicus. Europe’s eyes on Earth. https://effis.jrc.ec.europa.eu/apps/effis.statistics/seasonaltrend(6.10.2023).
[ii] Vgl. Dan Stillman, „This is Canada’s worst wildfire season on record, researchers say“, in: The Washington Post, 15. September 2023. https://www.washingtonpost.com/weather/2023/09/13/canada-wildfire-smoke-climate-change/(6.10.2023).
[iii] Gernot Böhme, Harmut Böhme, Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 2014, S. 287.
Einer Generation angehörig, deren Aufwachsen auch von der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs (1939-1945) bestimmt war, erlebten die ZERO-Gründer Heinz Mack (*1931) und Otto Piene (1928-2014) während ihrer Kindheit und Jugend das Element Feuer in seinen negativen Implikationen. So machte Mack ein Foto mit seiner „Ziehharmonika-Agfa“, als die Stadt Krefeld bombardiert wurde. Dies führte – unbewusst, so Mack – zur späteren Zeichnung Schwarze Strahlung, 1960, deren Kohleschraffuren wie die Lichtstreifen der Flakscheinwerfer in die Höhe ragen.[i] Und als Piene seine Lichtballette entwickelte, berief er sich auf seine Erfahrungen als jugendlicher Luftwaffenhelfer[ii]: „Wir haben es bisher dem Krieg überlassen, ein naives Lichtballett für den Nachthimmel zu ersinnen, wie wir es ihm überlassen haben, den Himmel mit farbigen Zeichen und künstlichen und provozierten Feuerbrünsten zu illuminieren.“[iii]
[i] Heinz Mack, Leben & Werk, Köln 2011, S. 54-55, hier S. 68.
[ii] Thomas Kellein: Zwischen Sputnik-Schock und Mondlandung. Künstlerische Großprojekte von Yves Klein zu Christo, Stuttgart 1989, S. 62.
[iii] Otto Piene, „Wege zum Paradies“, in: ZERO 3, hrsg. von Heinz Mack, Otto Piene, Düsseldorf 1961, o. S.
In der ZERO-Kunst finden wir instabile und flüchtige Substanzen wie das Feuer, den Rauch, und darüber hinaus auch Eis, Wasser, Nebel, Wind und Licht, womit die Künstler eine „Immaterialisierung“ ihrer Werke anstrebten.[i] Sie erklärten die vier Elemente zu den Materialien ihrer Kunst, um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur zu harmonisieren.[ii]Diese Absicht veranschaulichten Mack und Piene in der Publikation ZERO 3, deren erste Seiten Abbildungen der Sterne im Nachthimmel, der Sonne hinter einem Wolkenschleier, der Meeresoberfläche mit Reflexen des Sonnenlichts, einer geschlossenen Schneedecke sowie Sanddünen in der Wüste zeigten.[iii] Mack, Piene, Uecker und ihren Künstlerfreund*innen ging es darum, den gesamten Kosmos zu berühren, was ihre Werke, Texte und Projekte verdeutlichen.
[i] Ulrike Schmitt, Der Doppelaspekt von Materialität und Immaterialität in den Werken der ZERO-Künstler 1957–67, Diss. Köln 2013, S. 12.
[ii] Caroline de Westenholz, „ZERO ON SEA“, in: ZERO 5. The Artist as Curator. Collaborative Initiatives in the International ZERO Movement, 1957-1967, hrsg. von Tiziana Caianiello, Mattijs Visser, Ghent 2015, S. 271-395, hier S. 376.
[iii] Heinz Mack, Otto Piene (Hrsg.), ZERO 3, Düsseldorf 1961.
Ein in diesem Zusammenhang wichtiger Text ist das Sahara-Projekt von Heinz Mack, konzipiert 1958/59 und erstmals publiziert 1961 in ZERO 3. Mack entwarf darin einen Jardin Artificiel mit dreizehn Stationen, in denen seine skulpturalen Objekte mit dem Raum und dem Licht der Wüste interagieren. Das Projekt beruht auf der Überlegung, dass künstlerische Artefakte, die das Licht auf ihrer Oberfläche fangen, sammeln und potenzieren, in einem immensen, lichtdurchfluteten Raum wie der Sahara zu vibrierenden „Lichterscheinungen“ werden. Im Sahara-Projekt finden sich viele Vorschläge zur Integration von Feuer in den Jardin Artificiel: Raster aufsteigender Rauch- und Feuersäulen, Katapulte des Lichtes und künstliche Sonnen.[i]
[i] Vgl. Heinz Mack, Das Sahara-Projekt, 1959 (Archiv Mack).
In den Jahren nach der Konzeption seines Projektes reiste Mack mehrfach in die Sand- und Eiswüsten der Welt, um seinen Jardin Artificiel zu verwirklichen, wobei seine Expeditionen in die größten Sandmeere der Sahara, das Grand Erg Oriental sowie Occidental, besonders hervorzuheben sind. In Tunesien drehte er mit Hans Emmerling (1932-2022) und Edwin Braun 1968 Teile des vielfach ausgezeichneten Films Tele-Mack und 1976 fand die Expedition in künstliche Gärten nach Algerien statt, welche der Fotograf Thomas Höpker (1936-2024) für den Stern und in einem opulenten Bildband dokumentierte.[i]
[i] Tele-Mack, 1968, Regie: Hans Emmerling, Heinz Mack, Kamera: Edwin Braun, 45 Min., 40 Sek., Institut für Moderne Kunst Nürnberg, produziert von Telefilm Saar GmbH im Auftrag des Saarländischen Rundfunks und WDR/Westdeutsches Fernsehen; Axel Hecht, „Heinz Mack / Thomas Höpker. Expedition in künstliche Gärten“, in: SternNr. 45 (Jg. 29), 4.-10.11.1976, S. 36-56 (Archiv Mack); Henri Nannen (Hrsg.), Expedition in Künstliche Gärten, Hamburg 1977.
1997 realisierte Mack weitere Stationen des Sahara-Projektes in der Wahiba-Wüste des Oman. Er installierte dort eine 14 Meter hohe Lichtstele aus 21 Aluminiumreflektoren, die durch dünne Nylonseile verspannt und gehalten wurden. Er positionierte die Stele auf dem Kamm einer hohen Sanddüne und wartete die Abenddämmerung ab, um das perfekte Foto zu machen. Während des Sonnenuntergangs, der in der Wüste nur wenige Minuten dauert, gelang es Mack, eine unverwechselbare, einmalige Lichterscheinung fotografisch festzuhalten. Die untergehende Sonne wurde in jedem der 21 Reflektoren als roter Lichtball vielfach multipliziert, während Himmel und Sand sich im gleichen Ton einfärbten.[i] In ihrer Bezogenheit auf das rote Abendlicht steht auch die Große Lichtstele, wie Mack sie in der Wahiba Wüste fotografierte, im Zusammenhang mit dem Element Feuer, mit der Glut der Sonne, die den Rhythmus von Tag und Nacht bestimmt, die Leben, Licht und Farbe auf unserem Planeten bedingt.
[i] Uwe Rüth: „Heinz Mack und sein Sahara-Projekt“, in: MACK – Licht der Wüste, Licht des Eismeers, hrsg. von ders., Marl 2001, S. 17-62, hier S. 34.

Das Foto der Großen Stele in der Wahiba-Wüste bringt ferner den medialen Aspekt des Sahara-Projektes zum Vorschein. Mack brachte die Spiegelreflektoren in die Wüste, installierte dort seine Lichtstele und fotografierte sie. Danach deinstallierte er die Stele und transportierte das Material in Einzelteilen zurück ins Atelier.[i] Die Lichtstele wurde lediglich für einen kurzen Zeitraum in der Wahiba-Wüste zur visuell erfahrbaren Realität, während die Rezeption der Betrachter*innen allein über die fotografische Wiedergabe erfolgt.
[i] Sophia Sotke, Mack – Sahara. Von ZERO zur Land Art – Das Sahara-Projekt von Heinz Mack, 1959-1976, München 2022, S. 104.
Als 1969 Tele-Mack im Westdeutschen Rundfunk ausgestrahlt wurde, plädierte Mack, der Filmsei keine Reportage über eine Kunstausstellung, sondern der Film selbst sei die Ausstellung: „Premiere und Ausstellungsdauer sind identisch.“[i] Es ginge darum, Kunstwerke ausschließlich und nur einmalig im Fernsehen zu zeigen. „Alle Objekte, die ich in dieser Ausstellung zeigen werde, können nur durch das Fernsehen dem Publikum bekanntgemacht werden und werden auch von mir wieder zerstört“[ii], so Mack.
[i] Mack zit. n. Eo Plunien, „Silberstelen in der Sahara“, in: Unbekannt, 23.1.1969 (Archiv Mack).
[ii] Mack zit. n. Barbara Hess, „Abendschau. Drei Filme über Kunst“, in: Ready to Shoot. Fernsehgalerie Gerry Schum, hrsg. von Ulrike Groos u. a., Köln 2003, S. 9-21, hier S. 19.
Im Film Tele-Mack wird ein weiteres Werk von Mack gezeigt, das gleichsam die lichtvolle und destruktive Kraft des Feuers nutzte. Erstmals 1963 für die Messe Foire de Paris entworfen, bestand das Feuerschiff aus einem Floß mit einem dachstuhlartigen Holzgerüst, das auf dem Wasser in Aktion geriet. Es verband die Elemente Feuer und Wasser, wobei das Wasser zur Reflexionsfläche des Feuers wurde. Auf dem Holzgerüst waren Feuerwerkskörper montiert, an den Streben waren mit Phosphor getränkte Elemente angebracht und auf dem First wurden Wannen voller Benzin zu einem Feuerkamm entzündet. Mack hatte eine Choreografie des Feuers vorbereitet, die er mittels Fernsteuerung präzise bestimmte. Auf einem Baggersee nahe Mönchengladbach inszenierte Mack das Feuerschiff für den Film Tele-Mack, indem er es an einer Schnur auf einen See gleiten ließ, um die Pyrotechnik darauf stündlich zu entzünden. „Aber es war ein feuchter Abend, und die Fernzündung funktionierte nicht“, erinnerte sich Hans Emmerling. „So mussten wir das Schiff wieder an Land ziehen und mit einer Fackel anzünden. Als alles brannte, haben wir es mit drei Kameras aufgenommen.“[i] Als Konstruktion, die zunächst ein Lichtspektakel aufführte, um sich schließlich selbst zu zerstörten, ist das Feuerschiff ein immaterielles Lichtereignis, welches die Materialität des Werks überwindet.[ii] „Obwohl es so scheinen mag, dass ich meine Arbeit ausschließlich dem Licht gewidmet habe“, schrieb Mack 1966, „so muss ich jedoch erklären, dass es allein meine Absicht stets war und noch immer ist, Gegenstände zu machen, deren Erscheinungsweise immateriell ist […].“[iii] Neben Licht und Bewegung dient ihm hierzu das Feuer.
[i] Hans Emmerling im Gespräch mit Annette Bosetti, in: Jürgen Wilhelm (Hrsg.), Mack im Gespräch, München 2015, S. 55-62, hier S. 60.
[ii] Das Feuerschiff wurde 1968 für den Film Tele-Mack auf einem Baggersee nahe Mönchengladbach aufgezeichnet, weitere Aufführungen fanden 1979 bei Lichtfesten in Duisburg und Stuttgart, sowie 2010 im Düsseldorfer Medienhafen statt.
[iii] Heinz Mack, Licht ist nicht Licht, 1966 (Archiv Mack), S. 1.

1960 veranstaltete Mack eine Hommage à Georges de La Tour in der Galerie Diogenes, Berlin. Ein Bild des Barock-Künstlers, in dessen Malerei das Kerzenlicht omnipräsent ist, wurde an die Wand projiziert.[i] Mack zeichnete die Konturen der dargestellten Kerze nach und malte sie mit phosphoreszierender Farbe aus. Nach der Eröffnungsrede schaltete er die Projektion des Bildes aus, sodass nur noch das phosphoreszierende Wandbild der Kerze in der Dunkelheit zu sehen war. Darüber hinaus stellte er 200 brennende Kerzen in strenger, serieller Ordnung auf einen zwei Quadratmeter großen Spiegel im Souterrain der Galerie. „Am Abend der Vernissage füllten etwa ebenso viele Menschen die Souterrain-Räume und es entstand bald eine große Wärme“[ii], erinnerte sich Mack. Mittels eines weißen Tischtuchs, das zwei junge Frauen zunächst in eine Wasserschale tauchten, wurde das Fakir ähnliche „Feuerbrett“ gelöscht, indem sie das Tuch über die wabernde, vibrierende Feuerfläche spannten, um es dann in dem Moment fallen zu lassen, als Mack beim Countdown „ZERO“ ausrief. „In der so unvermittelt eintretenden Dunkelheit projizierte unser inneres Auge ein irreales Nachbild.“[iii] Die Kerzeninstallation wiederholte Mack in abgewandelter Form 1966 in der Galerie Schmela in Düsseldorf.
[i] Das Werk „Die Auffindung des Heiligen Sebastian“, um 1649, ist eine Kopie des Werkes von Georges de la Tour in der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin.
[ii] Heinz Mack, „Kommentar zur ‚1. Hommage à Georges de la Tour‘ in der Galerie Diogenes, Berlin 1960“, in: MACK. lichtkunst, Köln 1994, hrsg. von Kunstverein Ahlen e.V., S. 180-181, hier S. 181.
[iii] Mack (wie Anm. 21).
Auch Otto Piene, dessen „Feueratelier“ sich in der ZERO foundation befindet, nutzte die destruktive Kraft des Feuers als Strategie künstlerischer Kreation. 1957 hatte er begonnen, Schablonen mit gestanzten Löchern zu verwenden, um Farbe auf die Leinwand aufzutragen.[i]An diese Rasterbilder knüpften ab 1959 seine Rauchzeichnungen an, für die Piene den Rauch eines Kranzes von Kerzen oder Petroleumlampen durch Raster auf das Papier „siebte“. Der durch die Löcher schwelende Rauch hinterließ eine punktförmige Struktur auf der Oberfläche, die ein seriell strukturiertes Spiel von Licht und Schatten evozierte. Piene verwendete darüber hinaus eine Technik des Gelierens der Farbe auf der Leinwand mithilfe von Feuer. Er entzündete auf die Leinwand aufgetragene Lacke, um eine dichte schwarze Oberfläche mit subtilen Farbvariationen und manchmal figurativen Formen zu schaffen. Seine Feuerbilder zeigen die Krusten und Blasen, welche die Hitze auf der Leinwand hinterließ, und werden häufig von runden Formen dominiert, die an die Sonne oder den Mond erinnern. Poetische Titel wie Die Sonne brennt (1966) nehmen Bezug auf die Gestirne und die Elemente.[ii]
[i] Vgl. Edouard Derom: „The New Definition of Painting”, in: ZERO. Countdown to tomorrow, 1950s-60s, hrsg. von Solomon R. Guggenheim Museum, New York 2014, S. 88.
[ii] Vgl. Susanne Rennert, Stephan von Wiese (Hrsg.), Otto Piene, Retrospektive, 1952-1996, Ausst.-Kat. Museum Kunstpalast, Köln 1996, S. 51; vgl. auch Edouard Derom: „Burning, Cutting, Nailing”, in: Solomon R. Guggenheim Museum (wie Anm. 23), S. 142.


Manfred Schneckenburger (1938-2019) bezeichnete Piene als „Magier“ der Elemente Feuer, Luft und Licht. Piene sei „der präziseste künstlerische Stratege für die diversen Kreuzungen des Tafelbildes mit den neuen Verfahren, Licht, Feuer und Rauch […].“ Seine Bilder seien „Manifestation der Elemente selbst“, denn Piene erkunde die natürlichen Schmelzprozesse von Pigment, Rauch, Fixativ und Feuer. Daraus entstünde eine Malerei, in der das Fließen, Strömen, Gelieren, Absterben und die Blasenbildung noch im Moment ihrer Gerinnung angehalten werden. Damit verwandele Piene das Tafelbild in ein Instrument zum Einfangen, Strukturieren und Nuancieren einer immateriellen optischen Energie.[i]
[i] Manfred Schneckenburger, „Die schiere Schönheit und der Wolkenzug“, in: Otto Piene, hrsg. von Ante Glibota, Paris, Hong Kong 2011, S. 87-89, hier S. 87-88.

Die beiden ZERO-Gründer Mack und Piene waren nicht die einzigen, welche die Destruktion durch Feuer zur Kreation ihrer Kunstwerke nutzten. Besonders die Mitglieder der Nouveaux Réalistes, die sich 1960 um den Kritiker Pierre Restany (1930-2003) zusammentaten, wie Arman (1928-2005) und Niki de Saint Phalle (1930-2002), verwendeten Feuer und Destruktion als Strategie künstlerischer Schöpfung.[i] Der Schweizer Daniel Spoerri (*1930) fügte dem Magazin ZERO 3 eine Pyromanische Anleitung hinzu. Auf der letzten Seite der Publikation wurden die Leser*innen dazu aufgefordert, das Heft mit einem beigefügten Streichholz zu verbrennen. Nachdem detailliert erklärt wurde, wie man ein Streichholz anzündet, hieß es dort:
[i] Arman collagierte einen explodierten Feuerwerkskörper auf Papier oder sprengte in einer spektakulären Aktion einen Sportwagen, den er dann als quasi-zerstörtes Readymade an der Wand präsentierte (White Orchid, 1963). Einen ähnlich destruktiv-kreativen Ansatz verfolgte Niki de Saint Phalle ab 1960 mit ihrer Serie der Tirs, vgl. Pierre Restany, „Die Beseelung des Objekts“ (1961), in: ZERO und Nouveau Réalisme. Die Befragung der Wirklichkeit, hrsg. von Stiftung Ahlers Pro Arte, Kestner Pro Arte, Hannover 2016, S. 57-64.
„Unterwerfen Sie die vorliegende Zeitschrift Zero 3 demselben Prozeß, indem Sie die vorhandene Hitze ausnützen. Dazu müssen Sie das flache Stäbchen nah genug an die Broschüre halten, die bewußt aus einem Material hergestellt wurde, das demselben Verwandlungsprozeß unterliegt.“
Darüber war ein Sonnenblumenkern geklebt und mit dem Hinweis versehen: „Jean Tinguely empfiehlt Ihnen, diesen Sonnenblumenkern in gute Erde zu pflanzen, bevor Sie folgende Anleitung befolgen.“[i] Die destruktive Geste des einen wird hier durch den kreativen Impuls des anderen Künstlers wieder aufgehoben.
[i] Daniel Spoerri, „Pyromanische Anleitung“, in: Mack, Piene 1961 (wie Anm. 10), o. S.
Ähnlich wie Macks Feuerschiff zeigen die selbstzerstörenden Installationen von Jean Tinguely (1925-1991) die Kraft des Feuers und der Explosion als ephemeres Kunstereignis. 1960 veranstaltete er im Garten des Museum of Modern Art die aufsehenerregende Homage to New York, bei der sich eine kinetische Skulptur von monumentaler Größe in einem automatisierten Prozess selbst zerstörte.[i] Nach dem Erfolg in New York wurde das amerikanische Fernsehen auf Tinguely aufmerksam und produzierte in der Wüste von Nevada einen Film über seine Study for an End of the World, No. 2,1962. Gemeinsam mit Niki de Saint Phalle versammelte er Trümmer, Schrott, Sperrmüll, Feuerwerkskörper und Dynamit auf dem Jean Dry Lake in Nevada. Der Aufbau der Skulptur sowie ihre spektakuläre Explosion wurden von dem Sender NBC aufgezeichnet.[ii] Wie bei Macks Feuerschiff aus dem Film Tele-Mack erfolgt die Rezeption dieses Werks ausschließlich über die filmische Wiedergabe. Anders als das ephemere, eindrückliche Lichtereignis, das Mack bezweckte, verstand Tinguely seine „Studie zum Weltuntergang“ aber als soziopolitischen Kommentar zu einer Welt der überflüssigen und entsorgten Konsumgüter.[iii]
[i] Vgl. Tiziana Caianiello, „Between Media: Connections between Performance and Installation Art, and their Implications for Conservation“, in: Beiträge zu Kunst und Kulturgut 1/2018, S. 102-110, hier S. 103-104.
[ii] Die erste Study for an End of the World fand 1961 im Louisiana Museum, Humlebæk, Dänemark, statt, vgl. Emily Eliza Scott, „Desert Ends“, in: Ends of the Earth, Land Art to 1974, hrsg. von Philipp Kaiser, Miwon Kwon, München, London, New York 2012, S. 67-91, hier S. 68.
[iii] Vgl. Scott (wie Anm. 29), S. 76.

Während Tinguely und Saint Phalle die Explosion zelebrierten, nutze Yves Klein (1928-1962) das Feuer zur Fertigung von Malerei, Skulptur und Architektur. Sein erstes Experiment mit dem Feuer war das Tableau de feu blue d’une minute (1957), eine blau bemalte Holztafel, auf der er sechszehn bengalische Feuer entzündete. Bei dessen Präsentation in der Galerie Colette Allendy schuf Klein ein virtuelles IKB[i] als Nachbild im Auge des Betrachters, da sich das Feuer mit dem Blau zu einem immateriellen Monochrom verband. Ab 1961 entstanden dann seine Peintures de Feu, die er mit Flammenwerfern fertigte.[ii] Im Krefelder Museum Haus Lange fand 1961 die Ausstellung Yves Klein – Monochrome und Feuer statt, wobei im Garten des Hauses eine Feuermauer mit 100 Flammen sowie Feuerfontänen präsentiert wurden.[iii] Klein betrachtete das Feuer, wie alle vier Elemente, als zentrales Element der Architektur, was er in dem Projekt für eine Luftarchitektur, gemeinsam mit dem Architekten Werner Ruhnau, in ZERO 3 zum Ausdruck brachte.[iv]
[i] International Klein Blau ist ein von Yves Klein erfundenes tiefes Blau, vgl. Robert Fleck, Yves Klein – L’aventure allemande, Paris 2018, S. 24-25.
[ii] Colette Angeli: „Peindre avec le feu. Aubertin, Burri, Klein, Peeters, Piene“. In: Le Ciel Comme Atelier. Yves Klein et ses Contemporains, hrsg. von Claire Bonnevie, Metz 2020, S. 82-83.
[iii] Vgl. Antje Kramer-Mallordy, Rotraut Klein-Moquay, Yves Klein Germany, Paris 2017, S. 193.
[iv] Yves Klein, Werner Ruhnau, „Projekt für eine Luftarchitektur“, in: Mack, Piene 1961 (wie Anm. 10), o. S.
Die Werke der ZERO-Künstler, die das Feuer integrieren, befinden sich in einem Spannungsfeld zwischen Kreation und Destruktion. Während Tinguely und Saint Phalle ihre Arbeiten mittels destruktiver Gesten schufen[i], zelebrierten Mack mit seinem Feuerschiff, Piene mit seinen Feuerbildern und Klein mit seinen Feuerfontänen das Licht und die Farbe des Elements Feuer. Das Licht der Kerzenflamme findet sich in Bernard Aubertins (1934-2015) Tableaux-feu de poche[ii]und Macks Hommage à Georges de La Tour. Darüber hinaus beschäftigten sich weitere ZERO-Künstler mit der Kraft des Feuers, deren Werke und Projekte an dieser Stelle nicht vertieft wurden, etwa Henk Peeters mit seinen Pyrographien oder Günther Uecker mit der Beschießung des Meeres mit Feuerpfeilen (1970).[iii] Gemeinsam haben alle Künstler, dass sie mit dem Feuer eine Immaterialisierung ihrer Werke anstrebten. Im Zusammenhang mit den auf sie einwirkenden Kräften und Energien rufen die Materialien dieser Kunstwerke selbst unabhängige, mit der Zeit veränderliche Konstellationen hervor, sodass sich das Werk erfassen lässt als das zeitweilig die Objektgrenzen Überschreitende und bei der Betrachtung aktuell in Erscheinung Tretende.[iv]Bei ephemeren, destruktiven Arbeiten wie dem Feuerschiff oder Study for an End of the World No. 2 verlagert sich die Existenz des Kunstwerks deshalb vom realen Objekt in die mediale Wiedergabe.
[i] Restany (wie Anm. 26), S. 64.
[ii] Die Tableau-feu de poche von Bernard Aubertin wurden nur kreiert, um danach wieder verbrannt zu verbrennen. Das Streichholz wurde deshalb zum Signet Aubertins, vgl. Angeli 2020 (wie Anm. 32), S. 82-83. Mack betitelte sein Werk Der Engel des Bösen, um 1968, mit einem Gruß an Aubertin, da es sich um ein Projekt für ein zehn Meter hohes Streichholz handelte, vgl. Kunstverein Ahlen 1994 (wie Anm. 21), S. 182-183.
[iii] Zu Peters vgl. Angeli (wie Anm. 32), zu Uecker vgl. Katrin Salwig, Klaus Gereon Beuckers: „Verzeichnis der Aktionen von Günther Uecker, 1958-1975“, in: Günther Uecker, die Aktionen, hrsg. v. Klaus Gereon Beuckers, Petersberg 2004, S. 219-228.
[iv] Schmitt (wie Anm. 8), S. 12.
Zu Feuer



Endnotes
G Galerien
ZERO und die Galerien nach 1966 am Beispiel der Galerie Hubertus Schoeller
Nadine Oberste-Hetbleck
Die Kunstmarktforschung als verhältnismäßig junger, interdisziplinärer akademischer Bereich untersucht unter anderem die unterschiedlichen Einflüsse der Akteur*innen und Netzwerke im Kunstmarkt auf die Kanon-Bildung in der bildenden Kunst. Dazu zählen als eine relevante Gruppe auch Galerist*innen, die junge Künstler*innen häufig seit dem Beginn ihrer beruflichen Laufbahn begleiten: In Galerien werden ihre Werke oft erstmalig der Öffentlichkeit präsentiert und verkauft, es werden Ausstellungskataloge erarbeitet und produziert, großformatige Werke (vor-)finanziert und Kontakte zu Ausstellungseinrichtungen vermittelt. Galerist*innen arbeiten als Gatekeeper des Kunstmarktes. Der Soziologe Hans Peter Thurn verweist darauf, dass der „Galerist […] in das Gewand eines Öffentlichkeitsarbeiters“ für die Kunstschaffenden schlüpfe.[i] Dies bedeutet, dass Galerist*innen Ansprachen halten, Texte verfassen, Editionen herausgeben und weitere Aktivitäten verfolgen, um künstlerische Positionen bekannt zu machen und die jeweiligen Werke zu vermitteln. Um die Leistungen der einzelnen Akteur*innen und die Zusammenarbeit zwischen Künstler*innen und Galerist*innen sichtbar zu machen, bedarf es eingehender, quellenbasierter Studien. Das ZADIK | Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung mit seinem Spezialarchiv zum Kunstmarkt bietet mit Blick auf die Erforschung der ZERO-Bewegung reichhaltiges Archivmaterial zu verschiedenen, mit ZERO verbundenen Galerien, so beispielweise Rochus Kowallek, Frankfurt am Main (A 18), Galerie art intermedia (Helmut Rywelski), Köln (A 103) oder Galerie Schoeller, Düsseldorf (A 71).
Dank der Forschungsleistungen der letzten Jahre, so beispielsweise Thekla Zells äußerst fundierter Studie, gibt es bereits tiefere Erkenntnisse zur Zusammenarbeit einiger Künstler mit den Galerien in der für die Konstituierung von ZERO wichtigen Zeit vom Ende der 1950er bis Anfang der 1960er Jahre. Noch eingehender zu beleuchten, bleibt aber der Blick auf die Jahre nach dem „offiziell“ deklarierten Ende der Zusammenarbeit im Kontext von ZERO durch die Künstler Heinz Mack (*1931), Otto Piene (1928-2014) und Günther Uecker (*1930) im Jahr 1966. Hierzu möchte der vorliegende Beitrag exemplarisch Impulse geben und zu weiterer Forschung animieren.
[i] Hans Peter Thurn, Der Kunsthändler. Wandlungen eines Berufes, München 1994, S. 124.
Bekannt ist, welche Bedeutung von Anbeginn die öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen für die Etablierung von ZERO hatten, begonnen mit den Abendausstellungen, die – um mit Thekla Zell zu sprechen – „im Sinne einer Proto-Galerie als Schleuse in die Öffentlichkeit“[i]fungierten. Zell führt weiter auch den kooperativen Gedanken der Künstler aus, die sowohl in der Galerie Schmela und Galerie 22 in Düsseldorf als auch in den Abendausstellungen ihre Werke präsentierten, und zeichnet den Übergang vom Atelier beziehungsweise den Abendausstellungen in die Galerie nach, der sich beispielsweise mit der dritten Ausgabe der Zeitschrift ZERO 3 im Jahr 1961 zeigte: Diese Ausgabe wurde nicht mehr im Atelier präsentiert, sondern in der Galerie Schmela[ii] und war gleichzeitig die erste umfassende Dokumentation sowie der Abschluss der ersten Konstituierungsphase von ZERO. Dazu gab es die Veranstaltung Zero Edition Exposition Demonstration: die erste, von Mack, Piene und Uecker organisierte Veranstaltung der neuen Bewegung, die unter der Bezeichnung ZERO stattfand.[iii] Nicht nur weil er gemeinsam mit seiner Frau Monika Schmela die ersten deutschen Galerieeinzelausstellungen von Mack, Piene und Uecker organisierte,[iv] waren Alfred Schmelas Aktivitäten zur Konstituierung und Etablierung von ZERO in Deutschland wesentlich. Dies führte auch zu Otto Pienes bekanntem Ausspruch „Zero war für ihn genauso wichtig, wie er für Zero.“[v], der in der 1993 erschienenen Publikation Zero. Mack, Piene, Uecker des Kunstkritikers Heiner Stachelhaus nachzulesen ist. Darüber hinaus gab es weitere wichtige Protagonisten wie Rochus Kowallek mit der d(ato) galerie oder Galerie d, Gerhard von Graevenitz und Jürgen Morschel mit der Galerie nota sowie Kurt Fried mit dem Studio f. Ihr Einsatz wurde ebenfalls bei Zell tiefergehend herausgearbeitet.
[i] Thekla Zell, EXPOSITION ZERO. Vom Atelier in die Avantgardegalerie, zur Konstituierung und Etablierung der Zero-Bewegung in Deutschland am Beispiel der Abendausstellungen, der Galerie Schmela, des studio f, der galerie nota und der d(ato) Galerie, Diss. Kiel 2018, Wien 2019, S. 131.
[ii] Vgl. Zell (wie Anm. 1), S. 127.
[iii] Vgl. Zell (wie Anm. 1), S. 134; Wiederholt wurde die Demonstration in der Galerie A in Arnheim, 09.-30.12.1961, siehe: „Chronologie“, in: ZERO – Internationale Künstler-Avantgarde der 50er/60er Jahre, hrsg. von museum kunst palast Düsseldorf, Ausst.-Kat. Ostfildern 2006, S. 276. Tiziana Caianiello, „Ein „Klamauk“ mit weitreichenden Folgen. Die feierliche Präsentation von ZERO 3“, in: 4 3 2 1 ZERO, hrsg. von Dirk Pörschmann, Mattijs Visser, Düsseldorf 2012, S. 510-526, hier S. 513 verweist darauf, dass es bereits vorher 1959 im Rotterdamse Kunstkring eine Ausstellung mit dem Titel Zero ohne Beteiligung der Düsseldorfer Künstler gegeben hatte.
[iv] Zell (wie Anm. 1), S. 133.
[v] Otto Piene, in: Heiner Stachelhaus, Zero. Heinz Mack, Otto Piene, Günther Uecker, Düsseldorf 1993, S. 155.
Auch wenn die gemeinsame Ausstellung ZERO in Bonn 1966 (25.11.-31.12.1966) mit dem ZERO-Mitternachtsball als begleitendes Fest unter dem Motto „ZERO ist gut für dich“ im Bahnhof Rolandseck (25./26.11.1966) mit rund 2.000 Besucher*innen[i] „offiziell“ als Ende der Kooperation von Mack, Piene und Uecker und damit von ZERO gilt, arbeiteten sowohl der ursprünglich engere Kern als auch jene, welche unter dem Begriff ZERO ausgestellt hatten, als einzelne Künstlerpersönlichkeiten weiter und es kam zudem zu weiteren gemeinsamen Aktionen von Mack, Piene und Uecker. Diese Aktivitäten sowie die Arbeit von Galerien, Ausstellungshäusern, Sammler*innen und Auktionshäusern waren wesentlich für die Rezeption sowie für die weitere und vor allen Dingen nachhaltige Etablierung dessen, was heute unter ZERO im kunsthistorischen Kanon verankert ist.
Beispielhaft werden dazu die Aktivitäten des Galeristen Hubertus Schoeller untersucht. Sein Archivbestand im ZADIK umfasst neben eigenen Einladungskarten, Pressezusammenstellungen und Korrespondenzen auch Unterlagen zu Ausstellungsvorbereitungen[ii], Katalogarbeiten[iii]sowie Festen. Wertvolle zusätzliche Hinweise gab das im Juli 2023 mit Schoeller geführte Interview, welches an verschiedenen Stellen herangezogen wird.[iv]
[i] Vgl. Thekla Zell, „Wanderzirkus ZERO“, in: ZERO, hrsg. von Dirk Pörschmann, Margriet Schavemaker, Ausst.-Kat. Martin-Gropius-Bau, Berlin,, Köln 2015, S. 19-178, hier S. 169.
[ii] Korrespondenzen über Leihgaben/Akquisition von verkäuflichen Werken, Hängepläne.
[iii] Dazu zählen Anfragen zur Veröffentlichungsgenehmigung, Bitten um Unterstützung bei der Erstellung der ZERO-Ausstellungslisten, Materialsammlungen zu den historischen Ausstellungen, Korrekturfahnen, Unterlagen zur Katalogdistribution.
[iv] Hubertus Schoeller im Gespräch mit Nadine Oberste-Hetbleck, Düsseldorf 11.07.2023.
Hubertus Schoeller stieg 1974 in die Düsseldorfer Galerie Ursula Wendtorf und Franz Swetec in der Bilker Straße 12 ein,[i] also zu einer Zeit als ZERO bereits zur „Geschichte“ gehörte. Die Galerie besaß zu diesem Zeitpunkt keinen spezifischen Programmfokus, wenngleich ZERO-Künstler in den fünf Jahren des Bestehens eine größere Präsenz hatten, wie anhand der Ausstellungseinladungen nachzuvollziehen ist.[ii]
Bereits im Folgejahr übernahm Schoeller die Galerie und zog später, im März 1980, mit dem geänderten Namen Galerie Hubertus Schoeller „in die neuen, von Nils Sören Dubbick kongenial zum Galerieprogramm gestalteten Räume in der Düsseldorfer Poststraße 2. Dort präsentierte er bis zu seiner letzten Ausstellung im August 2003 mehr als fünfzig Künstler:innen aus den USA, Argentinien, Brasilien, Russland und fast allen europäischen Ländern.“[iii]
[i] Schoeller führte nach der Übernahme zur Ausstellung 33 Sovak die Galerie zunächst unter dem Namen Galerie Ursula Wendtorf und Franz Swetec, Inhaber Hubertus Schoeller weiter. 1976 folgte die Umbenennung in Galerie Schoeller vorm. Wendtorf + Swetec.
[ii] Piene war mit drei Einzelausstellungen vertreten, auch Uecker hatte eine Einzelpräsentation. Mack trat erst in einer Gruppenausstellung Ende 1974 in Erscheinung. Darüber hinaus finden sich mit Hermann Bartels, Hermann Goepfert, Walter Leblanc, Oskar Holweck und Ferdinand Spindel weitere Künstler, die unter dem Begriff ZERO an anderen Stellen ausstellten.
[iii] Siehe Bestandsbildnerprofil des ZADIK zum Bestand A 71, https://zadik.phil-fak.uni-koeln.de/archiv/bestandsliste/a-71-schoeller-duesseldorf. (04.01.2024)

Wenn bisher und im Folgenden von Künstlern die Rede ist, dann auch vor dem Hintergrund, dass in der Galerie Schoeller fast ausschließlich männliche Künstler vertreten waren. Ausnahmen bildeten beispielsweise Aurélie Nemours oder Hannelore Köhler mit einer Einzelausstellung und einzelne Künstlerinnen in Gruppenausstellungen.[i] Insgesamt handelte es sich aber um ein stärker von männlichen Positionen geprägtes Programm, was auch die damalige Situation im Kunstmarkt widerspiegelte.
[i] Vera Molnar, Nelly Rudin, Dadamaino, Garcia Varsco waren in jeweils einer Gruppenausstellungsbeteiligung bei Schoeller zu sehen. In der Zeit, als die Galerie noch Ursula Wendtorf und Franz Swetec gehörte, tauchten im Programm die Künstlerinnen Gerlinde Beck, Rune Mields, Claudia Kinast, Mira Haberernova oder Karina Raeck auf.
Was vertrat die Galerie inhaltlich? Kurz zusammengefasst kann festgehalten werden, dass die „Reduktion auf das Wesentliche und die materielle Perfektion für Schoeller den Kern des von ihm vertretenen Kunstprogramms ausmachten“[i]. In den Jahren seit seinem Galerieeinstieg und besonders seit dem Umzug in die neuen Räume spezialisierte er sich auf die konstruktiv-konkrete und die Kunst der Gruppe ZERO.
[i] Siehe Bestandsbildnerprofil des ZADIK zum Bestand A 71 (wie Anm. 13).
Die Rolle, welche ZERO in der Galerie Schoeller spielte, lässt sich bereits am Ausstellungsprogramm mit Blick auf Mack, Piene und Uecker ablesen.[i] Hinzu kamen die Ausstellungsprojekte außerhalb der Galerie wie beispielsweise das Gemeinschaftsprojekt ZERO – eine europäische Avantgarde[ii] 1993, die Schoeller unterstützte, sowie die Kunstmessepräsentationen beispielsweise in Köln oder Basel. Schaut man über diese drei Künstler hinaus, finden sich viele weitere Künstler im Programm der Galerie, die im Kontext von ZERO ausgestellt haben. So wurden beispielsweise Christian Megert (*1936), Bernard Aubertin (1934-2015), Hermann Goepfert (1926-1982), Jef Verheyen (1932-1984), Hermann Bartels (1928-1989) und Walter Leblanc (1932-1986) oder Almir Mavignier (1925-2018), Jesús Rafael Soto (1923-2005), Dadamaino (1930-2004), Uli Pohl (*1935) sowie die Gruppe Nul mit Jan Schoonhoven (1914-1994), Armando (1929-2018), Jan Henderikse (*1937) und Henk Peeters (1925-2013) präsentiert.
[i] Von den drei ZERO-Kernkünstlern erhielt Piene nach der Galerieübernahme durch Schoeller 1976/77 als erster eine Einzelausstellung – es folgten sechs weitere Einzelpräsentationen (1980, 1984, 1987/88, 1991, 1995, und 2000) und zusätzlich drei Gruppenausstellungen (1977/78, 1978/79, and 1988). Macks Werke wurden in drei Einzelausstellungen (2001, 98, 93/94) und fünf Beteiligungen an Gruppenausstellungen (1977/78, 1978/79, 1981/82, 1986, und 1988) präsentiert. Uecker war an drei Gruppenausstellungen (1978/79, 1981/82, and 1988) beteiligt.
[ii] Die Ausstellung wurde an drei Stationen – Galerie Neher Essen, Galerie Heseler München und dem Mittelrhein-Museum Koblenz – gezeigt und durch einen Katalog begleitet.
Schoeller selbst sieht sich in Düsseldorf nach Alfred Schmela und seinem Kollegen Hans Mayer, der den Boden für die konkrete Kunst und ZERO nach dem Ende der Kooperation der drei Künstler Mack, Piene und Uecker 1966 geebnet hatte, als Solitär in der nachhaltigen Galerie-Repräsentanz von ZERO in Deutschland:
„Es gab welche, die Mack oder Uecker ausgestellt haben, aber als Einzelkünstler und das, was sich kommerziell verkaufte. Aber die Künstler, die nicht in vorderster Front standen, wie Hermann Bartels aus Düsseldorf oder Uli Pohl oder Hermann Goepfert, da bin ich der einzige [Galerist] gewesen, der sie ausgestellt hat und versucht hat, ZERO in der Breite und Vielzahl seiner Künstler systematisch zu dokumentieren und aufzuarbeiten. […] Aber posthum, nach der ZERO-Zeit.“
Das vom ZADIK bereits im Rahmen von zwei themenmonografischen Ausstellungen in Ansätzen aufgearbeitete Wirken Schoellers soll im Folgenden vertieft werden. Im Zentrum steht ein Projekt von Schoeller, welches in seinem Einsatz für die Sichtbarmachung von ZERO herausragte und zunächst mit einer Ausstellung begonnen hatte, die anlässlich der 700-Jahr-Feier der Stadt Düsseldorf im Rahmen einer „parallel“-Aktion der Düsseldorfer Galerien zum Thema Düsseldorfer Künstler präsentiert wurde.[i] Unter dem Titel Gruppe Zero zeigte Schoeller vom 16. September bis zum 16. November 1988 insgesamt 42 Arbeiten von 32 Künstlern, alle Werke datierten aus der Zeit 1957-60.
[i] Ute Grundmann, „Die Kunst im Kontrast“, in: NZR (Neue Rhein/Ruhr Zeitung), Nr. 217, 16.09.1988: „Seit 1983 begleiten sie [parallel-Aktionen] große Ausstellungen mit einer gemeinsamen Aktion.“.


Schoeller sprach dazu vorbereitend unter anderem auf den Messen wie in Basel mit Besitzer*innen von Werken aus der Zeit – Sammler*innen, Künstler*innen – und bemühte sich um Exponate, die auch verkäuflich sein sollten. Unterstützt wurde er insbesondere von Piene, der unter anderem das Plakat zur Ausstellung gestaltete[i] und auch als Leihgeber für Exponate fungierte. Der Blick auf die Leihgeber*innenliste zeigt, dass grundsätzlich ein größerer Teil der Werke von Künstlern geliehen wurden – teilweise die eigenen Werke, aber teilweise auch Arbeiten von den Künstlerkollegen, die sie besaßen. Ferner unterstützte das städtische Museum Leverkusen Schloss Morsbroich mit einer Leihgabe. Die Werke selbst stammten nicht nur aus der Zeit, sondern hatten oft auch konkrete historische Bezüge: Almir Mavigniers Verschiebung eines Zentrums (Störung) war ebenso wie Yves Kleins rotes, rundes Keramikobjekt o.T.[ii] auf der 7. Abendausstellung 1958 ausgestellt gewesen, Verheyens Bild ohne Titel auf der Biennale Sao Paulo 1967, Ueckers Skulptur Dancer of New York war in Amsterdam bei der Ausstellung Null 1965 und in der bereits thematisierten Ausstellung von Mack, Piene und Uecker in Bonn 1966 zu sehen gewesen.
[i] Brief von Hubertus Schoeller an Otto Piene, Düsseldorf, 09.08.1988; mit handschriftlicher Antwort von Piene an Schoeller, 16.08.1988. Das Plakat wurde für 15,- DM – signiert für 50,- DM – in der Galerie verkauft.
[ii] Leihgeber des letzteren Werks war niemand anderes als Architekt Werner Ruhnau, wie die Presse kommunizierte, siehe Helga Meister, „Aus der Jugend der ZERO-Stars“, in: WZ (Westdeutsche Zeitung), 05.11.1988.
Die lokale Presse lobte die Schau als „museumsreife Ausstellung“[i], es war von einem „Andrang […] auf die „Zero“-Ausstellung der Galerie Schoeller“[ii] die Sprache. Schoeller hatte bewusst die Kooperationsveranstaltung der Düsseldorfer Galerien gewählt, um möglichst viel Aufmerksamkeit für seine Ausstellung zu erhalten. Im Anschluss an das positive Echo entschied er sich, nachträglich einen Katalog zum Ausstellungsprojekt zu veröffentlichen. Auch hier spielte Piene eine Rolle, wie Schoeller sich erinnert:
[i] Meister (wie Anm. 20); ebenso o.V., „Von Galerie zu Galerie. Die goldenen Jahre der Avantgarde“, in: Düsseldorfer Hefte, Nr. 19, 01.10.1988.
[ii] b.m., „Auftrieb bei ‚parallel‘“, in: Rheinische Post, Nr. 218, 19.09.1988.
„Ich hatte die ZERO-Ausstellung gemacht und dann fand Piene sie so wichtig, dass er sagte, ich müsste den Katalog noch dazu herausgeben. Das habe ich dann auch gemacht. Ohne Piene wäre der ganze Katalog nicht entstanden. Die Zusammenarbeit war sehr eng, er hat mich viel unterstützt und ich ihn auch, das war wechselseitig. Es gab den Vorteil, dass die Katalogkonzeption posthum nach der Ausstellung war und ich Zeit hatte zu arbeiten. Was man heute mittlerweile schnell über das Internet herauskriegen kann, war damals grundsätzlich sehr schwierig zu ermitteln und ging nicht so schnell.“
In der Tat lässt sich anhand der Archivalien bestehend aus Korrespondenz mit Galerien, Museen, Sammler*innen und Wissenschaftlicher*innen nachvollziehen, dass Schoeller mehr als ein halbes Jahr intensive Recherche, Konzeption und Redaktion betrieben hat.[iii] Charakteristisch für den Katalog Schoellers ist sein Anspruch über eine reine Dokumentation der Ausstellung hinauszugehen: Neben der Reproduktion der ausgestellten Werke und Installationsfotos enthielt er Statements der drei ZERO-Künstler[iv] zum damals gegenwärtigen Stand von ZERO, eine archivarische Dokumentation mit Einladungen aller Abendausstellungen[v], den Covern der ZERO-Hefte mit Inhaltsverzeichnissen und historischen Fotos aus der ZERO-Zeit. Darüber hinaus – und hier war der arbeitsintensive Einsatz gefragt – hatte Schoeller ein chronologisch sortiertes „Verzeichnis der Ausstellungen der Gruppe Zero“ erstellt. Daraus überführte er dann die Künstler*innen in ein alphabetisch sortiertes Verzeichnis, aus dem zu entnehmen ist, an welchen ZERO-Ausstellungen sie in chronologischer Reihenfolge teilgenommen hatten. Wieso kam es dazu? Schoeller erinnert sich:
[iii] Vgl. ZADIK, A 71, VIII: Zero-Katalog, Zero Ausstellung 1959-1996: Hier sind Schreiben für den Zeitraum vom 19.04. bis 28.09.1989 gesammelt. Notizen auf den Schreiben zeigen, dass viele Informationen auch mündlich bzw. telefonisch eingeholt wurden.
[iv] Schoeller 2023 (wie Anm. 10): „Und dann hatte ich Mack, Piene, Uecker gebeten, ihre Sicht der Dinge zu ZERO heute wiederzugeben. Piene schreibt dann ganz klar: ZERO ist heute noch gültig, Mack sagt, das war eine wichtige Periode, aber es ist vorbei und Uecker geht gar nicht darauf ein, was auch eine Antwort ist.“.
[v] Schoeller 2023 (wie Anm. 10): „Ferner waren alle 9 Einladungen der Abendausstellungen enthalten, die ich von Piene erhalten hatte.“.
„Mich hatte immer gestört, dass, wenn Sie Mack, Piene, Uecker fragen, wer gehört zu ZERO, Sie drei unterschiedliche Antworten erhalten. ZERO war ja nie eine feste Gruppe, sondern ein Freundeskreis, wie Piene immer sagte. Insofern kann man nicht sagen, das und das gehört zu ZERO, sondern: Das war der enge Kern, das war der mittlere Bereich und das war der Außenbereich. Um das einmal auf eine etwas objektivere Basis zu stellen, hatte ich ermittelt, wer an den ZERO-Ausstellungen teilgenommen hat und das dann umgegliedert: Man kann so sehen, an wie vielen ZERO-Ausstellungen ein Künstler teilgenommen hat. Das ist das einzige objektive Kriterium für die Frage, welchen Künstler man in welchem Umfang zu ZERO zählt. Man kann nicht nummerisch vorgehen und sagen, wer viermal teilgenommen hat gehört dazu und wer dreimal nicht. Es ist eine sachliche Grundlage.“
Mit zeitlicher Distanz zum Projekt reflektiert Schoeller: „Es war ein Anhaltspunkt, wobei ich es heute anders machen würde. Ich habe damals nur die Ausstellungen aufgenommen, die ZERO auch im Titel hatten. So fielen einzelne, wie die Antwerpener Ausstellung [Vision in Motion – Motion in Vision, 1959 im Hessenhuis, NOH], raus und Adolf Luther ist nicht drin – das würde ich heute mitaufnehmen.“ Dieses ambitionierte Vorhaben benötigte eine umfangreiche Recherche und die Mithilfe zahlreicher Personen und Einrichtungen. Schoeller fragte nach Bestätigung der Durchführung der jeweiligen Ausstellungen, den Künstlerlisten, erbat die Zusendung von Flyern oder Einladungen oder um Kauf des zugehörigen Katalogs – dies hat zu einer reichhaltigen Materialsammlung von Ephemera aus der historischen Zeit von ZERO im Bestand Schoeller geführt, ein richtiger Quellenfundus, der gleichzeitig auch bereits damals die geografische Ausdehnung physisch veranschaulichte.[vi] Nicht umsonst gestaltete Schoeller anknüpfend an eine Idee von Heinz Mack eine Weltkarte der ermittelten ZERO-Ausstellungen, welche direkt auch für den Galeristen einen neuen Erkenntniswert hatte, da die veranstalteten ZERO-Ausstellungen eine dominante Nord-Süd-Ausdehnung sichtbar machten. Die geografische Visualisierung beispielsweise von Ausstellungen oder Kunstmessen ist eine Methodik, die in den letzten Jahren dominanten Eingang in die Ausstellungsforschung gefunden hat, oft mit Unterstützung der Digital Humanities. Schoeller hat diesen Ansatz avant la lettre fruchtbar gemacht und hält selbst fest: „Das ist mehr ein Katalog zum Forschen und Arbeiten als ein Bilderkatalog gewesen.“ Für 76,- DM vertrieb die Galerie dann den in Eigenregie in einer Auflage von 1.500 Exemplaren produzierten Katalog. Das Erscheinen der Publikation wurde mit einem ganz der ZERO-Tradition verpflichteten Fest am 9. Dezember 1989 gefeiert. Dazu berichtet Schoeller:
[vi] Vgl. ZADIK, A 71, VII.
„Der Katalog kam nach der Ausstellung raus, deshalb musste dann eine Präsentation gemacht werden und das war das ZERO-Fest. Die ganzen Ideen dazu waren von Piene. […] Ich habe vier Wochen nur für dieses Fest gearbeitet, es war ein Highlight in meiner Laufbahn. Und nur mit persönlicher Einladung kam man rein. Piene hatte schwarz-weiß als Motto für das Fest vorgegeben. Ich bin aber ein Gegner allen Mottos und Zwangsvorgaben. Also habe ich die Einladung ohne das Motto gedruckt. Piene hat das dann aber verlangt, und so wurde das Motto nachträglich schräg oben drüber gedruckt. Es kamen auch alle in schwarz-weiß, Uecker hatte die Hälfte schwarz, die andere weiß. Der Einzige, der sich nicht darangehalten hat, war Piene selbst. Ich muss sagen – insofern pater, peccavi –, das hat er mir nachher erzählt: Das war sein Anzug, den er zu seiner ersten ZERO-Vernissage getragen hat. Es war im Wesentlichen auch Pienes Idee, eine Prozession über den Maxplatz mit Wunderkerzen und sonstigen Geschichten zu realisieren. Sein Assistent, Günter Thorn, hat hierzu 100 Tonpapier-Zylinder gemacht. Da war dann auch alles dabei, was zu ZERO gehörte, an Sammlern wie an Künstlern. […] Das war wieder wie zu der Zeit damals: Es geschah eigentlich nichts Besonderes und trotzdem viel. Denn sich einen Zylinder aufzusetzen, ist ja keine große Geschichte, aber es hatte seinen eigenen Charakter und seine eigene Note.“
Der von Schoeller beschriebene und von Werner Raeune in einer Videosequenz gefilmte festliche ZERO-Abend fand am besagten Datum von halb neun Uhr bis Mitternacht in der Galerie Schoeller statt. Tatsächlich knüpfte das Motiv des schwarzen Pappzylinders an Vergleichbares in der ZERO-Geschichte an: Auf der Expositie Demonstratieim Dezember 1961 in der Galerie A in Arnheim waren bereits schwarze Pappröhren mit weißen ZERO-Schriftzügen getragen worden.[vii] Am 10. Februar 1964 waren Mack, Uecker und Piene im Düsseldorfer Karneval beim Rosenmontagsumzug mitgezogen und hatten dort ebenfalls schwarze, hohe Papphüte getragen.[viii] Ergänzt wurde dieses bereits im Einsatz gewesene Element mit den Wunderkerzen. Auffällig ist die Wertschätzung, die die Beteiligten den Requisiten beim Fest zukommen ließen: Erkannt als Sammelobjekt ließen sie sich die Hüte von den Künstlern signieren, ebenso den Katalog.
[vii] Foto 29.2 in: 4 3 2 1 ZERO, hrsg. von Dirk Pörschmann, Mattijs Visser, Düsseldorf 2012, S. 510-526, hier S. 454.
[viii] Caianiello (wie Anm. 4), S. 510-526 beschäftigt sich eingehend mit den ZERO-Präsentationen und ihren Verbindungen zu vergangenen Avantgarden wie Dada und insbesondere Futurismus. Sie zeigt hier S. 521 f. ebenso die Verbindung der drei Düsseldorfer Künstler zu karnevalistischen Elementen auf.


Beachtlich war die Resonanz zum Fest: Bereits visuell im Film und auf den Fotografien zeigt sich eine große Menschenmenge. Eine Notiz auf einem Bierdeckel im Archivbestand bestätigt, dass 410 Personen angemeldet waren und schließlich 350 kamen.


Schoeller selbst bewertet die Bedeutung für die Sichtbarkeit für ZERO hoch:
„Da ist, würde ich sagen, ZERO dann das erste Mal wieder auferstanden. Denn das erste Mal, soweit ich mich erinnere, machte das Kunsthaus Zürich [Zero: Bildvorstellungen einer europäischen Avantgarde 1958-1964, 01.06.-05.08.1979, NOH][i] [nach dem offiziellen Ende der Bewegung, NOH] eine sehr gute ZERO-Ausstellung, dann war eine Pause.“
[i] Laut Ursula Perucchi-Petri gab die Ausstellung „zum ersten Mal einen historischen Rückblick auf das Phänomen Zero“, in: Zero. Bildvorstellungen einer europäischen Avantgarde. 1958 – 1964, hrsg. von Ursula Perucchi-Petri, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich, Zürich 1979, S. 6. Darin enthalten waren neben kunsthistorischen Texten zu den Künstlern der Ausstellung einzelne historische Fotos, Textauszüge unter anderem aus vergangenen Katalogen, Interviews und 20 Künstlerbiografien.
„Akribisch ist hier aufgelistet, was für diese Künstlergruppe charakteristisch ist: […] Weil dies zum erstenmal [sic] und so komplett geschieht, hat Galerist Schoeller damit das längst überfällige, jetzt umso nachdrücklicher hervorzuhebende Handbuch und Nachschlagewerk vorgelegt.“[v]
[v] Kur, „Schoeller, Düsseldorf“, in: Handelsblatt, Nr. 26, 06.02.1990. S. 26.
Tatsächlich gab es zum Ende der 1980er Jahre eine gewisse Bewegung in der Sichtbarkeit für ZERO. Eine Rolle spielte dabei die Privatsammlung Lenz Schönberg, die zu mehreren Orten weltweit tourte.[ii]Für die damalige Rezeption hielt Armin Zweite aber 1988 im zugehörigen Katalog noch fest: „Trotz vielfältiger Bemühungen läßt sich freilich kaum sagen, daß die Ziele von ZERO einen größeren Stellenwert im Bewußtsein der kunstinteressierten Öffentlichkeit gewonnen hätten.“[iii] Mit Blick auf die kunsthistorische Bearbeitung sind deshalb Projekte von Bedeutung, die mit wissenschaftlichem Anspruch die Historie aufarbeiteten, wie die Promotionsschrift von Anette Kuhn[iv] 1988 und auch Schoellers Publikation. Die Presseberichte zeigten sich dementsprechend von seiner Dokumentation beeindruckt: „Akribisch ist hier aufgelistet, was für diese Künstlergruppe charakteristisch ist: […] Weil dies zum erstenmal [sic] und so komplett geschieht, hat Galerist Schoeller damit das längst überfällige, jetzt umso nachdrücklicher hervorzuhebende Handbuch und Nachschlagewerk vorgelegt.“[v] Mit dieser Einschätzung sollte der Autor recht behalten: Schoeller schuf mit seiner Publikation ein wichtiges Nachschlagewerk, das sicher die Grundlage für einige in der Folge durchgeführte Museumsausstellungen gewesen ist. Günter Herzog bewertete sie 2006 zurückblickend als „eine der bis dahin vollständigsten Dokumentationen zur Geschichte der Bewegung“.[vi]
[ii] Nach einer frühen Präsentation im Frankfurter Städel 1974/75 war die Sammlung bereits 1985 in größerem Umfang in einem Kinosaal der Salzburger Innenstadt gezeigt worden und dann kurz nach Schoellers Eröffnung der Ausstellung Gruppe Zero Ende September 1988 in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in München. Vgl. ZERO. Vision und Bewegung. Werke aus der Sammlung Lenz Schönberg, hrsg. Städtische Galerie im Lenbachhaus, Ausst. Kat., München 1988. Schoeller (wie Anm. 10) erinnert sich 2023 auch an die internationalen Präsentationen: „In den 90er Jahren war es dann die Sammlung Lenz, die als Ausstellung durch die Welt lief – Madrid, Moskau.“ Vgl. Sammlung Lenz Schönberg: eine europäische Bewegung in der bildenden Kunst von 1958 bis heute, hrsg. von Hannah Weitemeier, Ausst.-Kat. Zentrales Künstlerhaus am Krimwall Moskau, Stuttgart 1989.
[iii] Armin Zweite, „Vorwort“, in: Städtische Galerie im Lenbachhaus (wie Anm. 30), S. 7-8, hier S. 7.
[iv] Kuhn hat sich in ihrer Promotionsarbeit Zero und Yves Klein. Aspekte einer deutschen Avantgarde der sechziger Jahre bei Eduard Trier in Bochum als eine der Ersten intensiv auf wissenschaftlicher Ebene mit ZERO beschäftigt.
[v] Kur, „Schoeller, Düsseldorf“, in: Handelsblatt, Nr. 26, 06.02.1990. S. 26.
[vi] „ZERO ist gut für dich“, in: sediment – Mitteilungen zur Geschichte des Kunsthandels, hrsg. von Zentralarchiv des internationalen Kunsthandels, Heft 10, Nürnberg 2006, S. 7.
Die enge Verbindung zwischen Schoeller und ZERO ließe sich für die weiteren Jahre noch ausführlicher darstellen, weitere Projekte könnten beleuchtet werden. Immer wieder bot seine Galerie Präsentationen rund um ZERO eine Plattform – so auch für die gemeinsame Vorstellung der bereits erwähnten Monografie Zero. Mack, Piene, Uecker von Heiner Stachelhaus mit dem Econ-Verlag am 12. Mai 1993.[i]
[i] Im Vorwort seiner Publikation konstatierte Stachelhaus (wie Anm. 6) zur damaligen Resonanz für ZERO: „Ein zusätzliches Motiv [diese Publikation zu verfassen, NOH] ist das Interesse der Sammler, Museen und Galerien für Zero, das in den letzten Jahr peu à peu zugenommen hat.“
Der nachhaltige Einsatz von Hubertus Schoeller für ZERO und die konstruktiv-konkrete Kunst allgemein zeigte sich aber auch über die Galerietätigkeit hinaus: Im Jahr der Schließung seiner Galerie gründete er 2003 die am Leopold-Hoesch-Museum in Düren ansässige Hubertus-Schoeller-Stiftung, die seine Sammlung konstruktiv-konkreter Kunst umfasst. 2006 war er Mitinitiator der im Museum Kunstpalast unter der Generaldirektion von Jean-Hubert Martin gemeinsam mit Heike van den Valentyn und Mattijs Visser kuratierten Ausstellung ZERO. Internationale Künstler-Avantgarde der 50er/60er Jahre: Impulse zu Letzterer wurden in einem Gespräch mit Otto Piene und Jean-Hubert Martin in der Galerie Schoeller entwickelt.[i] Im Kontext dieser Ausstellung wurden auch die schwarzen Pappzylinder des Schoeller´schen ZERO-Festes wieder aufgegriffen. Die international ausgerichtete Retrospektive war zudem wesentlicher Anstoß für die Gründung der ZERO foundation 2008[ii], deren Freundeskreis Schoeller lange Zeit als Vorsitzender vorstand. Die fortwährende Verbundenheit zwischen Galerist und Künstlern spiegelt sich auch im Folgenden von Hubertus Schoeller erinnerten Ausspruch wider:
[i] In dieser Zeit lassen sich auch weitere Ausstellungprojekte rund um ZERO erkennen: Die Sammlung Lenz Schönberg wurde im Salzburger Mönchsberg vom 21.01.-26.03.2006 gezeigt, dann fand die Ausstellung des ZADIK Zero ist gut für dich auf der Cologne Fine Art vom 15.-19.02.2006 statt.
[ii] Vgl. www.kunstpalast.de/de/programm/sammlung/zero-foundation (04.01.2024), siehe auch www.zerofoundation.de (04.01.2024).
„Und das sagte Piene auch ganz klar: ‚Die Galerie Schoeller wäre ohne ZERO nicht denkbar und ZERO ist ohne die Galerie Schoeller nicht denkbar.‘“
Mehr zu Galerien



Endnotes
H Hommage
ZEROs vielfältige künstlerische Hommagen
Romina Dümler
Eine Hommage, deutet auf jemanden hin, dem oder der man sich verpflichtet oder von dem/der man sich positiv beeinflusst fühlt. Es ist eine öffentliche Huldigung – ein wohlklingender Liebesbeweis.
In den Werktiteln der ZERO-Künstler*innen wimmelt es von Verweisen die, ganz typisch für künstlerische Produktionen, durch die französische Wendung „Hommage à“ ausgedrückt werden. Dieser Beitrag versammelt eine Auswahl solcher ZERO-Arbeiten.
Heinz Mack (*1931) hat viele Werke seinen Kollegen, aber auch Vorbildern aus vergangenen Epochen gewidmet.
Der Kreis, mit dem er sich und seine Werke in Verbindung bringt, reicht vom 17. Jahrhundert bis zu den Zeitgenossen, von Georges de La Tour (1593-1652), über Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), Pablo Picasso (1881-1973) bis hin zu Josef Albers (1888-1976).
Der französische Barock-Maler de La Tour wurde dadurch bekannt, dass er mittels einer gemalten Kerze eine dramatische Lichtführung in seinen Nachtszenen erzeugt. Das Kerzenlicht greift Heinz Mack auf und zeigt – oder besser inszeniert – 1960 in der Berliner Galerie Diogenes seine Hommage à Georges de la Tour. 1966 wird er in der Galerie Schmela die Arbeit erneut aufführen.[i] Beide Male erleuchten rund 200 Kerzen, einen mit einer Spiegelfolie ausgekleideten Raum, in dem sich der warme Lichtschein potenziert.
[i] Das Ausstellungsplakat zu „Mack“, in dessen Rahmen die Arbeit präsentiert wurde, ist im Archiv der ZERO foundation, VL Heinz Mack, erhalten. Inv. Nr. mkp.ZERO.1.VII.36.
Manchmal wählt Mack anstelle des französischen „Hommage“ das leichtfüßigere „Gruß an“ als Verweis auf Künstlerkollegen im Geiste – wie im Werk Siehst du den Wind? (Gruß an Tinguely)[i]von 1962 oder Engel des Bösen (Gruß an Aubertin), um 1968.
[i] Sammlung der ZERO foundation, Inv. Nr. mkp.ZERO.2008.16.
Jesús Rafael Soto (1923-2005) referenziert auf die für Yves Klein (1928-1962) typische blaue Farbe – das International Klein Blue –, indem er in seine schwarz-weißen, flimmernden Strukturen ein blaues Quadrat einfügt und damit seine Homage to Yves Klein, 1961, zum Ausdruck bringt.
Günther Uecker (*1930) nimmt in der Hommage à Fontana, 1962, die ovale Form mancher Leinwände Lucio Fontanas auf.
Dessen „Buchi“ (Löcher) werden für Christian Megert (*1936) zum Ausgangspunkt für seine Würdigung an den italienischen Meister, indem er die Leinwand anstelle von tatsächlichen Durchstoßungen, mit Spiegelscherben optisch erweitert.
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Die größte Hommage erweisen jedoch Mack, Piene (1928-2014) und Uecker der Vaterfigur Fontana (1899-1968) gemeinsam, indem sie ihm ihren Beitrag auf der dritten documenta 1964 widmen. Der Lichtraum (Hommage à Fontana) wird in Kassel in einem Dachgeschoss eingerichtet und besteht sowohl aus individuellen lichtkinetischen als auch zwei gemeinschaftlichen Arbeiten. Die beiden Lichtmühlen werden von den drei Künstlern in der Gladbacher Straße erarbeitet: Für die Silbermühle kommt von Piene die Staffelei, Mack steuert Lamellen bei, Uecker übernagelte die Flügel. Die Unterkonstruktion der Weißen Lichtmühlestammte aus einem Lokal in der Düsseldorfer Altstadt. Die Widmung an Fontana ist ihnen wichtig, weil er von offizieller Seite nicht eingeladen worden war, sich an der Schau zeitgenössischer Kunst in Kassel zu beteiligen.[i]
[i] Vgl. „Die Poesie des Dachbodens. Wie aus einem Restraum ein Lichtraum wurde. Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker über ihren documenta-Beitrag im Jahr 1964“, in: Lichtraum (Hommage à Fontana) – Der documenta-Beitrag von Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker 1964, hrsg. von ZERO foundation/museum kunst palast, Düsseldorf 2009, o.S.


So wie den Freunden oder dem väterlichen Mentor Fontana im Titel gedankt wird, so erweist man auch der Kunstweltmetropole der 1960er Jahre die Ehre: New York.
Otto Piene breitet in seinem Lichtballett „Hommage à New York“ [i] von 1966/2016 sein Können aus und beweist wie inspirierend die Stadt auf ihn wirkte.
In einem Diaprojektor arrangiert er handkolorierte Glasdias neben handelsüblichen Fotos von New Yorker Touristenattraktionen und eigenen Aufnahmen des alltäglichen Straßenlebens. Zusammen mit einer Soundspur, die Klänge aus dem Stadtbild wiedergibt, entsteht eine Choreografie aus konkreten Bildern und abstrakten Farb-, Licht und Toneffekten – letztlich eine künstlerische Evokation von New York.
Günther Uecker ist vom New Yorker Broadway fasziniert. Das Theaterviertel in Manhattan mit seinen zahlreichen leuchtenden Billboards beschwört er mit seiner Hommage à Broadway, 1965.
Jean Tinguely schließlich formuliert seine berühmte Homage to New York bereits 1960 im Garten des Museum of Modern Art als ein großes Spektakel, bei dem sich eine Maschine letztlich selbst zerstört.
[i] Sammlung der ZERO foundation, Inv. Nr. mkp.ZERO.2014.28dition 2/3.

Endnotes
I International
New York jetzt oder nie!
Anna-Lena Weise
Nachdem zu Beginn der 1960er Jahre Gruppenausstellungen in ganz Europa stattgefunden hatten, erfolgte 1964 die „Eroberung“ Amerikas. ZERO gilt als ein früher Zusammenschluss von Künstler*innen aus Europa und Deutschland, der zu Beginn der 1960er Jahre in Amerika große öffentliche Aufmerksamkeit erreichen konnte. Dazu bildete die Ausstellung ZERO [Group ZERO], Institute of Contemporary Art, University of Pennsylvania, Philadelphia, den Startschuss.[i]
[i] Vgl. Tina Rivers Ryan, „‚Before it Blows up‘. ZERO’s Armerican Debut, and its Legacy“, in: The Artist as Curator. Collaborative Initiatives in the International ZERO Movement 1957-1967, hrsg. von Tiziana Caianiello, Mattijs Visser, Ghent 2015, S. 363-369, hier S. 363.; Vgl. Anette Kuhn, ZERO. Eine Avantgarde der Sechziger Jahre, Frankfurt a. M., Berlin 1991, S.51 f.
Der amerikanische Kunstmarkt wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Nachfrage nach europäischen Werken dominiert, vor allem die 1920er und 1930er Jahre waren bestimmt durch die alten Meister und den europäischen Impressionismus. Zudem trugen europäische Künstler*innen, vielfach als Flüchtlinge aufgrund der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 aus ihren Heimatländern vertrieben, dazu bei, die europäische Kunst in die USA zu bringen. Die von Marcel Duchamp (1887-1968), zusammen mit Man Ray (1890-1976) und Katherine Dreier (1877-1925), 1920 gegründete Société Anonyme, das Museum of Modern Art (MoMA, gegründet 1929) und das 1939 entstandene Museum of Non-Objective Painting (später Solomon. R. Guggenheim Museum) fokussierten sich zunächst fast gänzlich auf die Kunst Europas. Im MoMA fand 1930 die Ausstellung Painting in Paris, from American Collections statt, die eine Vorliebe der Sammler für die Meister der französischen Moderne offenbarte.[i]
[i] Vgl. Norman Rosenthal, „Amerikanische Kunst: Eine Sicht aus Europa“, in: Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert. Malerei und Plastik 1913-1993, Ausst.-Kat. Martin Gropius Bau, Berlin, Royal Academy of Arts, London, hrsg. von Christos M. Joachimides, Norman Rosenthal, London, Berlin 1993, S. 13-22, hier S. 13.; vgl. Gail Stavitsky, „Museen und Sammler“, in: ebd., S. 163-170, hier S. 166.; Thomas Kellein, „Es ist die schiere Größe: Die Rezeption der amerikanischen Kunst in Europa“, in: ebd., S. 211-218, hier S. 211.; Britta E. Buhlmann, „Art is not an object but experience“, in: Abstrakter Expressionismus in Amerika, Ausst.-Kat. Pfalzgalerie Kaiserslautern, Ulmer Museum, Kaiserslautern 2001, S. 19. – Symbolismus, Kubismus und Fauvismus waren die meist diskutierten Kunstrichtungen. Zahlreiche amerikanische Künstler*innen reisten damals nach Paris, in die Kunsthauptstadt Europas, um von den Hauptvertretern dieser Kunstrichtungen zu lernen. Marcel Duchamp war bereits während des ersten Weltkriegs nach New York gegangen und hatte sich dort für den Aufbau einer Infrastruktur zwischen Privatsammlern, Galeristen, Künstlern und Museen eingesetzt.
Die amerikanische Kunst befand sich nach dem Krieg in Europa in einer Phase der Erneuerung. Es war zu dieser Zeit, als Jackson Pollock (1912-1956) begann seine heute als Meisterwerke bezeichneten Arbeiten zu schaffen, die dem „abstrakten Expressionismus“ wie Clement Greenberg ihn bezeichnete, zugerechnet werden.[i] Barnett Newman (1905-1970) war 1948 der Meinung, dass man sich von der Legende, dem Mythos und allen anderen Erfindungen der westeuropäischen Kunst befreien müsse.[ii]
Der abstrakte Expressionismus begann das Feld zu übernehmen und die vorherrschende figurative Malerei zu verdrängen. Zugleich förderte der steigende Wohlstand im Nachkriegsamerika die Entstehung eines Kunstmarktes für zeitgenössische, heimische Kunst, die von einer wachsenden Zahl von Kunsthändler*innen relativ preisgünstig angeboten wurde. Auch das MoMA förderte durch seine Gruppenausstellungen 1946, 1948, 1951 und 1955 aktiv die Sichtbarkeit amerikanischer Künstler*innen im eigenen Land. Mit dem nach Kriegsausbruch praktisch nicht mehr vorhandenen europäischen Kunsthandel ergab sich in New York eine neue Metropole für junge zeitgenössische Kunst – in den Galerien von Peggy Guggenheim, Sidney Janis, Samuel Kootz und Betty Parsons. Die Aktivitäten von Künstler*innen, Kritiker*innen, Galerist*innen, Institutionen und Sammler*innen begannen sich in New York zu ballen, wodurch die Stadt in den USA, aber auch in Übersee als Zentrum der amerikanischen Kunst bekannt wurde. New York löste langsam Paris, welches durch die Besetzung nationalsozialistischer deutscher Truppen 1940 für fünf Jahre kulturell abgeschnitten war, als Kunstmetropole ab.[iii] Thomas Kellein fasst diesen Umbruch wie folgt zusammen:
[i] Vgl. Rosenthal (wie Anm. 2), S. 13 ff., 19.
[ii] Vgl. Barnett Newman, „The Sublime is Now“ (1948), in: Barnett Newman. Selected Writings and Interviews, hrsg. von John O’Neill, New York 1990, S. 173. – Die abstrakten Expressionisten rückten den künstlerischen Akt in den Vordergrund. Das Malen an sich sollte im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit liegen und nicht inhaltliche Themen, was Newman nicht unbedingt vollständig gelungen ist, wenn man sich die Titel seiner Werke ansieht.
[iii] Vgl. Lena Brüning, Die Galerie Schmela. Amerikanisch-deutscher Kunsttransfer und die Entwicklung des internationalen Kunstmarktes in den 1960er Jahren, Berlin, Boston 2022, S. 41.; vgl. Bettina Friedl, „Die amerikanische Malerei zwischen 1670 und 1980“, in: Visuelle Kulturen der USA. Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika, Bielefeld 2010, S. 15-98, hier S. 73.; Stavitsky (wie Anm. 2), S. 167.; Kellein (wie Anm. 2), S. 212.; vgl. Britta E. Buhlmann (wie Anm. 2), S. 19, 21.; vgl. Serge Guilbaut, How New York Stole the Idea of Modern Art. Abstract Expressionism, Freedom, and the Cold War, übersetzt von Arthur Goldhammer, Chicago, London 1983, S. 1, 49.
„Entdeckt, ausgestellt und gehandelt wurde die Kunst für den nuklear gesicherten und kulturell unbeschriebenen abstrakten NATO-Raum zunehmend in New York. Bereits nach einem Jahrzehnt, seit etwa 1960, war die Jahrhunderte währende Vorrangstellung der europäischen Malerei und Plastik endgültig in Frage gestellt.“[i]
[i] Kellein (wie Anm. 2), S. 212.
Deutschland war in der Nachkriegszeit durch die Besetzung vor kulturelle Herausforderungen gestellt, die eine Rückbesinnung auf die Kunst vor dem Krieg nach sich zog. Jill Michelle Holaday schreibt zum Verhältnis der Besatzungsmächte und der Kunst in Deutschland: „Initially, the Allies championed the ‚degenerate‘ art burned by the Nazis, but not contemporary art. Expressionism came to symbolize an art appropriate for a new democracy.“[i] Im Gegensatz dazu galt der Expressionismus der Vorkriegszeit für viele deutsche Künstler*innen und Kritiker*innen als überholt.
Die Kulturpolitik rückte stärker in den Fokus und wurde im Zuge der wachsenden Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR als politisches Mittel instrumentalisiert.[ii]
[i] Jill Michelle Holaday, Die Gruppe ZERO. Working through Wartime Trauma, Diss. Iowa, Iowa 2018, S. 10 f.
[ii] Vgl. Carsten Kretschmann, Zwischen Spaltung und Gemeinsamkeit. Kultur im geteilten Deutschland, (Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, Bd. 12), Berlin-Brandenburg 2012, S. 15 ff., 35.; vgl. Brüning (wie Anm. 6), S. 35. – Die Alliierten gaben auch im Bereich der Kultur den Ton an. Sie versuchten neue Strukturen zu schaffen, sie zu reglementieren und vor allem streng zu kontrollieren.
„So wurden bestimmte Strömungen aktiv gefördert, während andere zunehmend aus der Öffentlichkeit verschwanden. Die abstrakte Kunst wurde als ‚modern‘, ‚europäisch‘ bzw. ‚westlich‘ und als vermeintlich unideologische und unpolitische Bildsprache kulturpolitisch favorisiert, die figurative, narrative Bildsprache dagegen dem ‚Osten‘ bzw. dem ‚Kommunismus‘ zugeschrieben und in Westdeutschland zunehmend verdrängt.“[i]
[i] Brüning (wie Anm. 6), S. 35/36, 56 f.
Diese Rückwendung zur abstrakten Malerei nach 1945 bildete so zugleich eine Abgrenzung zum nationalsozialistischen Realismus. Zumindest in den drei westlichen Besatzungszonen vollzog sich so ein unmittelbarer Bruch mit dieser Zeit.[i]
Die Vermittlung der amerikanischen bildenden Kunst lief in den Nachkriegsjahren in Deutschland zunächst schleppend an und war in Düsseldorf kaum zu bemerken. Nach dem Zusammenschluss der US-amerikanisch und britisch besetzten Gebiete 1947, weitete sich der amerikanische Einfluss auf das Rhein-Ruhr-Gebiet aus. Das Cultural Exchange Program, welches einen gezielten Austausch zwischen einzelnen Kulturschaffenden in den USA und Deutschland ermöglichen sollte, war zwar 1946 angelaufen, aber an den Kunstakademien machte sich aufgrund der Abwesenheit eines Kunstmarktes trotzdem das Gefühl der Isolation breit. Heinz Mack selbst sagte dazu in einem Gespräch mit Betty van Garel:
[i] Vgl. Kretschmann (wie Anm. 4); vgl. Brüning (wie Anm. 6), S. 35.
„Wir in Deutschland – unsere holländischen Freunde dürften sich in der gleichen Lage befunden haben – waren über das, was eigentlich in der Welt vorging, schlecht informiert. Erst 1948, 1949 wurde bekannt, was in Amerika geschah, wo ein Mann wie Pollock seine großen Gemälde malte. Wir bekamen dann das ungute Gefühl, das sich dort etwas getan hatte, was uns entgangen war. Daß es also für uns keinen Sinn mehr hatte, Dinge zu schaffen, die man drüben schon gemacht hatte.“[i]
[i] Zit. n. Dieter Honisch, Mack. Skulpturen 1953-1986, Düsseldorf, Wien 1986, S. 10.
Die Rezeption amerikanischer Kunst geschah in Europa vor allem durch das MoMA, welches 1948 auf der Biennale in Venedig einen eigenen Pavillon errichten konnte und zu einem wichtigen Kooperationspartner unterschiedlicher Abteilungen der amerikanischen Regierung wurde. Ab 1952 wurde im MoMA unter der Leitung von Porter A. McCray ein internationales Wanderausstellungsprogramm eingerichtet, welches sich aus dem zeitgenössischen Sammlungsbestand des Museums zusammensetzte, und wodurch die Institution in den darauffolgenden Jahren zu einem der prominentesten Ausstellungsmacher in Europa avancierte.[i] Nachdem ab April 1953 die erste MoMA-Wanderausstellung 12 amerikanische Maler und Bildhauer der Gegenwart von Paris aus über Zürich, Düsseldorf, Stockholm, Helsinki und Oslo wanderte, dauerte es noch fast fünf Jahre bis die amerikanische Kunst zu einem der größten Einflussfaktoren in Bezug auf die Entwicklung des deutschen Kunstmarktes wurde. Einen wichtigen Beitrag dazu leistete die documenta, welche 1955 erstmals in Kassel stattfand. 1956 wurde auf der documenta 2 dem erst kürzlich verstorbenen Jackson Pollock ein eigener Raum gewidmet.[ii]
Dass Interesse von Seiten Macks und Pienes an der amerikanischen Lebensweise bestand, zeigt eine Einladung von Louis Garinger zum Salzburg Seminar in American Studies in Österreich, die beide 1959 zugesandt bekamen.[iii]
Die Düsseldorfer ZERO-Künstler experimentierten zwischen 1953 und 1957 mit verschiedenen Stilen und schufen Werke mit durchaus expressionistischen Tendenzen, aber wie die Minimalisten in Amerika wendeten sie sich von diesem Stil ab. Die Mittel, mit denen sie ihre Kunst erweiterten: Materialien wie Silberfolie, Spotlights, Plexiglas, Aluminium und die Demonstrationen, lassen ihre Kunst ins Erlebnishafte eintreten.[iv] Ein ähnliches Phänomen, welches sich zur gleichen Zeit in New York ausmachen lässt, wie Allan Kaprow (1927-2006) feststellt:
„Not satisfied with the suggestion through paint of our senses, we shall utilize the specific substances of sight, sound, movement, people, odors, food, electric and neon light, smoke, water, old socks, a dog, movies, a thousand other things which we have always had about us, but ignored, but they will disclose entirely unheard of happenings.“[v]
Die ZERO-Künstler*innen verwendeten durchaus ähnliche Techniken und Formen wie die New Yorker Minimalisten, verliehen ihren Werken aber oft transzendentale Bedeutungen.
[i] Vgl. Brüning (wie Anm. 6), S. 38 ff., 42; vgl. Kellein (wie Anm. 2), S. 211 ff.; vgl. Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, S. 114. – Ausstellungen der American Federation of Arts und des Smithsonian Institution Traveling Exhibition Service versuchten in den 1950er-Jahren die amerikanische Kunst einer breiten Masse näherzubringen. Allerdings wurde keine zeitgenössische amerikanische Kunst gezeigt und somit lag der Fokus nicht auf der Bekanntmachung aktueller Tendenzen.
[ii] Vgl. Brüning (wie Anm. 6), S. 38 ff., 42; vgl. Kellein (wie Anm. 2), S. 211 ff.; vgl. Abelshauser (wie Anm. 11), S. 114.
[iii] Louis Garinger an Heinz Mack und Otto Piene, Salzburg, 22. Dezember 1959, Archiv der ZERO foundation, Vorlass Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.1335; Nachlass Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.506.
[iv] Vgl. Holaday (wie Anm. 8), S. 13.; vgl. Valerie Hillings, Experimental Artists‘ Groups in Europe, 1951-1968. Abstraction, Interaction and Internationalism, Diss. New York 2002, S. 124.
[v] Allan Kaprow, „The Legacy of Jackson Pollock“, in: Art News 57, Nr. 6, Oktober 1958, S. 24 f.
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Als Einzelpersonen hatten die ZERO-Künstler Uecker, Piene und Mack sowie weitere diesem Kreis zuzurechnende Personen, schon einige Jahre vor der großen ZERO-Show, zu mehreren Institutionen in Amerika Kontakt.
Robert Pincus-Witten stellt in diesem Zusammenhang fest:
Yves Klein (1928-1962) reiste bereits 1961 nach New York, um dort zwei Monate zu verbleiben und seine erste Einzelausstellung in der Castelli Gallery (Castelli hatte ihn bereits 1959 in seiner Ausstellung Works in Three Dimensions neben Chamberlain, Marisol und Rauschenberg präsentiert), welche am 11. April 1961 eröffnet wurde, zu besuchen. Die Überfahrt mit dem Schiff dauerte damals noch ungefähr acht Tage. Reisen war im Allgemeinen noch sehr viel aufwendiger, kostspieliger und vor allem langwieriger.[i]
[i] Leo Castelli hatte bereits 1957 eine Galerie in Manhatten eröffnet, in der er zunächst europäische bzw. französische Kunst zeigte. Er nahm aber schnell auch den amerikanischen abstrakten Expressionismus in sein Programm auf.
Die Ausstellung kam nicht gut an beim New Yorker Publikum und erzeugte eher negative Kritiken. Nur drei Schwamm-Skulpturen wurden verkauft, kein einziges Monochrom und die Ausstellung zog weniger Besucher*innen an als in Europa. „Klein was still far from being recognized as the most influential artist to have emerged in postwar France […].“[i]
Im Mai 1961 zeigte die Dwan Gallery in Los Angeles die Arbeiten von „Yves le Monochrome“. Klein überlegte zu dieser Zeit eine riesige Metamatic/Anthropometry-Maschine in Zusammenarbeit mit Jean Tinguely zu schaffen. Die Modelle hätten von einem Kran in blaue Farbe getaucht werden sollen, um dann auf einer riesigen weißen Leinwand ihre Spuren zu hinterlassen. Diese Idee wurde nicht verwirklicht.[ii]
Pontus Hultén, der damalige Direktor des Moderna Museet in Stockholm lernte bei seinem ersten Besuch in den USA den Ingenieur Billy Klüver kennen, mit dem er die Weichen für Tinguely stellte. Jean Tinguely erlangte mit seiner Homage to New York, 1960,[iii] Berühmtheit in den USA. Die Idee zu seiner sich selbst zerstörenden Maschine soll ihm im Januar 1960 gekommen sein, als er anlässlich seiner ersten Einzelausstellung in der Staempfli Gallery in New York war. Seine Méta-Matic-Zeichenmaschinen eröffneten ihm den Zugang zur jungen New Yorker Kunstwelt und erregten die Aufmerksamkeit Marcel Duchamps, Jasper Johns (*1930), Robert Rauschenbergs (1925-2008) und anderer. Rauschenberg steuerte zu der Homage ein kinetisches Objekt Money Thrower for Jean Tinguely’s H.T.N.Y. – ein Toaster der Silberdollars ins Publikum schleuderte – bei.[iv]
Auch Daniel Spoerri, der eng mit Tinguely befreundet war, war bereits 1961 in der Ausstellung The Art of Assemblage im Museum of Modern Art (MoMA), New York, vertreten, welches seine Arbeit Kichkas Frühstück, 1960, ankaufte.
[i] Klein-Moquay, Pincus-Witten (wie Anm. 18), S. 35.
[ii] Vgl. Klein-Moquay, Pincus-Witten (wie Anm. 18), S. 44 ff.
[iii] Zum Thema der „Hommage“ s. Romina Dümlers Beitrag in diesem Band.
[iv] Vgl. „Autodestruktive Aktionen“, in: Jean Tinguely. Super Meta Maxi, Ausst.-Kat. Museum Kunstpalast, Düsseldorf, Stedelijk Museum, Amsterdam, Köln 2016, S. 70 ff.; Roland Wetzel Vorwort und Einleitung, in: Robert Rauschenberg Jean Tinguely. Collaborations, Ausst.-Kat. Museum Tinguely, Basel 2009, S. 7.; vgl. Kellein (wie Anm. 2), S. 217.
Als einer der Ersten aus dem ZERO-Umkreis wohnte Hans Haacke (*1936) für mehrere Jahre – 1961 bis 1963 – in Amerika. Aufgrund eines Fulbright Stipendiums war er 1961 in die USA übergesiedelt und ab 1962 als Stipendiat an der Tyler School of Art der Temple University in Philadelphia, Pennsylvania eingeschrieben. Am 8. September 1962 schreibt er Otto Piene von Philadelphia aus, dass er in der kommenden Woche nach New York gehen werde. Bis 1963 war er dort am Pratt Graphic Art Center eingeschrieben. Obwohl er sich nicht positiv über Amerika als Konsumgesellschaft äußert, denn „alles wird zum Kauf angeboten und konsumiert, Waren, Meinungen, Massenmanipulation, Religion, Rassenhaß, alles“ und den Einzug des „american way of life“ in Deutschland voraussagt, begrüßt er seinen Aufenthalt doch[i], und überlegt am 21. März 1963 noch ein weiteres Jahr in New York zu bleiben – welche er als „unverschämt faszinierende Stadt“ bezeichnet.[ii]
Trotz seiner Ablehnung der Recherche Visuel – Groupe de Recherche d’Art Visuel, 1960 in Paris gegründet – gegenüber, die sich auf Wahrnehmungsphänomene in der Kunst fokussierten, stellt er fest, dass „ihre Ausstellung in N.Y. gut getan“ hat.[iii] Denn die Pop-Art ist ansonsten in jeder Galerie vorherrschend.[iv] Und so fehlt Haacke die Herausforderung von Kollegen, die in die gleiche Richtung wie ZERO arbeiten. Vor dem Hintergrund, dass sich die Pop Art mit ihren bunten Farben und großen Dimensionen deutlich von der Kunst ZEROs absetzt, erscheint Haackes Begrüßen der Recherches Visuelles als logische Konsequenz.
Am 1. September 1963 beschließt Haacke wieder nach Deutschland zurückzukehren.[v] Sein Aufenthalt in Köln war allerdings nicht von langer Dauer, denn schon 1965 kehrt er dauerhaft in die Vereinigten Staaten zurück.
[i] Hans Haacke an Otto Piene, New York, 21. März 1963, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1345.
[ii] Hans Haacke an Otto Piene, Philadelphia, 8. September 1962, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1344.
[iii] Hans Haacke an Otto Piene, Philadelphia, 8. September 1962, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1344.
[iv] Die 1960er Jahre gelten als das Jahrzehnt, in dem sich die Pop Art auf dem Kunstmarkt und in den Institutionen durchsetzte. Anschließend verbreitete sie sich in ganz Europa. Die Pop Art, welche sich überwiegend mit dem Konsum auseinandersetzte, wurde durch die Wirtschaftspolitik Kennedys – welche auf der Vorstellung aufbaute, dass die Stabilität der Wirtschaft von der Stimulation jedes Einzelnen zum Konsum befördert werde – begünstigt. (Vgl. Brüning (wie Anm. 6), S. 163 f.; Willi Paul Adams, Die USA im 20. Jahrhundert, (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 29), München 2008, S. 83 f.)
[v] Vgl. Hans Haacke an Otto Piene, Hempsteadt, N.Y., 18. Juli 1963, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1869.
Auch Günther Uecker, Otto Piene und Heinz Mack waren vor 1964 in der US-amerikanischen Ausstellungslandschaft vertreten. Hermann Warner Williams – der Direktor der Corcoran Gallery of Art, Washington D.C. – richtete bereits im Februar 1962 einen Brief an Otto Piene, da er mit der Bildauswahl für die „Internationale Ausstellung moderner Kunst“, unterstützt von der Bundesrepublik Deutschland, beauftragt worden war.[i]
[i] Vgl. Hermann Warner Williams an Otto Piene, Washington D.C., 27. Februar 1962, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.695.

Diese Ausstellung war von 1962 bis 1963 unter dem Titel 16 German Artists (bei Warner Williams noch als Fifteen German Artists angekündigt) in mehreren Institutionen Amerikas zu sehen. Insgesamt war Piene mit fünf Kunstwerken vertreten. Smoke Painting, Red, 1961, Wave of Darkness, 1961, Smoke Painting #1, 1962, Smoke Painting #2, 1962, und Light Ballett, 1962.[i] Die Rauchbilder wurden im Ausstellungskatalog mit Pulse, Pulse, Impulse, 1961; Fire Flower, 1962; und Sun Result, 1962, betitelt. Teile seines Lichtballetts waren beim Transport durch die Vereinigten Staaten – schon in der Cocoran Gallery und später in der Addison Gallery of American Art, Philips Academy, Andover, Massachussetts, beschädigt worden – und es mussten Ersatzteile beschafft werden.[ii]
[i] Vgl. Hermann Warner Williams an Otto Piene, Washington D.C., 20. Juli 1962, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.697.
[ii] Vgl. Donelson F. Hoopes an Otto Piene, Washington D.C., 20. Dezember 1962, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1349_1.; – „The Exhibition is presently at Andover, and I would be grateful if you could send replacemants for the two parts AS SOON AS POSSIBLE.“[ii] (NL Piene, mkp.ZERO.2.I.695).; Ausst.-Kat. Sixteen German Artists, 1962, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.VII.254.


Auch Heinz Mack war an dieser Ausstellung beteiligt gewesen, wie ein Schreiben der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Washington vom Dezember 1962 belegt, in welchem man ihm für seine Beteiligung dankt. Der Ausstellungskatalog listet auch fünfseiner Werke, die alle von der Galerie Schmela geliehen wurden: Dynamic Structure in White, 1960; White Oval, 1960; Dynamic Structure in White on Black, 1961; Light Relief, 1961-62 sowie Dynamic Structure in Black, 1962.[i]
Sowohl Mack als auch Piene gewannen Preise bei der vierten Guggenheim International Award Exhibition 1964, welche finanziell vom Solomon R. Guggenheim Museum in New York unterstützt wurde. Die Wanderausstellung zeigte Kunst aus aller Welt. Aus jedem Land durften allerdings nur fünf Künstler*innen teilnehmen. Von Piene wurde das Werk Pink Fire Flower, 1963, gezeigt.[ii] Nachdem Lawrence Alloway im August 1963 in Düsseldorf war, um sich Pienes Werkeanzusehen, wählte er für die Award-Show zudem das Werk von Heinz Mack Cardiogram of the Cyclops, 1961-62, aus.[iii] Ebenso war die Dalzell Hatfield Gallerie 1963 an der Skulptur Teller-Objekt von Heinz Mack interessiert und bot ihm eine Ausstellungsplattform an, während Otto Piene noch im selben Jahr von Alloway für eine weitere Ausstellung im Guggenheim ausgewählt wurde.[iv]
[i] Vgl. Dr. Hanns-Erich Haack an Heinz Mack, Washington, 6. Dezember 1962, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, mkp.ZERO.1.94.
[ii] Vgl. Hillings (wie Anm. 16), S. 220.; Vgl. Lawrence Alloway an Otto Piene, New York, 8. August 1963, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1949_2. – Die Guggenheim International Award Exhibition war 1956 gegründet worden und wurde alle zwei Jahre ausgetragen. Die daraus resultierende Wanderausstellung sollte noch in zwei weiteren amerikanischen Städten gezeigt werden.
[iii] Vgl. Lawrence Alloway an Otto Piene, New York, 21. August 1963, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1950_2.
[iv] Vgl. D. Hatfield an Heinz Mack, Los Angeles, 20. November 1963, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, mkp.ZERO.1.157. – Das Carnegie Institute, Department of Fine Arts, Pittsburgh, Pennsylvania, schrieb Heinz Mack, dass das Glas seines Lichtdynamos gebrochen sei und sie diesen so nicht ausstellen wollten. (VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.123.). Die Ausstellung im Guggenheim wurde schließlich verschoben beziehungsweise zweigeteilt. Erst eine Schau amerikanischer Zeichenkunst und darauffolgend dann europäische Künstler. (NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1954). Diese Ausstellung wurde schließlich verschoben, beziehungsweise zweigeteilt. Erst eine Schau amerikanischer Zeichenkunst und darauffolgend dann europäische Künstler.


Lawrence Alloway protegierte nicht nur die damals aufkommende Pop-Art, sondern beobachtete die europäische Kunstszene. Ein Werk Günther Ueckers aus der Sammlung des amerikanischen Künstlers George Rickey wurde zudem in der Gruppenausstellung On the Move. Kinetic Scupltures, 1964, in der Howard Wise Gallery, New York, präsentiert. Uecker war im darauffolgenden Jahr in acht Gruppenausstellungen in Amerika vertreten. Unter anderem wurden seine Werke im Zuge der Präsentation der Rickey Collection im Institute of History of Art in Albany gezeigt; im University Art Museum, Austin, welches die Ausstellung An Exhibition of Retinal and Perceptual Art präsentierte und in der Sachs Gallery, New York in der Ausstellung quantum I.[i]
Piero Dorazio (1927-2005), der zum erweiterten Kreis der ZERO-Künstler*innen hinzuzuzählen ist, lehrte zu dieser Zeit an der University of Pennsylvania. Bereits 1953 hatte Dorazio ein Jahr in Amerika verbracht und 1959 den Lehrauftrag an der University of Pennsylvania übernommen. Auf einer Postkarte ohne Datierung teilt er Piene mit, dass er ihn an der Universität für einen Semesteraufenthalt vorgeschlagen habe.
[i] Vgl. Hillings (wie Anm. 16), S. 220.


Ein Brief der University of Pennsylvania vom 5. März 1964 belegt, dass die Universität bereits 1963 versucht hatte, Piene als Gastdozenten für das Herbst/Wintersemester zu bekommen.[i]Dieser hatte aufgrund von Zeitmangel absagen müssen.
[i] Vgl. Piero Dorazio an Otto Piene, Philadelphia, o.D., Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1471.; Thomas B.A. Godfrey, Pennsylvania, Philadelphia, 20. Juni 1963, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1977_2.
„Last year we wrote you, too late I am afraid to enable you to make plans for a visit to Philadelphia in the Fall of 1963. We were very disappointed that you were unable to come, and I am again writing in the hope that we may interest you in spending one term with us as Visiting Critic in Painting […].“[i]
[i] G. Holmes Perkins an Otto Piene, Pennsylvania, Philadelphia, 5. März 1964, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1753. Siehe auch Brief der Universität vom 19. Juli 1963, in dem Thomas B.A. Godfrey seine Enttäuschung über Pienes Absage zum Ausdruck bringt, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1973_2. Entwurf für Pienes Absage aufgrund des Zeitmangels für die Vorbereitungen,NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1975_1 .
Während Pienes Lehrzeit wurde auch Heinz Mack an die Universität eingeladen, um sein Sahara-Projekt vorzustellen. „I understand from Otto that you will be in this country during the month of November and if you are in New York and can visit us at the School for a day, we should be happy […].“[i]
[i] Thomas B.A. Godfrey an Heinz Mack, Pennsylvania, Philadelphia, 1. Oktober 1964, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, mkp.ZERO.1.I.965. Antwort von Mack, VL Mack, mkp.ZERO.1.I.966.


Zu diesem Zeitpunkt war ZERO in Amerika angekommen. Beinahe zeitgleich zu der Ausstellung in Pennsylvania präsentierte der Galerist Howard Wise die erste Ausstellung des „Triumvirats“ Mack, Piene, Uecker in seiner Galerie in New York.[i] Die deutsche Nachkriegskunst war in Amerika bis zu diesem Zeitpunkt relativ unbeachtet gewesen. Valerie Hillings ist der Meinung, dass „the interest in the show by the press marked a shift in American attitudes towards German art“.[iii]
[i] Vgl. Thekla Zell, „Wanderzirkus ZERO“, in: ZERO, hrsg. von Dirk Pörschmann, Magriet Schavemaker, Köln 2015, S. 19-176, hier S. 132.
[iii] Weitere Informationen zu ZERO und den USA in Rivers Ryan (wie Anm. 1); Kuhn (wie Anm. 1), S.51 f.; Hillings (wie Anm. 16), S. 223.



Endnotes
J Mitmachen
Korrespondenzen im ZERO-Archiv von A bis Z
Rebecca Welkens
Im März 1958 versendeten Heinz Mack (*1931) und Otto Piene (1928–2014) 31 Schreiben an Personen aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft und baten um die Beantwortung der Frage „Bewirkt die gegenwärtige Malerei eminente Formung der Welt?“.[i] Diese Aktion ist als Auftakt der publizistischen Tätigkeit von Mack und Piene zu verstehen, die gerade im Begriff waren, die Zeitschrift ZERO 1 zu konzipieren und die Beantwortung der Frage anstelle eines Vorwortes einsetzen wollten. Die beiden jungen Künstler hatten keine Scheu vor großen Namen, und so schrieben sie beispielsweise dem Physiker Werner Heisenberg (1901–1976) oder dem Philosophen Theodor W. Adorno (1903–1969). Heisenberg ließ über sein Sekretariat verlauten, dass er auf Reisen sei und keine Zeit zur Beantwortung der Frage habe, Adorno allerdings antwortete mit einem längeren Brief, wollte aber dennoch nicht Teil des Projekts werden und bat darum, „diesen Brief nicht in irgendeiner Form zu veröffentlichen oder öffentlich zu verwenden“.[ii]
[i] Dirk Pörschmann, „ZERO bis unendlich. Genese und Geschichte einer Künstlerzeitschrift“, in: in: ZERO 4 3 2 1, hrsg. von Dirk Pörschmann, Mattijs Visser, Düsseldorf 2012, S. 424–442, S. 427.
[ii] Theodor W. Adorno an Heinz Mack und Otto Piene, 18. März 1958, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Otto Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.1162; Werner Heisenberg an Otto Piene, 20. März 1958, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Otto Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.969.


Auch wenn verhältnismäßig wenige der Angeschriebenen am Projekt teilnahmen – zum Schluss waren es nur sechs Personen, deren Texte veröffentlicht wurden –, ist Mack und Pienes Vorhaben insbesondere für die ZERO-Zeit als Startschuss für ein stetig wachsendes Netzwerk zu werten, welches vor allem über die zahlreichen Korrespondenzen zu erschließen ist. Weit über 6000 Korrespondenzen werden heute im Archiv der ZERO foundation aufbewahrt, die von der regen Kommunikationstätigkeit der ZERO-Künstler*innen untereinander, derer, die es werden sollten, und weit darüber hinaus, zeugen, und somit ein lebendiges wie vor allem internationales Bild des ZERO-Netzwerks schufen. Dies bezeugen vor allem die Sprachen in denen die Briefe verfasst sind, darunter viele in Deutsch und Englisch, aber ebenso Kroatisch, Spanisch, Französisch und Italienisch, um nur einige zu nennen.


Zahlreiche Briefe sind wohl heute als geschäftliche Korrespondenzen zu bewerten, da es inhaltlich meist um gemeinsame Ausstellungen oder den Verkauf von Werken ging. Bei genauem Studium der Briefe wird jedoch klar, dass die Trennlinie zwischen Privatem und Geschäftlichem nicht so scharf zu ziehen ist, wie man zunächst annehmen möchte. In vielen Briefen, Telegrammen und Postkarten wird neben Beruflichem auch Persönliches verhandelt, Glückwünsche ausgesprochen und Urlaubsgrüße gesendet, die so von engen Freundschaften einzelner Protagonist*innen untereinander zeugen. Ein Beispiel dafür sind die zahlreichen (Urlaubs-)Postkarten, die sich im Archiv befinden. So bestellt Günther Uecker (*1930) Heinz Mack „schöne Grüße“ aus Frankreich und berichtet vom Fischen mit Yves Klein (1928–1962).[i]Ein anderes Mal senden Heinz Mack, Walter Leblanc (1932–1986), Getulio Alviani (1939–2018) und Nanda Vigo (1936–2020) eine Postkarte aus Mailand mit besten Grüßen an Otto Piene nach Düsseldorf, der dem Treffen in Italien wohl nicht bewohnen konnte.[ii]
[i] Günther Uecker an Heinz Mack, ohne Datum, Archiv der ZERO foundation, Vorlass Heinz Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.873.
[ii] Walter LeBlanc, Heinz Mack, Nanda Vigo und Getulio Alviani an Otto Piene, ohne Datum, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Otto Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.1914.
Doch nicht nur bestehende Bekanntschaften und Freundschaften lassen sich anhand der Korrespondenzen nachvollziehen. Die Briefe bezeugen auch das erste Kontaktknüpfen der Künstler*innen miteinander, wenn beispielsweise Heinz Mack im Juli 1960 einen der ersten Briefe an Lucio Fontana (1899–1968) schreibt und ihn um einen Beitrag für die Zeitschrift ZERO 3 bittet.[i] Über den schriftlichen Austausch wurden ebenso neu geknüpfte Kontakte verfestigt, wie anhand eines Briefes von Hans Haacke (*1936) an Otto Piene im November 1960 nachzuvollziehen ist. Haacke schreibt, dass er den Besuch in Düsseldorf in guter Erinnerung halte und berichtet Piene von seinen neuen Bekanntschaften in Paris, Bernard Aubertin (1934–2015) und Yves Klein (1928–1962). Doch nicht nur das – Haacke erzählt außerdem, dass „die Firma ‚Mack et Piene‘ […] hier als ein Betrieb bekannt ist, in dem irgendwelche neuen Dinge probiert werden, für die man sich vielleicht interessieren müsste“ und zeichnet damit ein lebendiges Bild vom weitreichenden Einfluss ZEROs in Frankreich.[ii]Neben den ersten Kontakten und der Ausweitung des Bekanntenkreises geben die Korrespondenzen ebenso Aufschluss darüber, wann Beziehungen und Zusammenarbeiten ein Ende fanden, wie das Beispiel von Almir Mavignier (1925–2018) zeigt, der im April 1963 den Kontakt zu ZERO erst einmal einstellen wollte und den Wunsch äußerte, nicht mehr an Veranstaltungen im ZERO-Kreis teilzunehmen.[iii]
[i] Heinz Mack an Lucio Fontana [Briefentwurf], 2. Juli 1960, Archiv der ZERO foundation, Vorlass Heinz Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.316.
[ii] Hans Haacke an Otto Piene, 1. November 1960, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Otto Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.847.
[iii] Almir Mavignier an Heinz Mack, 28. April 1963, Archiv der ZERO foundation, Vorlass Heinz Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.809.


Die folgende Auflistung gibt einen Einblick in die schriftliche Welt von ZERO und damit in das reiche Netzwerk, welches sich die ZERO-Künstler*innen innerhalb kürzester Zeit aufbauen konnten. Es sind nur die Namen der Korrespondenzpartner*innen aufgelistet, die vollständig lesbar und vor allem eindeutig zu identifizieren sind. Auf die Auflistung einzelner Institutionen, wie Museen und Galerien, oder auch Firmen, mit denen die ZERO-Künstler*innen zusammengearbeitet haben, wurde aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichtet. Ausgangspunkt sind vor allem die Korrespondenzen aus den Beständen von Heinz Mack und Otto Piene. Es handelt sich dabei sowohl um Personen, denen Mack und Piene selbst schrieben, als auch Briefe, die sie vor allem im Zeitraum der 1950er und 1960er Jahre erhielten.[i]
Zum Schluss soll gesagt sein, dass es sich keinesfalls um eine abgeschlossene Liste handelt. Die Korrespondenzen im Archiv werden stetig weiter erschlossen, sodass die folgende Auflistung vielmehr als ein work in progress zu verstehen ist und nur einen groben Überblick leistet.
[i] Für einen detaillierten Einblick lohnt sich ein Blick in die Datenbank der ZERO foundation, d:kult, die über den folgenden Link abrufbar ist:https://emuseum.duesseldorf.de/institutions/113282/zero-foundation (Letzter Aufruf: 2024.03.12)
A
Abe, Nobuya
Ackermann, Oscar
Adorno, Theodor
Adrian, Marc
Aengevelt, Leo
Albers, Josef
Alberts, Eduard
Alfieri, Bruno
Alloway, Lawrence
Altenstadt, Ulrich S. von
Alviani, Getulio
Apollonio, Umbro
Argan, Carlo Giulio
Arman
Aubertin, Bernard
Aue, Marianne
Aue, Walter
Aust, Günter
B
Baerwind, Rudi
Baier, Hans Alexander
Bänfer, Carl
Barlen, Dieter
Barras, Henri
Bartels, Hermann
Battisti, Eugenio
Baukloh, Friedhelm
Baum, Gustav Adolf
Baum, Stella
Baumgärtel, Gerhard
Beck, Heinz
Becker, Andreas
Bek, Bozo
Belloli, Carlo
Bendixen, Klaus
Berndt, Jürgen
Bethsold, Werner
Bette, J. Michael
Beuys, Eva
Bhavsar, Natvar
Blicke, Maurits
Bill, Max
Blomenroehr, Bernd D.
Böcker, Christa
Boom, Raoul van den
Börner, Klaus
Boukes, Renate
Boveri, Margret A.
Bowen, Denis
Bowness, Alan
Breier, Kilian
Brüning, Peter
Brusberg, Dieter
Buchholz, Erich
Burchartz, Max
Burgauer, Curt
Burnham, Jack
Bury, Pol
Busse, Hal
C
Calderara, Antonio
Castellani, Enrico
Cauduro, Ed
Chatterji, Nimai
Christen, Andreas
Chruxin, Christian
Cladders, Johannes
Clert, Iris
Clüsserath, August
Copier, Dirk
D
Dadamaino
Dahmen, Ursula
Damiano, Charles
Dasi, Gerardo Filberto
Daume, Willi
Dauphin, Gerald
Deilmann, Harald
Dietrich, Hansjoachim
Doldinger, Klaus
Domnick, Greta
Dorazio, Piero
Dorfles, Gillo
Dotremont, Philippe
Drescher, Renate
Dreste, Hans
E
Eckert, Engelbert
Eichler, Hans
Engel, Otmar
Engelskirchen, Hein
Engert, Bernhard
Epple, Waldemar
Epple, Waldemar
Erb, Leo
Ertel, Kurt Friedrich
Estenfelder, Cam
Etecheverry, Diégo
Evans, David
F
Fackler, Helmut
Faigle, Walter
Fassbender, Franz
Fata, Ferruccio
Faulhaber, Ulrich
Fedeck, Walter
Feigel, Marie-Suzanne
Fischer, Ernst
Fischer, Klaus Jürgen
Fitzsimmons, James
Fleischmann-Roepcke, Anna
Fontana, Lucio
Franken, Heinrich
Freese, Jan
Fried, Kurt
Friedman, Martin
Friedrich, Gerhardpaul
Fuchs, Günther
Fuegen, Willy
Funcke, Brigitte
Fyvel, Tosco R.
G
Gardiner, Margaret
Gebhard, Klaus
Geccelli, Johannes
Geelhoed, Lex
Gehlen, Arnold
Geiger, Rupprecht
Gekeler, Hans
Gerber, Helmut
Gerhardt, Renate
Gerlach, Rose D.
Gerstendörfer, J. J.
Gerstner, Karl
Gielow, Wolfgang
Gloudemans, Jan
Godfrey, Thomas B. A.
Goepfert, Hermann
Goeritz, Mathias
Gorges, Claus
Gorzolka, Otto
Gossel, Christa
Gossel, Hans Bernd
Götz, Karl Otto
Graevenitz, Gerhard von
Greef, Ulrich Volker
Green, Samuel Adams
Gribaudo, Ezio
Grisebach, Hanna
Grobe, Gustav
Grochowiak, Thomas
Grohmann, Will
Groschwitz, Gustave von
Grosse, Helmut
Günther, Volkmar
H
Haacke, Hans
Haas, Helmuth de
Haftmann, Werner
Hajek, Otto-Herbert
Hake, Wolfgang
Hammarberg, Jarl
Hammond, John E.
Harms, Gudrun
Hartmann, Adolf
Hartung, Gerd
Hartung, Karl
Hastings, Margarte
Hausmann, Raoul
Hehns, Dietrich
Heimzely, Marc
Heisenberg, Werner
Helms, Dietrich
Hennig, Emil
Herstand, Arnold
Hewitt, Francis R.
Hildebrand, Heide
Hiltmann, Jochen
Hoehme, Gerhard
Hoeydonck, Paul von
Holtmann, Heinz
Holweck, Oskar
Honisch, Dieter
Horn, Karl
Hulten, Pontus
Hündeberg, Jürgen von
I
Iserloh, Hans
J
Jappe, Georg
Jürgen-Fischer, Klaus
K
Kage, Manfred
Kahmen, Volker
Kalinowski, Horst Egon
Kalish, Ursula
Kandzia, Christian
Kaufmann, Herbert
Kawakita, Michiaki
Keller-Hämmerle, Alfons
Kemp, Willi
Kepes, György
Kirschbaum, Walter
Klapheck, Konrad
Klebus, Herbert
Klein, Yves
Kleint, Boris
Knoche, Werner
Knöll, Niklaus
Knorr, Anneliese
Koestler, Arthur
König, Willi
Korn, Karl
Kowallek, Rochus
Kraayenhof, Hans
Kreiterling, Willi
Kricke, Norbert
Krippendorf, Klaus
Krüger, Gerhard Georg
Kühl, Siegfried
Kultermann, Udo
Kusama, Yayoi
L
Laszlo, Carl
Latham, John
Laugs, Heinz Werner
Leblanc, Walter
Leering, Jean
Lehmbrock, Josef
LeParc, Julio
Leuze, Ursula
Linfert, Carl
Lipman, Jean
Lippsmeier, Georg
Liverani, Gian Tomaso
Lo Savio, Francesco
Löffelholz, Franz
Lohmeyer, Brigitte
Lorenz, Marianne
Lück, Herbert
Lückeroth, Jupp
Lufft, Peter
Luther, Adolf
M
Mack, Heinz
Mack, Margret
Mack, Ute
Mäckle, Richard
Maglietta, Nina
Mahlow, Dietrich
Manfred, Ernest
Mansch, Joachim
Manzoni Meroni, Valeria
Manzoni, Piero
Marck, Jan van der
Mari, Enzo
Marx, Eberhard
Massironi, Manfredo
Mavignier, Almir
McCray. Porter
Megert, Christian
Meinborn, Els
Meisner, Günter
Melland, David
Menninger, Klaus
Mestrovic, Matko
Meyerholz, Hans
Mikorey, Franz
Moeller, Hans
Moldow, Ira
Moll, Paul
Morschel, Jürgen
Motte, Manfred de la
Muche, Georg
Müllenholz, Leo
Müller, Hans-Jürgen
Müller-Hauck, Janni
Murakami, Moriyuki
N
Naegeli, Eduard
Nebel, Karl
Nebelung, Hella
Neuerburg, Doris
Neufert, Peter
Neumann, Eckhard
Noah, Heinz
Nordland, Gerald
Novarro, Eddy
Novarro, Nana
O
Oehm, Herbert
Oestereich, Jürgen
Oppen, Hans von
Otto, Wolfgang Th.
P
Paik, Nam June
Pée, Herbert
Peeters, Henk
Pellegrini, Aldo
Perkins, G. Holmes
Petersen, Ad
Petersen, Peter Jes
Petitot, Léonce
Pfennig, Reinhard
Piek, Heinz
Piene, Otto
Pietzsch, Eva
Plaoutine, Nicolas
Platschek, Hans
Pohl, Uli
Pomodoro, Arnaldo
Pomodoro, Gio
Popper, Frank
Puvogel, Edgar H.
Q
Quinte, Lothar
R
Radin, Paul
Rahn, Eckart
Rainer, Arnulf
Ramsbott, Wolfgang
Rathke, Wolfgang
Raum, Walter
Reindel, Wolfgang
Rekort, Hartmut
René, Denise
Renger, Konrad
Restany, Pierre
Reydams, Jacqueline
Richter, Hans
Rickey, George
Río, Eustolio del
Rodker, Joan M.
Roeckenschuss, Christian
Roh, Franz
Roh, Juliane
Rose, Barbara
Rosenquist, Jim
Rosenthal, Nan
Rosenthal, Sol Roy
Rot, Diter
Rothe, Wolfgang
Rottloff, Helgard
Rotzler, Willy
Ruhnau, Werner
Ruhrberg, Karl
Rumbler, Helmut
Ruths, Heiner
S
Salentin, Hans
Schiessel, Johanna
Schirmer, Lutz
Schmalenbach, Werner
Schmela, Alfred
Schmela, Monika
Schmidt, Thomas
Schmied, Wieland
Schneider, Aenne
Schneider-Esleben, Paul
Schnitzler, Dieter
Schönenberger, Horst
Schreib, Werner
Schröder, Anneliese
Schroeter, Rolf
Schuldt, Herbert
Schulze-Vellinghausen, Albert
Schumacher, Emil
Schurz, Carl
Schwager, Frithjof
Schwarz, Arturo
Schweicher, Curt
Schweighofer, Fritz
Schwickert, Ludwig
Schwippert, Hans
Sedlmayr, Hans
Seel, Eberhard
Seide, Wilhelm
Seitz, Fritz
Seitz, Wilhelm C.
Seyfried, Ludwig
Shimbun, Yomiuri
Siepmann, Heinrich
Simmat, William E.
Slotnick, Merv
Sloves, Jack
Sonnabend, Michael
Soprano, Edoardo
Soto, Jesús Rafael
Spielberg, Joan
Spielberger, Roman
Spielmann, Heinz
Spindel, Ferdinand
Spoerri, Daniel
Stachelhaus, Heiner
Stahl, Lotte
Stankowski, Anton
Stassig, Franz
Staudt, Klaus
Stempel, Hans
Stiehl, Hans Adolf
Stielow, Reimar
Stolz, Elisabeth
Storck, Gerhard
Sturm, Robert
Szeemann, Harald
T
Thwaites, John Anthony
Tigerman, Stanley
Tilmann, Gustav
Tinguely, Jean
Tischer, Manfred
Trier, Eduard
Trost, Horst E.
Trouillard, John
Tunnard, Peter H.
U
Uecker, Günther
Ungers, Oswald Mathias
V
Vanista, Josip
Verheyen, Jef
Vietta, Egon
Vigo, Nanda
Vircher, Antoinette
Vismara, Zita
Vogel, Albert
Vogel, Hermann
Vollmer, Franziska
Vostell, Wolf
Vree, Paul de
vries, herman de
W
Wacker, Karl-Heinz
Walter, Hans-Albert
Wasmuth, Johannes
Wedewer, Josef
Wedewer, Rolf
Wehling, Oskar
Weidler, Charlotte
Wember, Paul
Westphal, Bernd
Wiegers, Hartmut
Wiehager, Renate
Wilhelm, Jean Pierre
Wilkes, Günter
Williams, Emmett
Williams, Hermann Warner
Willing, Jürgen
Winkler, Gerhard
Wise, Howard
Wolfshohl, Ernst-Otto
Wormland, Theo
Wunderwald, Alfred
Wunderwald, Erika
X
Y
Z
Zander, Josef
Zillmann, Adolf
Mehr Korrespondenz




Endnotes
K Kinetik
Die ZERO-Bewegung und die bewegte Kunst
Anna-Lena Weise
[i] Marc Adrian an Otto Piene, Wien, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.1027_1.
Die 1960er Jahre werden als das Jahrzehnt erinnert, in welchem die kinetische Kunst[i] sich in Europa und Nordamerika besonderer Beliebtheit erfreute. Erste Anregungen in dieser Richtung lassen sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Dynamismus und Futurismus finden. Der Ursprung dieser Kunstrichtung wird auf die Jahre zwischen 1913 und 1920 festgelegt. Diese Daten sind nicht zufällig gewählt, sondern markieren die Entstehungsjahre wichtiger kinetischer Werke: 1913 entstand Marcel Duchamps (1887-1968) Bicyclette und 1920 Naum Gabos (1890-1977) Kinetische Konstruktion. Beide Werke können als Ausgangspunkt zu einer Auseinandersetzung mit dem Phänomen Bewegung in der Kunst und ihrer bildnerischen Möglichkeiten gesehen werden.[ii]
Vielfach ist versucht worden, eine historische Darstellung der kinetischen Kunst zu liefern, welche lang ist, wenn die im Kunstwerk suggerierte Bewegung dort mit einbezogen wird. Zusammenfassungen existieren von George Rickey (1907-2002), Pontus G. Hultén (1924-2006), Jack Burnham (1931-2019), Wolfgang Ramsbott (1934-1991) und Frank Popper (1918-2020). Frank Popper begann bereits Anfang der 1960er Jahre mit den Vorbereitungen zu seiner umfangreichen Abhandlung Naissance de l’art kinétique, 1967 (Origins and Development of Kinetic Art, Art, Action, and Participation, Art of the Electronic Age, 1968). Insbesondere die Aufnahme zeitgenössischer Positionen zeichnet seine umfangreiche Abhandlung aus. Auch Heinz Mack (*1931) und Otto Piene (1928-2014) schrieb er 1964 aus diesem Grund an:
[i] Kinetik bezeichnet in der Physik die Bewegungslehre. Hier wird untersucht, wie sich Kräfte auf die Bewegungsgrößen eines Körpers, z.B. seine Geschwindigkeit auswirken. Der Begriff stammt aus dem Griechischen. Dort bedeutet das Wort „kinesis“ Bewegung. Die kinetische Kunst erhebt die Bewegung zum Gestaltungsprinzip. Darunter können im Endeffekt alle Werke aufgenommen werden, deren Hauptgewicht auf der Bewegung als Ausdrucksmittel liegt. Etymologisch gesehen kann es sich dabei um aktive oder passive Bewegung handeln.
[ii] Vgl. Hans-Jürgen Buderer, Kinetische Kunst. Konzeptionen von Bewegung und Raum, Worms 1992, S. 7.; Vgl. Christina Chau, „Kinetic Systems. Jack Burnham and Hans Haacke“, in: Contemporaneity, Bd. 3, Nr. 1 (2014), S. 62-76, hier S. 63.; Vgl. Anina Baum, „Über das Licht zur Bewegung: kinetische Skulpturen bei Heinz Mack/From Light to Movement: Kinetic Sculptures by Heinz Mack“, in: Mack. Kinetik/Kinetics, Ausst.Kat. Museum Abteiberg Mönchengladbach, Mönchengladbach 2011, S. 94-115, hier S. 94.
„Je travaille actuellement à un ouvrage sur le mouvement dans les arts plastiques et j’aimarais y inclure des informations concenant vos oeuvres.“[i]
[i] Frank Popper an Heinz Mack, Paris, 15. Oktober 1964, Archiv der ZERO foundation, Vorlass Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.1253. („Ich arbeite gerade an einem Buch über Bewegung in der bildenden Kunst und würde gerne Informationen zu Ihren Werken einfügen.“ Übersetzt von der Autorin)
Und während sich Popper durchaus positiv über den Einsatz der Kinetik innerhalb der Kunstwelt äußerte, sieht Jack Burnham ihn bereits 1968 in seiner Publikation Beyond Modern Sculpture[i]als überholte Praxis an. Für Burnham steht fest, dass die kinetische Kunst aufgrund ihrer Überschneidungen mit Wissenschaft und Technologie das Potenzial gehabt hätte, eine dominante künstlerische Praktik zu werden. Dieses Ziel sieht er jedoch als verfehlt an.[ii]
Die Kinetik stellte sich als Trend dar, dessen Ursprung weit vor der Mitte des Jahrhunderts zu finden ist, und der nach den 1960er Jahren wieder schnell abflachte.[iii] Das Experimentieren mit neuer Technologie innerhalb der Kunstwelt war in dieser Zeit sogar bei einem „Mainstream-Publikum“ angesehen. Diese Beobachtung wird durch eine große Anzahl an Kinetik-Ausstellungen bestätigt, an denen die ZERO-Künstler*innen beteiligt waren.
[i] Vgl. Jack Burnham, Beyond Modern Sculpture: The Effects of Science and Technology on the Scuplture of this Century, New York 1968.
[ii] Vgl. Chau (wie Anm. 3), S. 63 f.; Vgl. Burnham (wie Anm. 5), S. 218-221.
[iii] Vgl. Buderer (wie Anm. 3), S. 7.; Vgl. Chau (wie Anm. 3), S. 63.
Im Jahr 1955 organisierte Pontus Hultén zusammen mit Victor Vasarely (1906-1997), Roger Bordier (1923-2015) und Robert Breer (1926-2011) die Ausstellung Le mouvement in der Pariser Galerie Denise René, die den Startschuss für den regelrechten Kinetik-Hype der 1960er Jahre lieferte. Es wurden Werke von Yaacov Agam (*1928), Pol Bury (1922-2005), Alexander Calder (1898-1976), Marcel Duchamp (1887-1968), Robert Jacobsen (1912-1993), Jesús Rafael Soto (1923-2005), Jean Tinguely (1925-1991) und Victor Vasarely gezeigt, die zu den Pionieren und wichtigsten Vertretern innerhalb der kinetischen Kunst zählen.

Diese Ausstellung wird nicht nur als erste Schau der beweglichen Kunst aufgefasst, sondern zeigte vor allem das komplette Spektrum der kinetischen Kunst.[i] Es gibt mehrere Unterkategorien: Dazu zählen optisch bewegte Werke (optische Kinetik), deren Wirkung sich erst durch die Bewegung der Betrachter*innen im Raum entfalten kann. Andere Objekte sind auf eine direkte physische Interaktion der Betrachter*innen angewiesen und lassen sich von ihnen verändern (Spielobjekte). Wiederum andere bewegen sich aufgrund der Einwirkung von Naturkräften, zum Beispiel Wasser, Gravitation und Wind (Mobiles, Magnete) oder verfügen über eine Motorisierung und bewegen sich somit von allein (Maschinenwerke).[ii]
[i] Mehr zu der Ausstellung Le mouvement in: Le Mouvement. Vom Kino zur Kinetik, Ausst.-Kat. Museum Tinguely, Basel 2010.
[ii] Wie viele Unterkategorien es gibt, bzw. was alles zur Kinetik dazugezählt werden kann, und wie diese verschiedenen Teilgebiete zu bezeichnen sind, ist nicht festgelegt. Innerhalb der Forschung herrscht darüber Uneinigkeit.
Paul Wember ist der Meinung, dass „die Ausdruckskraft der kinetischen Arbeiten […] unendliche Variationsmöglichkeiten“ biete, „von der reinen, zarten Bewegung bis zur spektakulären Schrottmaschine […]. Die Gegensätzlichkeiten zeigen die Variation der Ausdrucksmöglichkeit. So sind die zarten Vibrationen bei Soto und Vasarely schöne Ergänzungen zu den selbst zu manipulierenden Steckbildern und Tastbildern des Yaacov Agam […].“[i]
[i] Paul Wember, Bewegte Bereiche der Kunst, Kaiser Wilhelm-Museum Krefeld, Krefeld 1963, S. 12.
Dem Thema der Vibration als Faktor der modernen Ästhetik, welcher sich im Spannungsverhältnis zwischen Ruhe sowie potenzieller Bewegung befindet, widmeten sich Heinz Mack und Otto Piene 1958 in ihrer 8. Abendausstellung[i] als eine der ersten. In Pienes Rauchbildern und Macks Dynamischen Strukturen lässt sich dieser „Ausdruck einer kontinuierlichen Bewegung, die wir Vibration nennen, und die unser Auge ästhetisch erlebt […].“[ii] wiederfinden. Ausgelöst wird der Effekt durch den Kontrast aus optisch hervortretenden dunklen Partien und hellen in den Hintergrund zurücktretenden Bildteilen, die sich gegenseitig leicht überlagern.
Von 1959 bis 1966 lassen sich über 30 weitere Gruppenausstellungen auflisten[iii], die sich in irgendeiner Form mit der Bewegung in der Kunst auseinandersetzten. Angefangen mit der Schau im Hessenhuis, Antwerpen Vision in Motion – Motion in Vision, 1959, bei der Daniel Spoerri (*1930) sein Autotheater[iv], 1959, präsentierte, welches er mithilfe Jean Tinguelys motorisiert hatte.[v] Gefolgt von Spoerris Projekt, der Ausstellung der multiplizierten Kunstwerke, die sich bewegen oder bewegen lassen, 1959/60, die aus Paris über London sowie Stockholm ihren Weg nach Krefeld fand und von seiner Edition MAT präsentiert wurde.[vi] Das Besondere an Spoerris „mobiler Galerie“ war, dass die Besucher*innen regelrecht gezwungen waren, die Werke anzufassen, um sie in einen veränderten Zustand zu versetzen.[vii] Der im musealen Kontext häufig gebrauchte und stereotype Satz „bitte nicht berühren“ war an keinem der Objekte zu finden.[viii]
[i] Es nahmen nur Oskar Holweck, Heinz Mack, Almir Mavignier, Otto Piene und Adolf Zillmann an dieser Ausstellung teil. Die Ausstellung war zunächst mit dem Titel „Raster“ versehen. Siehe dazu Oskar Holweck an Otto Piene, Saarbrücken, 10. März 1958, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.880.
[ii] Heinz Mack, „Die Ruhe der Unruhe“, in: ZERO 2, Düsseldorf 1959, S. 20.
[iii] Diese Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
[iv] Autotheater von Daniel Spoerri, 1959/ Rekonstruktion 2014, Spiegel 180 x 50 cm, Gestänge 240 cm, Kreuz 189 cm, Stange 182 cm, kleine Schilder 35 x 20; 40 x2 0 cm, Metall, Holz, Kunststoff, Papier, Sammlung der ZERO foundation, Inv. Nr. mkp.ZERO.2015.02.
[v] Die Ausstellung war eigentlich ohne Titel präsentiert worden. Der Titel Vision in Motion – Motion in Vision leitete sich später vom Ausstellungskatalog ab, der als Leitmotiv die gleichlautende Formulierung Moholy-Nagys voranstellte. Piene bezeichnete diese Ausstellung in seinem Text „Die Entstehung der Gruppe ‚Zero‘“, der am 03.09.1964 im Times Literary Supplement erschien, als wahrscheinlich bedeutendste ZERO-Ausstellung. Siehe auch Einladung von Marc Callewaert an Heinz Mack, Antwerpen, 12. Februar 1959, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.330.
[vi] Die Ausstellung wurde insgesamt auf sieben Stationen in Europa gezeigt: Paris, Mailand, London, Newcastle, Stockholm, Krefeld und Zürich. Die Edition MAT stellte Auflagenojekte her – „multiplizierte Kunstwerke“ – die dann zeitgleich an verschiedenen Standorten gezeigt werden konnten. Siehe dazu Brief von Daniel Spoerri an Heinz Mack, Paris, 11. März 1960, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.899.
[vii] Zu Daniel Spoerris Edition MAT siehe, Ulrike Schmitt: „An ‚Art Manager‘ on the Road. Daniel Spoerri and his Edition MAT“, in: The Artist as Curator, Collaborative Initiatives in the International ZERO Movement 1957-1967,hrsg. von Tiziana Caianiello, Mattijs Visser, Ghent 2015, S. 193-219.
[viii] Vgl. Zeitungsartikel, 11. April 1960, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.II.42.
1961 fand neben Movement in Art, Howard Wise Gallery, Cleveland, dann die erste umfassende Ausstellung zur Bewegung in der Kunst Bewogen Beweging im Stedelijk Museum Amsterdam statt, die danach unter dem Titel Rörelse i Konsten im Moderna Museet, Stockholm und als Bevaegelse I Kunsten im Museum of Modern Art, Kopenhagen, gezeigt wurde. Mehr als 50 Künstler*innen nahmen an dieser Exposition teil, unter ihnen viele die heute der ZERO-Bewegung zugerechnet werden.[i]
Das Stedelijk Museum, Amsterdam, präsentierte 1962 die experimentelle Schau Dylaby: dynamisch labyrinth von Jean Tinguely, Daniel Spoerri, Robert Rauschenberg (1925-2008), Martial Raysse (*1936), Niki de Saint Phalle (1930-2002) und Per Olof Ultvedt (1927-2006). Die Idee ging auf Willem Sandberg (1897-1984) zurück, der auch bei der Planung von Bewogen Beweging eine Rolle gespielt hatte. Geplant waren Räume, in denen Besucher*innen keine getrennt wahrnehmbaren Werke vorfinden würden. Noch im selben Jahr zeigte die Galleria Vittorio Emanuele in Mailand Arte programmata. Arte cinetica. Opere multiplicate. Opera aperta,die unter anderem Werke italienischer Künstler*innen der Gruppo T, Gruppo N (Enne) und GRAV beinhaltete.
[i] Den Austausch zwischen Daniel Spoerri, Jean Tinguely, Pontus Hultén und Willem Sandberg behandelt Andres Pardey in, „Curating Bewogen Beweging. The Exchange between Daniel Spoerri, Jean Tinguely, Pontus Hultén, and Willem Sandberg“, in: Caianiello, Visser (wie Anm. 17), S.221-235.
Bis 1965 folgten kleinere Schauen, hauptsächlich in Galerien, die das Thema Kinetik in unterschiedlichsten Ausformungen verfolgten. Die Galerie Hella Nebelung in Düsseldorf nahm sich der Bewegung in der Kunst gleich zweimal an in Kinetische Arbeiten, 1963, und Kinetik II, 1964. Neben Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker (*1930) waren dort Almir Mavignier (1925-2018), Uli Pohl (*1935) sowie Gerhard von Graevenitz (1934-1983) beteiligt.[i]
[i] Siehe dazu die Plakate der Galerie im Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.VII.167 und mkp.ZERO.1.VII.168_1.


Drei Ausstellungen fanden 1964 in London statt: Art in Motion, Royal College of Art; Structures vivantes. Mobiles Images, Redfern Gallery; Movement, Hanover Galerie.[i] Die Gimpel & Hanover Galerie in Zürich griff das Sujet noch im gleichen Jahr in Bewegung = Mouvementauf. In New York war Günther Uecker als einziger der Gruppe ZERO bei On the Move, Howard Wise Gallery, vertreten, welche Tina Rivers Ryan als „leading gallery for kinetic art in New York […]“[ii] bezeichnet.
1965 ist dann das Jahr, in dem sich die Kinetik als unübersehbarer Trend im Ausstellungswesen abzuzeichnen beginnt: Kinetic Art, Galerie 20, Arnheim, Rotterdam; Progression, Manchester College of Art and Design; Kinetic Art, Art Club of Chicago; Kinetic and Optic – Art Today, Buffalo Festival of the Arts Today und Albright Knox Art Gallery, Buffalo; Art and Movement, Royal Scottish Academy, Edinburgh und Art Gallery and Museum Kelvingrove, Glasgow; Movement II, Hanover Gallery, London; Kinetische kunst uit Krefeld, Gemeentemuseum, The Hague, und Stedelijk van Abbemuseum, Eindhoven; Kinetik und Objekte[iii], Staatsgalerie Stuttgart und Badischer Kunstverein, Karlsruhe; Arte cinetica, Azienda Autonoma di Soggiorna e Turismo di Trieste, Triest.
Denise René (1913-2012) knüpfte in ihrer Galerie in Paris mit Mouvement II, 1964,[iv] und Art et Mouvement. Art Optique et Cinétique, 1965, gleich mit zwei Ausstellungen an ihre berühmte Schau aus den 1950er Jahren an. Letztere wurde zudem in Tel Aviv gezeigt. Haim Gamzu (1910-1982) verweist in seinem Vorwort des Ausstellungskatalogs bereits auf das „merging of movement with time that imparts some new immanence to the observer’s visual sense, an essence of real and organic continuity, of some palpable methamorphosis that actually inheres within the work itself, instead of being divided up into static segments linked together by some conventional continuity.“[v] Denn Werke, die Betrachter*innen zur Bewegung auffordern oder wandelbar in ihrer Erscheinung sind, beziehen zwangsläufig das Element der Zeit ein.
Das Potenzial der Kinetik als Mittel neuer Zeitwahrnehmung innerhalb der Kunst wurde im darauffolgenden Jahr in der Ausstellung Directions in Kinetic Sculpture, University Art Museum, Berkeley, 1966, thematisiert. Sie gehörte zu den ersten Projekten, die eine Debatte zur Ästhetik der Bewegung durch Technologie in der Kunst der 1960er Jahre anstieß. Die Verbindung von Zeit, Bewegung und Technologie wurde von Peter Selz (1919-2019), dem Kurator der Ausstellung, immer wieder betont.
[i] Zu diesen Ausstellungen lassen sich sehr wenige Informationen finden. Bei keiner können die beteiligten Künstler*innen vollständig nachvollzogen werden. Lediglich die Teilnehmer*innen von Movement in der Hanover Gallery können benannt werden: Richard Hamilton, Jean Tinguely, Richard Mortensen, Francisco Sobrino, Barry Hirst, Josef Albers, Victor Vasarely, Julio Le Parc, Bridget Riley, Gregorio Vardánega, Pol Bury, Yvaral, François Morellet, Takis und Nicolas Schöffer.
[ii] Tina Rivers Ryan, „Before it Blows up. ZERO’s American Debut and its Legacy“, in: Caianiello, Visser (wie Anm. 17), S. 363-369, hier S. 363.
[iii] Arnulf Wynen im Auftrag der Staatsgalerie Stuttgart an Heinz Mack, Stuttgart, 30. Dezember 1964, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.1374.
[iv] Galerie Denise René an Heinz Mack, Paris, 22. Oktober 1964, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.391_2.
[v] Haim Gamzu, Foreword, Ausst. Kat. Art et Mouvement, Museum Tel Aviv, Tel Aviv 1965, o.S.
Seit Einsteins Relativitätstheorie von 1905 stellte die Zeit eine bewusste Komponente dar, deren Wert von Wissenschaftler*innen und Künstler*innen besonders betont wurde. Die italienischen Futurist*innen forderten schon 1909 „die Bewegung als Funktion der Zeit in die Kunst aufzunehmen.“[i]
[i] Wember (wie Anm. 10), S. 9.; Vgl. Baum (wie Anm. 3), S. 98.
Bis in die 1970er Jahre wurde die kinetische Skulptur als populäre, aufstrebende Methodik angesehen, die Pionierarbeit auf dem Gebiet der Verzahnung von Kunst, Wissenschaft und Technologie leistete. Die Künstler*innen, welche sich mit der Kinetik beschäftigten, wurden als „‚space-age artists`“ angesehen, „who were at the forefront of technology and art.“[i]
[i] Christina Chau, Movement, Time, Technology, and Art, Singapore 2017, S. 39. – Die Ausstellung Directions in Kinetic Sculpture, 1965, soll laut Chau besonders gut beim Publikum angekommen sein und von über 80.000 Besuchern gesehen worden sein. Bis zum Ende der 1960er Jahre folgten noch viele weitere Kinetik-Ausstellungen.
Die ZERO-Künstler*innen wiesen eine mal größere, mal weniger große Beteiligung an den Kinetik-Ausstellungen zwischen 1959 und 1966 auf. Jean Tinguely und Heinz Mack nahmen beide an 20 Ausstellungen teil, Pol Bury und Jésus Rafael Soto jeweils an 14, Günther Uecker war 13 mal vertreten und Otto Piene steuerte zu 12 Ausstellungen Werke bei.[i]
Sie alle widmeten sich auf differente Weise der Bewegung in der Kunst und verfolgten damit unterschiedliche Ziele: Zum einen stand die Vorführung verschiedener Bewegungsabläufe als plastische Wiedergabe von Dynamik oder Nachahmung der Natur – zum Beispiel die Gravitation –im Vordergrund. Zum anderen konnte mithilfe der Mechanisierung der Objekte die Verbindung zwischen Kunst, Wissenschaft und Technik aufgezeigt werden. Wissenschaftliche Forschung und künstlerische Innovation stehen in diesen Werken in offensichtlicher, enger Verbindung zueinander. Teils lag der Fokus aber auch nur auf dem „funktionslose[n] Funktionieren einer Maschine“[ii]. Gleichzeitig konnte die Variabilität eines Kunstobjektes verdeutlicht werden. Durch die permanente Veränderung erschienen die Werke in konstant anderen Formationen. Objekte, die dabei von Hand bedient wurden, boten kein Schauspiel, sondern luden die Betrachter*innen zum Spielen ein, denn sie „stehen auf eine besondere Weise zwischen Spiel und Bewußtsein, Spielzeug und Poesie.“[iii]
Zudem war es möglich durch Illusion und Vibration, die auf wahrnehmungstheoretischen Effekten basieren, auf die Wahrnehmung der Betrachter*innen einzuwirken. Diese Werke veränderten ihr Aussehen je nach Standort der Rezipient*innen, waren selbst jedoch vollkommen statisch.
[i] Uli Pohl: 7; Paul Talman: 7; Gerhard von Graevenitz: 7; Dieter Roth: 6; Hermann Goepfert: 5; Walter LeBlanc: 5; Christian Megert: 4; Herman de Vries: 4; Almir Mavignier: 3; Gotthard Graubner: 2; Daniel Spoerri: 2; Bernard Aubertin, Oskar Holweck, Yves Klein, Adolf Luther, Paul van Hoeydonck und Nanda Vigo: 1.
[ii] Buderer (wie Anm. 3), S. 8.
[iii] Wember (wie Anm. 10), S. 19.
Nach Anina Baum gewinnt die kinetische Kunst in den 1960er Jahren „populäre Durchschlagskraft“[i], in dem Moment, als neben realer Bewegung auch reales Licht verstärkt in das Kunstschaffen einzieht. Licht und Bewegung, die beiden Begriffe sind in der Kunstwelt untrennbar miteinander verbunden, und daher überrascht es nicht, dass sie in mehreren Ausstellungstiteln der 1960er Jahre in Kombination auftreten. Ihre Verbindung zeigt sich konkret in einem weiteren Teilaspekt der kinetischen Kunst – der Lichtkinetik.
Diese lässt sich von drei Quellen ableiten: den Lichtfarborgeln, der Fotografie beziehungsweise dem Film sowie Theaterprojektionen. Das Bauhaus lieferte in den 1920er Jahren mit vielfältigen Lichtaktionen weitere Impulse, aber erst László Moholy-Nagy (1895-1946) verband die Kinetik mit der Lichtkunst. Sein Licht-Raum-Modulator von 1930 zählt zu den wichtigsten Werken im Bereich der Lichtkinetik, deren Durchbruch zur eigenständigen Kunstform erst in den 1950er Jahren mit Frank Malinas ersten Tableux Lumineux, 1955, gelang. Diese Kunstform, die sich methodisch um die Kreation bewegter Lichteffekte bemüht, ist das Gebiet der kinetischen Kunst, welches in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre die größten Fortschritte machte.[ii]
[i] Baum (wie Anm. 3), S. 96.
[ii] Vgl. Frank Popper, „Die Lichtkinetik /Light Kinetics“, in: Lichtkunst aus Kunstlicht/Light Art from Artificial Light. Licht als Medium der Kunst im 20. Und 21. Jahrhundert/Light as a Medium in 20th and 21th Century Art, Ausst.-Kat. ZKM Karlsruhe, Ostfildern 2006, S. 424-447, hier S. 424, 428ff., 431.
Ausstellungen wie Licht und Bewegung in der Kunsthalle Bern, 1965; Lumière Mouvement et Optique, Palais des Beaux-Arts, Brüssel, 1965; Licht und Bewegung, Modus Möbel GmbH, Berlin, 1965; KunstLichtKunst im Stedelijk van Abbemuseum in Eindhoven, 1966; Licht und Bewegung, Kunstzentrum TVENSTER, Amsterdam, später in der Galerie Al-Veka, Den Haag, 1966; Lumière et Mouvement im Pariser Musée Munipal d’Art Moderne, 1967; Light/Motion/Space, Walker Art Center, Minneapolis, 1967; Light and Motion, Worcester Art Museum, Worcester, 1967 und weitere trugen maßgeblich zu dieser Entwicklung bei.
Licht und Bewegung – Kinetische Kunst, Kunsthalle Bern, gehört zu den größten Überblicksausstellungen zum Thema Kinetik. Sie stellte erstmals die Beziehung zwischen realer Bewegung und Licht in den Mittelpunkt. Die Idee zu dieser Ausstellung geht auf Christian Megert (*1936) zurück, der 1960 nach einem Parisaufenthalt in seine Heimatstadt Bern zurückgekehrt war und dort begann kleinere Ausstellungen zeitgenössischer Kunst zu organisieren, da er die Berner Kunstszene als äußerst konservativ empfand und dem entgegenwirken wollte.[i]
In einem Interview 2019 beschreibt Megert wie es zu der Ausstellung Licht und Bewegung kam:
[i] Vgl. Stephan Geiger, „ZERO in Bern. A new Hub in the International Network“, in: Caianiello, Visser (wie Anm. 17), S. 237-251, hier S. 237-241; vgl. Thekla Zell, „O-Ton“, in: ZERO-Heft 2019, S. 24-31, hier S. 27.
„Den Wunsch, eine ZERO-Ausstellung in der Kunsthalle zu realisieren, hatte ich schon länger. Über die Sommermonate ergab sich schließlich die Möglichkeit den Plan gemeinsam mit [Harald] Szeemann zu verwirklichen. Die Ausstellung hieß bewusst nicht ZERO, weil sie dadurch zu umfassend geworden wäre. Also haben wir das thematisch gesplittet und bereits ein Jahr zuvor mit der Ausstellung Licht und Bewegung, 1965, kinetische Arbeiten gezeigt und 1966 schließlich mit Weiss auf Weiss den Aspekt der monochromen Malerei und Skulptur präsentiert – in diesem Fall auf die Farbe Weiß beschränkt.“[i]
[i] Zell (wie Anm. 33), S. 30.
Zusammen mit dem damaligen Leiter der Berner Kunsthalle, Harald Szeemann (1933-2005), den Megert seit seiner Schulzeit kannte, stellte er eine Künstlerliste für diese „ZERO-Ausstellung“ zusammen. Aus Platzgründen – die Kunsthalle sei zu klein für eine so lange Liste an Namen gewesen – erfolgte die Teilung in kinetische Kunst und monochrome Kunst.[i]Während Megert die konzeptuelle Zusammenarbeit mit Harald Szeemann betont, erhob Szeemann im Nachhinein den Anspruch, Alleinurheber gewesen zu sein.[ii] Ein Brief[iii] aus dem Jahr 1964, den Megert an Hermann Goepfert (1926-1982) richtete, belegt jedoch, dass er maßgeblich an der Realisierung der Ausstellung beteiligt war.
Auch Oskar Holweck (1924-2007) hatte einen Ankündigungsbrief erhalten, wie sein Antwortschreiben vom 29. März 1965 zeigt: „Über die in Ihrem Brief vom 8.XII.64 angekündigte große Aktuell-Ausstellung in der Berner Kunsthalle vom 5.6.-9.9.65 habe ich ebenfalls nicht mehr erfahren.“[iv]
Holweck nennt hier die Galerie Aktuell in Bern, die bei der Kinetik-Ausstellung vermittelnd tätig gewesen ist und zu der Christian Megert eine direkte Verbindung hatte. Die Galerie stellte dem Museum ihre Kontakte zu zeitgenössischen Künstler*innen zur Verfügung. Sie war auf Anregung Megerts in der Wohnung von Silvia und Kurt Aellen, in der Kramgasse, als Galerie für zeitgenössische Kunst eröffnet worden. Silvia Aellen, die damalige Leiterin der Galerie, war zugleich an der Kunsthalle Bern angestellt. In ihrer Doppelfunktion bildete sie eine wichtige Schnittstelle zwischen den beiden Institutionen.[v] Auch Anastasia Bitzos erinnerte sich 1966:
[i] Vgl. Geiger (wie Anm. 33), S. 251.
[ii] Vgl. Harald Szeemann, „Die Berner Kunstszene in den sechziger Jahren“, in: Bern 66-1987, Kunsthalle Bern, Bern 1987, S. 31-35, hier S. 32.
[iii] Christian Megert an Hermann Goepfert, Bern, 8. Dezember 1964, Archiv Christian Megert, Bern, Box 1964. – Das Schreiben listet über 30 Künstler*innen, die meisten werden heute mit ZERO in Verbindung gebracht, wie Holweck, Luther, Vigo, oder gehörten zur Recherche Visuel, Gruppo N, Gruppo T, Nul und Equipo 57. Megert berichtet auch über die finanzielle Absicherung der Ausstellung und zeichnet erste Ideen der Raumbesetzung auf.
[iv] Oskar Holweck an Christian Megert, Saarbrücken, 29. März 1965, Archiv Christian Megert, Bern, Box 1965.
[v] Vgl. Silvia und Kurt Aellen, Lydia Megert, „Die Galerie aktuell“, in: Bern 66-1987, Kunsthalle Bern, Bern 1987, S. 22-26, hier S. 23.
„[…] thanks to Megert’s tireless activity and initiative the Galerie Aktuell was founded, which has very good connections to the Kunsthalle, and the international exhibition Licht und Bewegung – Kinetic Art (shown in Bern, Brussels, Baden-Baden, and Düsseldorf) resulted from this collaboration.“[i]
[i] Anastasia Bitzos, „Bern, ein Zentrum experimenteller Schweizer Kunst“, in: Revue Integration, 5-6 (April 1966), S. 185.
Die Aellens stellten den Raum, Megert lieferte die Kontakte und sein Bruder, Peter Megert, war Graphiker. Er konnte Plakate und Einladungskarten entwerfen.[i] Peter Megert (1937-2022) gestaltete nicht nur die Printprodukte der Galerie, sondern zudem die Plakate zu Licht und Bewegung sowie Weiss auf Weiss in der Kunsthalle Bern, was die Beziehung zwischen diesen beiden Institutionen in dieser Zeit noch einmal unterstreicht.
[i] Vgl. Aellen, Megert (wie Anm. 39), S. 23.

Das Plakat zu Licht und Bewegung kündigt das Ausstellungsthema deutlich an. Der Titel in deutsch, französisch, italienisch und englisch wiedergegeben, ist in Weiß auf schwarzem Hintergrund gesetzt. Durch Überlagerung, Versetzung und Transparenz verschwimmen die Schriftzüge vor den Augen. Zugleich scheinen die Worte regelrecht von innen, aus dem Plakat heraus, zu leuchten. Das Plakat vermittelt den Eindruck einer Leuchtreklame.
Korrespondenzen zwischen Christian Megert und Harald Szeemann bezüglich der Ausarbeitung zu Licht und Bewegung existieren nicht. Der Austausch zu dem Projekt soll Megert zufolge lediglich in persönlichen Gesprächen stattgefunden haben[i] und so lässt sich nicht hinlänglich rekonstruieren, was in der Zeitspanne Dezember bis April vorgefallen ist. Meinungsverschiedenheiten[ii] zwischen den beiden Parteien führten schlussendlich dazu, dass Christian Megert im April 1965 nicht mehr an der Ausstellungsorganisation beteiligt war, was er in seiner Antwort an Oskar Holweck zum Ausdruck bringt:
[i] Telefonat Christian Megert mit der Autorin, 14. Juni 2023.
[ii] Christian Megert an Hermann Goepfert, Durchschlag, Bern, 21.Februar 1965, Archiv Christian Megert, Bern, Box 1965.
„für die ausstellung in der kunsthalle, die zuerst als grosse zero ausstellung gedacht war, hat herr dr. szeeman den titel geändert. Die ausstellung wird nun licht und bewegung heissen, und alle malerei und tafelbilder ausschliessen. […] Ich selber habe mit der ausstellungsorganisation nichts mehr zu tun, bin aber für die teilnahme an der ausstellung eingeladen.“[i]
[i] Christian Megert an Oskar Holweck, Durchschlag, Bern, 8. April 1965, Archiv Christian Megert, Bern, Box 1965.
Harald Szeemann hatte ein großes Interesse an kinetischer Kunst, wie an den Entwürfen für den Katalog zu der Ausstellung ersichtlich ist.[i] Für ihn stellten Duchamp, Malewitsch, Gabo, Lissitzky, Ray, Tatlin, Vantangerloo und Moholy-Nagy die Grundpositionen der kinetischen Kunst dar.[ii]
Über 60 Künstler*innen waren am Ende mit mehr als 150 Werken an der Ausstellung Licht und Bewegung – Kinetische Kunst, Bern, 03.07.1965 –05.09.1965) beteiligt, die noch im selben Jahr im Palais des Beaux-Arts, Brüssel (14.10.-14.11.1965) und der Kunsthalle Baden-Baden (03.12.1965-09.01.1966) sowie im darauffolgen Jahr im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen in der Kunsthalle am Grabbeplatz, Düsseldorf (02.02.-13.03.1966) gezeigt wurde, beteiligt. Neben Pionieren der kinetischen Kunst wie Yaacov Agam, Alexander Calder und Marcel Duchamp waren einige Künstler vertreten, die heute zum ZERO-Kreis zugerechnet werden, wie Pol Bury, Hermann Goepfert, Gerhard von Graevenitz, Hans Haacke, Walter Leblanc, Jesús Rafael Soto, Paul Talman, sowie Jean Tinguely.
[i] Getty Research Institute, Los Angeles, Kalifornien, Box 282, Folder 15.
[ii] Harald Szeemann, Kinetische Kunst, Katalogentwurf, Getty Research Institute, Box 282, Folder 15, S. 2 f.
Mit insgesamt 24 Werken war Jesús Rafael Soto am stärksten vertreten. Das in seinen Werken erzeugte Flirren erfährt bei der Bewegung der Betrachtenden eine Steigerung, mit dem Ziel der reinen Vibration, hinter die das Werk zurücktreten wollte.[i] Pol Bury, der mit elf Werken vertreten war, nutzte die hervorstehenden Elemente – Metallstäbe, Nägel, Klaviersaiten, Nylonfäden – seiner motorisierten Reliefs, die sich langsam, zum Teil mit fast unmerklichen Bewegungen auf einen monochromen Hintergrund zusteuern, um organische Welten zu kreieren. Neben Jean Tinguely stellte er sich als wichtiger Innovator im Bereich der Maschinenästhetik heraus. Die Motoren seiner Werke blieben jedoch hinter den Objekten verborgen.[ii]
Jean Tinguely, dem es gelang seine Werke immer besser zu mechanisieren und so bedeutende Fortschritte im Bereich des veränderbaren Werkes zu liefern, war mit acht Maschinenwerken vertreten. Noch bevor man eines seiner Objekte zu Gesicht bekommt, kann man es oftmals hören – es quietscht, knarrt, scheppert und dröhnt. Kreise und Stäbe bewegen sich scheinbar mühelos gegen- und übereinander und erschaffen ständig neue Figuren. Der Künstler erzeugt eine reale Bewegung, bei der sich die einzelnen Elemente in stetiger Metamorphose befinden.[iii]
Auch Hans Haacke und der Ausstellungsinitiator Christian Megert waren jeweils mit vier Kunstwerken beteiligt. Haackes Arbeiten sind darauf ausgelegt, „the perceptual edge from actual and virtual movement in real time as an accumulation and release of intensity“[iv]vorzuführen. Ein Schwerpunkt liegt auf der instabilen Natur des Materials in kinetischen Dauerinstallationen. Ökologische und biologische Bewegungsvorgänge werden in natürlichen Prozessen wie Kondensation, Niederschlag, Verdunstung sowie Ausdehnung und Kontraktion aufgrund von Temperaturveränderungen gezeigt.
[i] Soto nutzte den Moiré-Effekt, bei dem durch Überlagerung von regelmäßigen Rastern wiederum ein periodisches Raster entsteht.
[ii] Vgl. Gilles Marquenie, „Time in Motion“, in: Pol Bury. Time in Motion, Ausst.-Kat. Bozar, Centre for fine Arts, Brüssel 2017, S. 13-31, hier S. 21.
[iii] Vgl. Jean Tinguely. Super Meta Maxi, Ausst. Kat. Museum Kunstpalast, Düsseldorf/Stedelijk Museum Amsterdam, 2016.
[iv] Chau (wie Anm. 3), S. 64.
Auch die drei Zero-Künstler aus Düsseldorf erhielten eine Einladung. Am 24. und 25. Februar 1965 schrieb Harald Szeemann Otto Piene und Heinz Mack in seiner Funktion als Leiter der Kunsthalle Bern an.[i] Zu einem Treffen der Parteien scheint es allerdings nicht gekommen zu sein, denn am 23. März 1965 richtet Szeemann einen weiteren Brief an Mack: „Ich war am 9. ds. in Düsseldorf und habe mit Uecker abgemacht, dass Sie, Uecker und Piene, sowie vielleicht Megert zusammen einen Saal mit Objekten gestalten.“[ii]
[i] „Die Kunsthalle Bern zeigt diesen Sommer einen Ueberblick[sic] über das Thema Licht und Bewegung. Gerne hätte ich in dieser Ausstellung auch einige Ihrer Werke gezeigt. Ich werde am 8. und 9. März in Düsseldorf sein und mir erlauben, Sie nach vorheriger telefonischer Abmachung aufzusuchen.“ Briefe von Harald Szeemann an Heinz Mack, Bern, 25. Februar 1965, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.987; und Otto Piene, Bern, 24. Februar 1965, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.2402.
[ii] Harald Szeemann an Heinz Mack, Bern, 23. März 1965, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.988.


Ostern 1965 antwortet Mack ihm von New York aus:
„Auf Einladung des Stedelijk Museums Amsterdam, das mich grosszügig unterstützt hat, habe ich, für die NUL-Ausstellung (15.4. – 7.6.) ein Lichtkarussel gemacht; est [sic] besteht aus Aluminium, dreht sich und wird mit fünf Spotlights beleuchtet. Da ich persönlich die Arbeit sehr schön finde würde ich es gerne sehen, wenn dieses Werk auch in Bern gezeigt werden könnte. […].“[i]
Szeemann war mit Macks Vorschlag einverstanden und trat mit dem Stedelijk Museum in Amsterdam in Kontakt, um das Lichtkarussell (heute zerstört) nach Ausstellungsende nach Bern überführen zu lassen. Am Ende war Heinz Mack aber nicht mit dieser Arbeit in der Berner Ausstellung vertreten. Erst in Brüssel ist sein Lichtkarussell gezeigt worden.[ii]
Der Ausstellungskatalog aus Bern listet jeweils nur ein Werk pro Düsseldorfer ZERO-Künstler. Otto Piene zeigte eine Lichtmaschine, 1965, Günther Uecker eine Lichttrommel, 1960, und Heinz Mack war mit einem Silberrotor, 1965, vertreten.
[i] Heinz Mack an Harald Szeemann, New York, Ostern 1965, Archiv ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.989.
[ii] Vgl. Harald Szeemann an Heinz Mack, Bern 7. Mai 1965, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.990.

Heinz Mack begann bereits 1959 seine eigenen Arbeiten mit Motoren zu versehen. Die Werkgruppe der Rotoren zählt zu den ersten motorisch angetriebenen Konstruktionen, die er realisierte. Es handelt sich um einen Kasten, mit einer vorderseitigen gewellten, transparenten Scheibe, in deren Innenraum sich eine weitere reliefartig strukturierte Glas- oder Aluminiumscheibe dreht, und die der Künstler auch als Lichtmaschinen, Lichtdynamos oder Rotorreliefs bezeichnete.[iii] „Hinter Reliefglas, das die Objekte verzerrt und verschwimmen läßt, drehen sich Scheiben mit Buckeln und Vertiefungen, dem Auge des Betrachters einen Kreislauf bewegten Lichtes darbietend.“[iv] Durch die langsame Drehung der Strukturscheibe erscheint auf der Glasplatte ein sich ständig änderndes fließendes Bild. Die Bewegung geht mit dem Licht eine Symbiose ein und lässt es in seiner Eigenschaft als bewegte Energie erfahrbar werden.
Günther Ueckers Lichttrommel besteht aus einer sich horizontal um die in der Mitte angebrachte Achse drehenden Platte, die durch einen Elektromotor angetrieben wird. Künstliches Licht strahlt die Scheibe von zwei Seiten an und „der runde Nagelkopf“ stellt einen „Idealbezug zur Scheibenform des Lichtfeldes selbst“[v] her. Einige Nägel erscheinen im Streiflicht, während andere vollkommen illuminiert sind. Felder aus Licht und Schatten wechseln sich ab, während die langsame Drehung die Vibration durch die Nagelstruktur vor Augen führt.
[iii] Vgl. Baum (wie Anm. 3), S. 97.
[iv] Minou, „Spiel mit Glas und Licht“, in: Zeitungsausschnitt NRZ, Freitag 29. November 1963, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv Nr. mkp.ZERO.1.II.196.
[v] Dieter Honisch, Uecker, Stuttgart 1983, S. 62.
Beide Werke nutzen die Drehbewegung, welche durch die fortwährende Änderung der Bezüge einen großen Anreiz in Bezug auf die optische Dematerialisierung der Werke bietet. Bei einer schnellen Rotation kann sich gar der Eindruck einer Auflösung des Materials einstellen. Die optische Vibration führt unter Einwirkung von Rotationsenergie zur Wahrnehmung von sich auflösenden, verwischten Formen.[i]
[i] Die Rotation stellte auch das übergreifende Thema des Lichtraums Hommage à Fontana von Mack, Piene und Uecker dar, den sie 1964 für die Kasseler documenta 3 gestalteten. Rotoren, Mühlen, Scheiben und Kugeln drehten sich um die eigene Achse, teils durch Kunstlicht angestrahlt.
Otto Pienes Lichtmaschine hingegen zeigt kein sich drehendes sichtbares Objekt, sondern lässt das Licht nach einem choreographischen Ablauf als Licht- und Schattenspiel an den Wänden tanzen. Das Licht ist der sich bewegende Faktor, welcher in seinen grundlegenden Qualitäten dokumentiert werden kann. Christian Megert, dem Szeemann denselben Raum anbot, schlug Piene am 20. März 1965 eine Zusammenarbeit vor, die – wie Piene auf dem Brief vermerkt – aufgrund von Zeitmangel nicht zustande kam.[i]
[i] Christian Megert an Otto Piene, Bern, 20. März 1965, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.2368.

Die drei Düsseldorfer ZERO-Künstler konzentrierten sich Mitte der 1960er Jahre stärker auf die Lichtkinetik, wie zum Beispiel in der Ausstellung Kunst – Licht – Kunst im Stedelijk van Abbemuseum, Eindhoven, mit dem Fokus auf dem Kunstlicht als „new artistic tool“.[i] Jean Leering schlug den Dreien in einem Brief an Heinz Mack das Thema „Light and shadow effects on walls and ceiling“[ii] vor, welches besonders auf Pienes Werke, Weißer Lichtgeist und Fixstern (Lichtballett) zutraf.[iii] Die perforierte Kugel aus geglänztem Aluminium (Fixstern) trägt heute den Titel Große Stehende[iv] und kann als eine Weiterentwicklung des Lichtballettes angesehen werden. Bei den präsentierten Werken handelte es sich zwar um Einzelobjekte der drei Künstler, die aber durch den Einsatz von Zeitschaltuhren zu einem Gesamtwerk verbunden wurden.[v] In der Ausstellung Licht und Bewegung bespielten Mack, Piene, Uecker zwar gemeinsam einen Raum, aber ihre Arbeiten standen isoliert jede für sich.
[i] Die insgesamt neun Räume durften die Gruppen und Einzelkünstler*innen jeweils zu einem selbstgewählten Thema gestalten. Zero wurde der Raum Nummer fünf zugeteilt, den sie mit Lichtobjekten sowie lichtkinetischen Werken bestückten.
[ii] Jean Leering im Auftrag des Stedelijk van Abbemuseums an Heinz Mack, Eindhoven, 22. November 1965, Archiv ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.1418.
[iii] Heinz Mack plante eine Lichtbox, 130 x 130 x 40 cm, 1966, und einen Apparat für Lichtrotation und Lichtvibration, 230 x 30 x 30 cm, 1966. Zusätzlich einen Lichtturm, 1500 x 13 x 13 cm, 1966, vor dem Museum. Historische Fotografien der Ausstellung belegen den Lichtturm im Außenraum sowie die von der Decke hängende Lichtlinie und eine Lichtstele. Günther Uecker war mit seiner Lichtplantage, 3 x 3 x 3 m, 1966, vertreten. Zudem fertigte er eine Lichtschwelle, 2 m Länge, an. Ein auf dem Boden sich befindender Lichtschlitz, der vom Publikum überschritten werden musste. (Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.IV.140_2; Inv. Nr. mkp.ZERO.2.IV.140_4).
[iv] Otto Piene, Große Stehende, 1966, Höhe 360 cm, Durchmesser Kugel 80 cm, Sammlung der ZERO foundation, Inv. Nr. mkp.ZERO.2013.07.
[v] „Der Raum wird vollstaendig verdunkelt. Anstelle normaler Eingaenge werden verspiegelte Drehtueren (4fach) angebracht. Ein Lichtkreis in der Mitte (etwa 3m Ø, 30 cm hoch, darueber, von der Decke haengend, eine Lichtlinie von H.Mack) wird von den einzelnen Objekten umgeben. Der uebrige Raum ist frei begehbar. Die Objekte sind individuelle Lichtplastiken von Heinz Mack, Otto Piene und Guenter Uecker und Lichtgeraete, die dazu dienen, visuell dargestellte ZERO-Ideen in den gesamten Raum zu projizieren. Mit Hilfe einer elektromechanischen Zeitschaltung wird es moeglich sein, die Einzelobjekte wie den Gesamtablauf im Nacheinander und Miteinander zu zeigen. Dadurch wird die Gruppe ZERO als Gemeinschaft von individuellen Künstlern praesentiert.“ (Otto Piene an Jean Leering, New York, 4. März 1966, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv Nr. mkp.ZERO.1.I.1419).

Die drei Düsseldorfer ZERO-Protagonisten zählen für Frank Popper neben Hermann Goepfert und Adolf Luther zu den „prominentesten Vertretern von Lichtobjekten“[i]. Dabei bedienten sie sichunterschiedlicher Formen von Lichtkinetik, die in von außen illuminierte und selbstleuchtende Lichtobjekte unterteilt werden kann. Keiner von den soeben Genannten versuchte in lichtkinetischen Objekten komplexe Bewegungsabläufe zu demonstrieren. Sie beschränkten sich auf wippende, drehende und schwingende Bewegungen. Die jeweilige Mechanik der Konstruktion blieb versteckt und damit stand die Wirkung im Vordergrund.[ii]
[i] Frank Popper (wie Anm. 32), S. 433.
[ii] Vgl. Beate Kemfert, Studien zur Kinetik in der deutschen Kunst der 60er Jahre, Magisterarbeit, Bonn, S. 5.
Im Gegensatz zu Gisela Fehrlin, welche die Ausstellung Licht und Bewegung 1965 in der WELT als „anregend und vergnüglich“[i] in Bezug auf die Einbindung der Betrachter*innen beschreibt, fällt Hans Haacke kein positives Urteil: „Mit Uecker, Willoughby und Wolleh war ich in Bern zur Ausstellungseröffnung in der Kunsthalle. Die Räume sind nicht sehr schön und man hätte die Arbeiten auch besser aufbauen können. Dass der Katalog kein Meisterwerk geworden ist, haben Sie vielleicht schon gesehen. Ein ohrenbetäubender Lärm, der aus den begeistert malträtierten Instrumenten der Frères Bashets(?) drang, machte die Ausstellung auch akustisch zu einem Monstrum. Ein kinetischer Rummelplatz. Ihr Rotor und Uecker’s Nagellautsprecher hingen gut. Im selben Raum versuchte Pienes Lichtapparat vergeblich gegen die Helligkeit des Raumes sich durchzusetzen. Piene kann seine Sachen wirkungsvoll nur in einer chambre separée zeigen. All die pfiffig ausgetüftelten Maschinen drumherum stören sein zartes Licht […].“[ii]
[i] Gisela Fehrlin, „Das Einfache besticht am meisten. Licht und Bewegung – Eine Ausstellung kinetischer Kunst in Bern“, in: Eigenbericht der WELT, Bern, 22. August 1965, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.II.68.
[ii] Hans Haacke an Heinz Mack, Köln, 20. Juli 1965, Archiv ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.I.1.6_1, und mkp.ZERO.I.1.6_2.
Haacke spricht hier mehrere Problematiken an, die mit Sicherheit auf viele Kinetik-Ausstellungen zugetroffen haben: die Geräuschkulisse, die räumliche Überfülle aufgrund der vielen Kunstobjekte und die sich dadurch einstellende Reizüberflutung sowie die Schwierigkeit, lichtkinetische Werke richtig zu inszenieren.
Wie genau sich die Räume der Kunsthalle präsentierten, ist aus den historischen Fotos – die im Getty Research Institute erhalten geblieben sind – nur zum Teil auszumachen. Aus den Fotografien lässt sich nicht auf eine Anordnung der Kunstwerke innerhalb der Räume und ihre Beziehung zueinander schließen. Von vielen Räumen ist keine Dokumentation mehr erhalten. Es existiert lediglich ein Raumplan in Christian Megerts Archiv, der eine sehr detaillierte Aufteilung in unterschiedliche Teilgebiete der Kinetik angibt: „cinétique programmatique, la lumière, cybernétique, Dépôts (stabil), Bury, structures sonory, les machines, constellations infiny, optique cinétique, les mobiles, les aimants.“[i]
Ausstellungskatalog, Raumplan und Zitat von Haacke zeigen, dass obschon die Ausstellung den Akzent auf Licht und Bewegung setzte, das komplette Spektrum der kinetischen Kunst vertreten war. Die Aufteilung nach Oberbegriffen scheint aufgrund der Vielzahl an Werken sinnvoll. Anscheinend waren die Künstler*innen jedoch nicht an dem Aufbau der Ausstellung beteiligt und konnten bei der Platzierung ihrer Kunstobjekte sowie räumlichen Gegebenheiten keinen Einspruch erheben.
[i] „Programmierbare Kinetik, Licht, Kybernetik, Burry [Pol Bury hat eine eigene Sektion], Sonore Strukturen, Maschinen, unendliche Konstellationen, optische Kinetik, Mobiles, Magnete.“ (Übersetzung von der Autorin)
An den über 30 Ausstellungen zur Kinetik in den 1960er Jahren nahmen Tinguely, Mack, Soto, Bury, Piene und Uecker am häufigsten teil. Die ZERO-Künstler*innen begannen bereits Ende der 1950er Jahre Bewegung, Vibration und Dynamik außerhalb der Leinwand zu suchen. Diese waren nicht mehr als bildimmanente Phänomene gemeint. Sie schufen vermehrt selbstbewegte, motorisierte oder durch Betrachter*innen in Bewegung versetzte Arbeiten. Die beweglichen Werke suggerierten nicht mehr nur Variabilität, sondern schufen tatsächlich unendlich viele Realisationen.
Sie alle verfolgten das Thema der Bewegungsdarstellung auf ganz unterschiedliche Arten, die das gesamte Spektrum der Kinetik innerhalb der Kunstwelt demonstrieren: optische Bewegung; Objekte, die auf eine direkte physische Interaktion mit den Betrachter*innen angewiesen sind und sich von ihnen bewegen lassen (Spielobjekte); Werke, die sich aufgrund von Naturkräften bewegen, zum Beispiel Wasser, Gravitation oder Wind (Mobiles, Magnete); Kunstobjekte mit eigener Motorisierung (Maschinenwerke).
Eine der bedeutendsten Ausstellungen zur Kinetik war Licht und Bewegung, Kunsthalle Bern, 1965, die von Christian Megert initiiert wurde und durch Harald Szeemann ihre endgültige Form erlangte. Der Titel der Ausstellung verweist auf einen weiteren Teilbereich der kinetischen Kunst, die Lichtkinetik. Diesem Gebiet widmeten sich die drei Düsseldorfer ZERO-Künstler Mack, Piene und Uecker ab Mitte der 1960er Jahre verstärkt. Ihre Arbeiten unterscheiden sich deutlich von den mit ironischem Unterton ausgestatteten Maschinen Tinguelys, die sich in alle Richtungen drehen, den surrealistisch angehauchten Reliefwelten Pol Burys und der spielerischen Leichtigkeit, welche Soto in seinen Werken mit dem Moiré-Effekt erreicht. Stand bei Mack, Piene und Uecker zunächst die optische Bewegung als Vibration im Bild im Vordergrund, eröffnete die Motorisierung ihnen die Möglichkeit, diese über die Zweidimensionalität hinaus als dynamisches Geschehen darzustellen.
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Endnotes
L Licht
Licht auf die Bühne! Oder die Eroberung des Immateriellen
Marco Meneguzzo
„Und es ward LICHT.“ Während bei diesem LICHT in Großbuchstaben das Ereignis sich im Absoluten verliert, liegen die Zeitpunkte der Entstehung des Lichts, mit dem sich Künstler und Künstlerinnen befassen, weniger im Ungewissen, lassen die sich doch um das Jahr 1960 verorten, zu der Zeit als die Gruppe ZERO ihren größten Auftrieb erlebte und viel über das Licht zu sagen hatte.
Doch bevor wir uns analytisch in die luminöse Aktivität von ZERO begeben, dürfte es von Nutzen sein, bei der ganzen Reihe von Vorzeichen zu beginnen, die der nahezu gleichzeitigen, explosionsartigen Entstehung von Werken und Aktionen zum Thema Licht in ganz Europa vorausgingen.
Bekanntermaßen war das 20. Jahrhundert aufgrund des allgemein geteilten Willens, die Grenze zwischen Kunst und Leben auf ein Minimum zu reduzieren, für die Kunst radikal innovativ. Alle Avantgarden haben dafür gewirkt und der Begriff, der dabei am meisten in Mitleidenschaft gezogen wurde, war jener der „Darstellung“: Alle traditionellen Regeln der Kunstvokabulare (mit Ausnahme der Sonderstellung der Architektur) basierten auf dieser ideellen Säule, die in den ersten dreißig Jahren des 20. Jahrhunderts ausgehöhlt und eingerissen wurde, nur um festzustellen, dass das „Kunstgebäude“ auch ohne sie stehen blieb und, mehr noch, die Beseitigung der Säule das Ganze weiträumiger gemacht hatte. Genaugenommen wurde der Begriff der Darstellung nicht gänzlich abgeschafft, sondern hatte sich gewandelt, indem das traditionelle Darstellungsvokabular nurmehr zu einem Teil des erweiterten Repertoires von Bildern, Objekten und Ideen wurde, aus dem man schöpfen konnte, um Kunst zu machen. Der – minimale, aber wesentliche – Unterschied zwischen der Zeit vor und der Zeit nach dieser Revolution liegt in der Gegenüberstellung der Begriffe „darstellen“ und „in Szene setzen“, die gleichbedeutend sind und auch wieder nicht. Hier das dramatische Licht, das auf das Gemälde Guernica (1937) geworfen wird, dort das Neonlicht von Lucio Fontanas (1899-1968) riesigem Concetto spaziale („Raumkonzept“), das auf der Triennale von Mailand 1951 den gesamten Treppenaufgang ausleuchtete[i]: Das eine „stellt dar“, das andere „setzt in Szene“. Dazwischen liegt die Jahrhundert-Revolution des Kunstvokabulars, durch die jeder reale Gegenstand zum Kunstobjekt werden kann (ohne per se eines zu sein …).
Marcel Duchamp (1887-1968), Kurt Schwitters (1887-1948), László Moholy-Nagy (1895-1946), aber auch das Stück Spiegel im kubistischen Gemälde oder die Zeitung in Werken des Futurismus, haben bewirkt, dass durch die bewusste Handlung des Künstlers die Wirklichkeit mit der Kunst in eins fallen konnte.
[i] Nach einer Reihe von Ambienti, die mit den unterschiedlichsten Lichtquellen – etwa Wood-Lampen – erleuchtet wurden, realisierte Fontana 1951 für die IX. Triennale von Mailand die Raumdekoration der Ehrentreppe im in den 1930er Jahren vom Architekten Giovanni Muzio errichteten Palazzo, der fortan der Sitz der Kunstausstellung war. Diese bestand aus einer Reihe langer gewundener Neonröhren, die Spiralformen an die Decke warfen, ganz so, als wäre das Neonlicht das Zeichen bzw. die Geste des Künstlers, die in das neue Material übertragen wird. Eine autorisierte Rekonstruktion dieses Raumkonzepts ist dauerhaft im Museo del 900 in Mailand ausgestellt.
In dieser Situation bestand die erste Bemühung in der philosophischen Begründung der Erweiterung und möglichen Überlappung von Leben und Kunst, von Wirklichkeit und künstlerischer „Inszenierung“, indem der gesamte Kunstkontext, der bis dahin im Hintergrund geblieben war, einbezogen wurde; so ließ sich diese Ausdrucksmöglichkeit allein durch die Tatsache, in einem ganz bestimmten disziplinären Kontext eingebettet zu sein, begründen und unter den Begriff der „Kunst“ stellen. Duchamp erteilt eine Lehre. Der zweite konzeptionelle Schritt, der sich vom ersten ableitet und in gewisser Weise gedanklich „einfacher“ ist, bezog sich auf Objekte, Mittel und Konzepte, die von der Realität losgelöst und in das Kunstvokabular überführt wurden: die Ready-mades, die Realitätsfragmente von Kurt Schwitters und vor allem die Werke von László Moholy-Nagy. Tatsächlich war der ungarische Künstler der Vorläufer, der edle Vater der Verbreitung des Lichts in den 1950er und 1960er Jahren, hatte er doch mit seinem Licht-Raum-Modulator aus dem Jahr 1930 die Revolution „in actu“ plastisch und synthetisch vor Augen geführt: mit einer komplexen, von Motoren und Ketten angetriebenen und von unzähligen Glühbirnen beleuchteten „Maschine“, die in einem industriellen Spezialverfahren hergestellt worden war und das Aussehen eines Uhrwerks hatte.[i] Auf diese Weise gelang es ihm, die letzten Begriffe, die die engen Grenzen der Tradition und die möglichen Öffnungen der zukünftigen Kunst bestimmten, in einem einzigen Werk zu verdichten: Licht und Bewegung.
[i] Eine detaillierte Beschreibung aus der Feder des Künstlers selbst ist in dem nützlichen Band von Dieter Daniels und Rudolf Freiling (Hrsg.) wiedergegeben: Medien Kunst Netz / Media Art Net 2: Thematische Schwerpunkte / Key Topics, Springer Verlag, Wien und New York 2005, in Zusammenarbeit mit dem ZKM/Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe. Siehe http://www.medienkunstnetz.de/werke/licht-raum-modulator/ (26.10.2008).

An diesen beiden Ur-Begriffen – Licht und Bewegung – entzündete sich die gesamte intellektuelle Debatte über die Kunst des 20. Jahrhunderts. Bis zu Moholy-Nagy konnten diese Grundelemente des Sehens und der Welt nur mit den Mitteln der Darstellung wiedergegeben werden, die angesichts der neuen Technologien immer mehr an ihre Grenzen stießen, und obwohl die italienischen Futuristen das Problem aufgeworfen hatten, indem sie nach einer möglichen Lösung suchten (man denke beispielsweise an Giacomo Ballas (1871-1958) Bambina che corre sul balcone, 1912), wurden sie erst dank des ungarischen Künstlers zu den „realen“ und unbestrittenen Protagonisten einer neuen Phase der Kunst.
Die Chronologie dieses schwierigen Einbrechens der Realität – und insbesondere des Lichts – in die Kunstvokabulare zeigt unter anderem, dass die einzelnen Ausdrucksdomänen, die einzelnen Disziplinen noch nicht besonders durchlässig für andere Ausdrucksformen waren, die vielleicht auf bestimmten Feldern bereits Lösungen für Probleme erarbeitet hatten, mit denen benachbarte Ausdrucksformen mühsam zu kämpfen hatten. Im Theater war das Licht von einem technischen Problem zu einer Bühnenressource, wenn nicht sogar zum Kernelement der Bühnengestaltung geworden: Sowohl Futuristen als auch Bauhaus-Künstler – insbesondere wiederum Moholy-Nagy, mehr noch als Oskar Schlemmer (1888-1943) – hatten Thesen zur Lichtgestaltung formuliert, ohne auf nennenswerte begriffliche Widerstände zu stoßen, im Gegensatz zu dem, was dem Kunstvokabular widerfuhr.[i]
Licht und Bewegung also. Es ist kein Zufall, dass die Hälfte der Ausstellungen von ZERO, wie auch die meisten Ausstellungen über ZERO oder über andere Bereiche und Gruppen der kinetischen Kunst, in ihren Titeln einen expliziten Bezug zu diesen beiden Begriffen haben. Man denke, wenn wir uns auf die frühesten Jahre beschränken, an Ausstellungen wie die 8. „Abendausstellung“ mit dem Titel Vibration, an die Ausstellung Vision in Motion, Motion in Vision (ein expliziter Verweis auf Moholy-Nagy, der einen Text mit einem ähnlichen Titel verfasst hatte)[ii] 1959 in Antwerpen, die Ausstellung Reliefs lumineux von Heinz Mack (*1931) in der Galerie Iris Clert in Paris und die von Otto Piene (1928-2014) in Düsseldorf im selben Jahr, wo dieser neben Ölgemälden das Lichtballett schuf und die Lichtmodelle ausstellte, sowie schließlich die letzte der neun „Abendausstellungen“ im Jahr 1960 mit dem Titel Ein Fest für das Licht. Dessen ungeachtet werden wir nun, da dieses Abécédaire nach Stichworten geordnet ist, unser Augenmerk auf das Licht richten, wohl wissend, dass Licht und Bewegung fast untrennbar miteinander verbunden sind und auch als solche von den Künstlern gehandhabt wurden: Denn wenn Licht eine Schwingung ist, assoziieren wir instinktiv die Vorstellung von Bewegung damit – eines der wenigen Dinge, die Kunst und Wissenschaft bis heute verbindet.
Die erste Frage, der wir uns stellen müssen, lautet: Von welchem „Licht“ sprechen wir? Worin besteht seine wesentliche Eigenschaft? In der doppelten Formulierung der Frage sind die ersten Antworten faktisch schon implizit enthalten. Am Anfang dieser Ausführungen wurde zwischen dem uranfänglichen „Licht“ und dem künstlerischen Licht unterschieden, um darauf hinzuweisen, dass es in der betreffenden Kunstsparte und den Künstlern nicht um die Transzendenz geht, die so oft durch „Licht“ symbolisiert wird. Das hat nichts – oder nur wenig – damit zu tun, was das „Licht“ seit jeher für alle Religionen oder auch nur für die kontemplative und mystische Haltung des Menschen repräsentiert. Dieses „Licht“, das im Lauf seiner Geschichte theoretische Disputationen gefüllt und den Weg für die mittelalterliche „Optik“ geebnet hat – übrigens die erste bedeutende Grundlage zukünftiger Wissenschaften –, hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Licht von ZERO und all derer, die um 1960 mit dessen Ausdrucksmöglichkeiten experimentiert haben (außer, wenn überhaupt, um sich im Nachhinein an eine transzendente Vorstellung des Licht-Elements anzulehnen …); andererseits haben wir, indem wir auf natürliche, instinktive Weise akzeptieren, über Fragen der „wesentlichen Eigenschaft“ des Lichts zu sprechen, auch den wissenschaftlichen Aspekt des Problems auf eine zweitrangige Position verwiesen: „Eigenschaft“ und „Wesen“ sind in der Tat keine wissenschaftlich anerkannten Definitionen, bestenfalls wird ihnen eine untergeordnete Rolle gegenüber Kategorien zugesprochen, die besser messbar und weitaus weniger interpretationsbedürftig sind. Kein Gott und keine Wissenschaft also im Licht von ZERO.
[i] Das von Moholy-Nagy in den Jahren des deutschen Bauhauses konzipierte Theater ging so weit, das Beziehungsgeflecht von Raum, Farbe, Licht, Gestalt, Bewegung und Handlung über den Menschen/Schauspieler zu stellen. Er nannte es „totales Theater“.
[ii] Das war nicht der offizielle Titel der Ausstellung, der weiterhin „ZERO“ lautete, sondern er wurde inoffiziell in Anlehnung an den gleichnamigen Essay von Marc Callewaert verwendet, einem der Kritiker, die eingeladen wurden, um über die Ausstellung zu schreiben, die die belgische Gruppe G58 vom 21. März bis zum 3. Mai 1959 im historischen Hessenhuis in Antwerpen zeigte. Der gleichnamige Text von Moholy-Nagy, der 1947 postum in Chicago erschien, ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Textes aus dem Jahr 1938.

Auf dem Papier sieht es jetzt so aus, als bliebe nach diesem doppelten Ausschluss nichts mehr übrig, um die eigene Schöpfungskraft ausleben zu können, und doch ist da noch die ganze Welt, jener große Wirkungsraum, der das Leben des Menschen betrifft, zumal seinen Alltag, der aus diesen vielen, auch banalen Handgriffen besteht, mit denen unser Tag übersät ist. Der Ausgangspunkt des Künstlers ist – im Gegensatz zu dem des Wissenschaftlers – stets der Mensch, und ZERO macht hier nicht nur keine Ausnahme, sondern akzentuiert vielmehr mit seinem anarchischen Geist diesen Aspekt, der zu den Merkmalen der sogenannten Künstlerlegende gezählt werden kann (sogar die Bezeichnung „Ruinenatelier“ für das Atelier in der Gladbacher Straße 69 in Düsseldorf bestätigt diese im Grunde romantische Wertung). Wesensgleich mit dieser Wahl und dieser Lebenshaltung ist der Anspruch auf die unerlässliche Rolle des Künstlers, der weder im Dienst der Wissenschaft noch der Philosophie steht: Das Handlungsfeld der Kunst ist die Freiheit und sogar der Widerspruch (der den Selbstwiderspruch einschließt …), daher handelt es sich um ein eigenes Feld, dessen Regeln nicht einmal logisch folgerichtig sein müssen. Dieser Aspekt ist allen Künstlern gemeinsam, doch in der Einzigartigkeit jener Jahre und der Wahl der je eigenen Mittel war die Aktion von ZERO grundlegend für die Bekräftigung dieses Konzepts. Tatsächlich haben sich im Umfeld der kinetischen Kunst, zu dem ZERO nur am Rande gehörte, die sprachlichen Missverständnisse gehäuft, eben weil es über diesen Punkt – das Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft – keine Klarheit gab. Das Licht stellt in diesem Zusammenhang das Urelement dar, auch wenn es nicht Hauptthema des Werkes ist: Fakt ist, dass Werke, die sich auf die visuelle Wahrnehmung, auf das „Wie sehen wir“ konzentrieren, an wissenschaftliche Demonstrationen grenzen und bestimmte philosophische Theorien rechtfertigen. Es kommt nicht von ungefähr, dass ZERO ausgerechnet in jenen Jahren empfänglich war für die Idee der „Messbarkeit“, die Max Bense (1910-1990) im Rahmen seiner Mikroästhetik formulierte;[i] der Philosoph wurde sogar eingeladen, den Einführungsvortrag für die Ausstellung Exposition dato ZERO 1961 im Dezember 1961 in der Galerie dato in Frankfurt am Main zu halten. Das Missverständnis, die Künstler dieser Generation, die der kinetischen Kunst anhingen oder ihr nahe standen – und noch vor ihnen die „konkreten“ Künstler – seien eine Art „ausführender Arm“ der Wissenschaft des Sehens gewesen, gründet eher in der Kunstkritik und der Kunstgeschichte als in deren Arbeiten oder Aussagen, allerdings schien die Idee einer Kunst „für alle“ und „von allen“ mit dem Tod der Kunst selbst zusammenzufallen, die sich in den „höheren Gefilden“ der Philosophie und der Wissenschaft verlor, wie viele Kritiker (und auch einige Künstler der Concept-Art) behaupteten, als ob ein Einvernehmen bei der anfänglichen Wahrnehmung nichts als ein Einvernehmen bei der finalen Ausarbeitung hervorbringen könne, gemäß einer wissenschaftlich-philosophischen „Faktizität“, die das Werk zum „Faktum“ oder bestenfalls zu einer Demonstration degradierte.[ii] Glücklicherweise ist die anarchische Seele von ZERO dieser Gefahr nicht nur stets entronnen, sondern hat auch ein Beispiel dafür gegeben, wie die Dinge sich eben nicht nach diesem Verfahren entwickeln, während sie ihre Erkundung der Grundelemente des Sehens von Welt fortsetzte. Das Wort „Erkundung“ lässt einen unweigerlich an einen schlüssigen und also logisch deduktiven Weg denken, der mit der freiheitlichen Idee der Regellosigkeit wenig zu tun hat, und erst recht nicht mit der Bejahung der vollkommenen Freiheit des Menschen, auch der, sich selbst zu widersprechen, sodass es besser wäre, von der „Intuition“ der Grundelemente des Sehens von Welt zu sprechen. Tatsächlich scheinen sich die ZERO-Künstler und ihre europäischen Kollegen als einzige Regel die Regellosigkeit gegeben zu haben, auch sich selbst gegenüber, daher kommt eine intuitive statt einer deduktiven Vorgehensweise diesem Konzept unendlich viel näher als jedem anderen. Die andere, grundlegende Komponente der „mobilen“ Gruppe, die uns der Frage des Lichts augenblicklich näherbringt, ist die „Entmaterialisierung“ der Kunst – auf einer Linie auch mit dem vitalistischen, verhaltensorientierten und performativen Aspekt von ZERO, der in den „Abendausstellungen“ hervorgehoben wurde.
[i] Die Schriften des deutschen Philosophen Max Bense (1910–1990) erfreuten sich Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre unter den Mitgliedern der Kinetischen Neoavantgarde großer Beliebtheit. Durch sie – vor allem Aestethica (II). Aestetische Information (1956) und Aestethica (IV). Programmierung des Schönen. Allgemeine Texttheorie und Textästhetik (1960) – und die darauffolgende Verbreitung stellte sich das Konzept der „Mikroästhetik“ in seiner Reduktion auf die Möglichkeit der Kombination von Technologie und Philosophie sowie auf die Hypothese der wissenschaftlichen „Messung“ elementarer Zeichenkombinationen als unzweifelhafter Schlüssel zum Verständnis der Kunst von Gruppierungen der Op-Art, der konkreten und der kinetischen Kunst dar.
[ii] Diese nachvollziehbare Zuspitzung ergibt sich aus der übertriebenen Vereinfachung der Begriffe und der daraus folgenden Syllogismen: Werden der Kunst die Regungen individuellen Empfindens zugeschrieben, gerät die Erzeugung von Werken, die physiologisch von allen gleich wahrgenommen werden, zu einer wissenschaftlichen Demonstration; sie sind dann kein Erzeugnis mehr, das vom Betrachter gedeutet werden kann, und können auch nicht mehr mit den eigenen, persönlichen Erfahrungen „angereichert“ werden. Diese Argumentation lässt außer Acht, dass die gemeinsame Wahrnehmung nur der Ausgangspunkt, nicht aber der Endpunkt des Sehens und des Geistes ist, der sich dahinter verbirgt.

In unserem Fall bedeutet „Entmaterialisierung“ nicht nur Demontage der traditionellen Mittel des Kunstmachens, sondern auch Eroberung des „Immateriellen“, das heißt das Ersetzen des Materiellen, das bis dahin das Immaterielle darstellte, mit einem Minimum an materiellen Eingriffen, um dieses einzufangen. In diesem Sinne ist das Werk eine Art „Falle“ für das Immaterielle als eigentlichem Protagonisten des künstlerischen Gestus: Die Rakete Polaris[i], die sich in den ZERO-Himmel erhebt – eines der ikonischsten Bilder der Gruppe[ii] –, das ist gewiss nicht die Technologie, mit der sie gebaut wurde, oder der Treibstoff und das Metall, das in ihr steckt, sondern das ist Bewegung, Dynamik, „Gespanntheit nach oben“, Geschwindigkeit, extreme Geste, und fast alle Realisierungen von ZERO und Partnern sind so. Das Licht ist, wie eingangs zwischen den Zeilen gesagt, das immaterielle Urelement, das die Entfaltung einer neuen Haltung zur Wirklichkeit – und damit eine neue Art zu sehen und folglich zu denken … – ermöglicht, aber es ist auch das am schwersten handhabbare, sobald es nicht mehr um Pinselstriche in leuchtenden Farben im Verhältnis zu anderen in dunkleren Tönen geht. Aber nicht nur das: „Licht zu sehen geben“ ist wie „Luft zu sehen geben“, mithin ein schwieriger Vorgang, der angesichts des Offenkundigen (Licht und Luft sind überall) zunächst fast überflüssig zu sein scheint, bevor uns gleich darauf ein Lächeln über die Lippen huscht und uns klar wird, dass dies ein wichtiges Anliegen ist und der Beginn eines revolutionären Projekts, welches das Kunstvokabular von Zero an – und von ZERO – zu erneuern trachtet.
Wir sehen uns also mit zwei in der Realität der Werke untrennbaren Aspekten konfrontiert, die aber von der Kritik analysiert werden können: die Seite des Ausdrucks und die existentielle Seite. Der große Beitrag von ZERO – wie der von Azimuth sowie eines Teils der italienischen Gruppen T und Enne, während die Franzosen der Gruppe GRAV „kartesianischer“ daherkommen[iii] – besteht gerade darin, zwei ansonsten weit entfernte Komponenten der Kunst und des Künstlers miteinander verbunden zu haben. Genau das ist es, was ZERO von Meistern wie Moholy-Nagy unterscheidet. Die Licht-Werke des Ungarn verströmen den Duft der Provokation gegenüber den traditionellen Regeln der Kunst und des Künstlers (noch offenkundiger in der berühmten Aktion der telefonischen Bestellung eines Kunstwerks[iv]) zu einer Zeit, als die konzeptionelle Debatte über die Ausweitung der Möglichkeiten der Kunst auf die Wirklichkeit als Ganzes noch in vollem Gange war und daher die Schaffung eines „Exempels“ – eben den Licht-Raum-Modulator – eine plastische Demonstration der neuen Ausdrucksmöglichkeiten darstellte, die fortan nicht mehr in Frage gestellt werden konnten. Moholy-Nagys Sieg wäre dann wie ein Sieg in einem wissenschaftlichen Disput, bei dem die Logik der Argumentation und der erwiesene Beweis des physisch existierenden Werks die Legitimität des neuen künstlerischen Handlungsfeldes absolut zweifelsfrei sanktionieren. Eine wohl durchdachte, rationale, eiskalte, unsentimentale Strategie, um eine entscheidende Schlacht zu gewinnen. Mehr noch, das Werk des Ungarn – und tendenziell aller Künstler seiner Generation, die sich mit „realem“ Licht und Bewegung in der Kunst beschäftigten – stellt sich immer noch als „Mechanismus“, als eine „Maschine“ dar, die dem Erbe der heroischen Epoche der Mechanik noch verhaftet ist und bestenfalls vom augenzwinkernden Hauch der Junggesellenmaschine der Dadaisten gestreift wurde. Das ist, mit anderen Worten, fast noch eine „positivistische“ Haltung der möglichen Kontrolle über das Ungreifbare. Was sind dagegen die Bedingungen und die Haltung im Vorgehen von ZERO? Einerseits war in den 1950er Jahren der konzeptionelle Weg bereits gefestigt und die Wirklichkeit konnte mit der Kunst in eins fallen, andererseits war dieses Konzept dreißig Jahre nach Moholy-Nagys „Provokation“ von den Menschen kaum verinnerlicht, war es noch kein gemeinsames Gefühl, keine natürliche Haltung, und hier schaltete sich ZERO mit seinem höchst eigentümlichen „Exempel“ ein, das sich, noch bevor es sich in Werken niederschlug, im Leben der Mitglieder der Gruppe verwirklichte. Zu wissen und mehr noch „zu fühlen, im Licht zu leben“ – und in der Bewegung –, war in jedem Moment der eigenen Existenz, die man als Künstler mit der übrigen Welt teilen wollte, präsent. Das ist der existentielle Aspekt, der die in den 1920er Jahren begonnene Erkundung harmonisch abrundete: Jeder Augenblick, jeder Moment im Leben der ZERO-Mitglieder war inspiriert von der vitalistischen Überraschung der neuen Realität, die neuer Mittel bedarf, um ausgedrückt und gelebt zu werden. Daher die stetige Verehrung von ZERO für Lucio Fontana. Der italienische Künstler hatte diesen Aspekt vor der Zeit erkannt und ihn auf natürliche Weise in schlichten, absoluten Werken umgesetzt: keine Mechanismen und Motoren mehr, sondern Gesten und Zeichen, die ausschließlich aus Materialien der Zukunft, einer (fast) immateriellen Zukunft, gemacht sind. Fontana hatte den künstlerischen Neoavantgarden ein Element unterbreitet, das noch entmaterialisierter war als Neonlicht: Leichtigkeit. Leichtigkeit als Haltung gegenüber der Welt, Leichtigkeit als formales Resultat. Fast wie eine unbewusste Bestätigung dieser Haltung erscheinen das fotografische Zeugnis und die Erinnerung an die Abende im Ruinenatelier, wo alles Leichtigkeit ausdrückt, angefangen bei der Versammlungs- und Mitwirkungsfreiheit bis hin zur Verwendung von Objekten und Bildern, deren Hauptmerkmal die „Gespanntheit nach oben“ war, wie bei einem Kinderluftballon oder einer Rakete, die die Schwerkraft überwindet: Im Flug zu schweben, bedeutet für den Menschen ursprünglich „leicht zu sein“. So sind die Veranstaltungen und Happenings der „Abendausstellungen“ sichtbarer Ausdruck des Bewusstseins, von einer „neuen Welt“ zu leben und sich auf die Suche nach einem neuen Alphabet und einer neuen Syntax zu machen, um diese zu beschreiben und zu erleben, etwas, das weder der romantischen Seele, die in der gesamten deutschen Kunst durchscheint, noch den existentialistischen Ansätzen – in einem philosophischen Sinne – der jüngsten informellen Periode fremd war, allerdings ohne die Dramatik, die Tragödie des Lebens. So tragen sogar Pienes Lichtballette, die dem Modulatorvon Moholy-Nagy doch sehr ähneln, jenen immersiven Aspekt in sich, der eine Metapher für die totale Einbeziehung der Sinne und Gefühle ist, nicht bloß geistige Schau eines neuen Ausdrucks.
[i] Heinz Mack, ZERO-Rakete, Fotocollage für ZERO 3, 1961, ZERO foundation, Düsseldorf.
[ii] Das Bild tauchte erstmals 1961 in der dritten Ausgabe der Zeitschrift ZERO auf, der letzten Nummer der historischen Reihe.
[iii] Die französischen Künstler der GRAV – Groupe de Recherche d’Art Visuel – zeichnen sich bei ihren visuellen Erkundungen durch größere „wissenschaftliche“ Strenge aus und anders als bei ZERO und den italienischen Gruppen T und Enne finden sich bei ihnen keine Spuren des Vermächtnisses von Dada.
[iv] Gemeint ist EM2 (Telephone Picture) aus dem Jahr 1923.
Das Licht von ZERO ist damit auch ein weiterer Ausdruck jenes „Nullpunkts“ der Kunst, den manche historische Avantgarde – und alle Neoavantgarden der 1960er Jahre – während ihres Bestehens angestrebt haben: für ZERO ohne jeden Selbstzweck, das heißt nicht Zwecken der selbstreferentiellen Sprache, die ihn hervorgebracht hat, dienend, sondern „Nullpunkt“ als Keim, Erzeuger, Ausgangspunkt, um das eigene Leben adäquat, also in Übereinstimmung mit den neuen „menschlichen Räumen“, zu leben.
Da aber der Künstler jeden Moment gezwungen ist, sich selbst durch das Werk auf die Probe zu stellen, muss das Licht zum Werk werden, zum „A“ des neuen Alphabets (eine Position, die, zur Erinnerung, das Stichwort „Bewegung“ ständig gefährdet …), auf dem er Mal um Mal die „Inszenierung“ der Welt aufbauen muss. Das Problem ist bloß, wie.
Ganz anders als für die Wissenschaft ist das Licht in seiner „humanen“ Ausführung höchst veränderlich. Licht ist keine Wellenlänge, die durch das Universum wandert, sondern das, was unsere Tage erhellt, und als solches wird es auch in der Kunst und insbesondere von ZERO aufgefasst. So ähnelt die „Licht-Falle“ mehr einem schamanischen Gegenstand als einem Spektroskop, mehr einer geheimnisvollen Form als einer technischen Vorrichtung.[i] Im Übrigen ist, wie auch immer im Kunstbereich agiert wird, der formale Aspekt in jedem Fall von großer Bedeutung, auch wenn es nicht darum geht, dem Licht eine Form zu geben, sondern darum, seine Anwesenheit mit Hilfe eines „Attraktors“ zu evozieren, dessen Aussehen oder Funktionsweise dem Licht gleichen und der zugleich eine eigene Identität besitzt, so wie bei dem magischen Objekt einer Ethnie, das in deren Angesicht von dieser als solches erkannt wird.
Das Schwierige dabei ist die Realisierung, weit mehr als die Idee, so wie es weitaus schwieriger ist, eine Rakete zu bauen, die auf den Mond fliegen kann, als den Wunsch und die Hoffnung zu hegen, dorthin zu gelangen … In der embryonalen, militanten, aggressiven und zugleich produktiven, dynamischen, innovativen Underground- und Off-Zeit von ZERO – die in etwa den ersten drei Jahren ihrer Aktivität entspricht – waren alle Ideen über das Licht schon vorhanden, aber die geeignetsten Mittel noch nicht gefunden, um ihnen Ausdruck zu verleihen; ihre Form fanden diese Ideen ab 1960/1961, was bestätigt, dass die Sprache recht lahm der Idee hinterherhinkt. Nicht anders als seit Beginn des 20. Jahrhunderts bei allen Avantgarden wie auch bei allen Neoavantgarden geschehen, wurde auch hier die Poetik des Anfangs in Erwartung einer Sprache, die den neuen Ideen besser entsprechen würde, mit den Mitteln der bereits vorhandenen Sprache ausgedrückt: Die Entwicklung des künstlerischen Ausdrucks hin zu den neuen Formen erfolgt selbst angesichts der kompromisslosesten Aussagen nicht unmittelbar, sondern verläuft Schritt für Schritt und nahtlos von den bekannten zu den neuen Regeln. Diesen Weg haben auch die radikalsten Künstler von ZERO durchschritten, indem sie im Wesentlichen von der Malerei zu einer „Gegenständlichkeit“ übergingen, die anfangs eine Art Mittelpunkt zwischen Malerei und Skulptur setzte (um sich daraufhin zur Installation umzuwandeln).
[i] In den Werken von ZERO mit Bezug zum Licht sind, wie auch in den anderen Werken, keine besonderen technischen Hilfsmittel zu finden, es gibt fast nie Motoren oder Mechanismen, außer sehr kleinen, die sich zum Beispiel zum Aufblasen von Formen oder zum Drehen von Gegenständen eignen. Alles, was evoziert wird, ergibt sich aus den Eigenschaften des verwendeten Materials und dem Auftreten zufälliger äußerer Faktoren, wie einem Windstoß.




Fast alle Künstler im Umkreis von ZERO, die das Licht zum Thema ihrer Tätigkeit gemacht haben, haben rund um die Konzepte von Transparenz, Schwingung und Schatten gearbeitet: Während die beiden erstgenannten die im engeren Sinne luminöse Seite stützen, wirkt das dritte als Gegenbeweis, indem die Lichtlosigkeit – der Schatten – genutzt wird, um die Existenz des Lichts zu demonstrieren. Diese Konzepte wurden in Objekten konkretisiert, deren Bestandteile fast immer Glas, Spiegel, Dunkelheit, Rauch und natürlich leuchtende Vorrichtungen waren, die als Lichtquelle fungieren (sie waren oft präsent, aber eben nicht immer). Sie wurden zu individuellen „Markenzeichen“ für ebenso viele Künstler, die sie zu den einzigen oder zumindest wesentlichen und stets präsenten Arbeitsmitteln ihres Werks machten, ähnlich wie dies Yves Klein (1928-1962) in ebenjenen Jahren getan hatte, als er sein Blau als IKB (International Klein Blue) „patentieren“ ließ. Doch obwohl viele dieser konstitutiven Elemente sich in nuce bei fast allen ZERO-Künstlern wiederfinden, haben nur wenige sie zum zentralen Motiv ihrer Arbeit gemacht, indem sie sich explizit auf das Licht bezogen und eine an den verwendeten Materialien erkennbare „Chiffre“ schufen. Davon geben wir nun einige signifikante Beispiele, wohl wissend, dass sie nicht erschöpfend sein können, und laden ein, die Experimentatoren, die sich mit diesem Thema befasst haben, das in jener kurzen historischen Zeitspanne grundlegend war, in einem weiter gefassten künstlerischen Panorama zu sehen. Die Schwingung zum Beispiel ist innerhalb von ZERO das Kennzeichen und die Erfindung von Heinz Mack, der ausgehend von angehobenen Flächen, dünnen Lamellen aus Metall, die aus der Oberfläche ragen und das auftreffende Licht einfangen, feine farbige Lichtvariationen im Einklang mit den Lichtveränderungen der Umgebung und der kaum wahrnehmbaren Schwingung der Lamellen erhielt. Im gleichen Zeitraum arbeiteten Künstler, die ZERO nahestanden und zuweilen in Ausstellungen von ZERO vertreten waren, wie Francesco Lo Savio (1935-1963), Enrico Castellani (1930-2017), Agostino Bonalumi (1935-2013) oder Jan Schoonhoven (1914-1994), mit derselben Methode der gekräuselten und verschäumten, freien oder modularen Oberfläche, um mit Hilfe von Licht eine konstante Variabilität der Wahrnehmung zu erhalten. Letztlich hat aber der andere Gründer von ZERO, Otto Piene, wohl noch mehr als sein Freund Mack, mit der Immaterialität des Lichts interagiert, einmal durch die Serie Lichtballett, aber auch mit den Rauchbildern. Die einen wie die anderen verwenden das Konzept des Schattens, um die Schwingung des Lichts sichtbar zu machen, doch während dies bei den Lichtballetten offenkundig wird, sogar in der Verschiedenartigkeit der Installationen, scheint die letztendliche Bedeutung des Lichts in den Rauchbildern weniger klar zu sein, die oftmals – und dies, ehrlich gesagt, nicht ganz zu Unrecht – als bloße „Malerei ohne Malerei“ gedeutet wurden, als quasi alchemistisches und allemal gestalterisches Experiment im Gefolge der zeitgleichen Versuche der Peintures de feu von Yves Klein, die spektakulärer und performativer waren. Aber das Feuer ist auch das erste künstliche Licht des Menschen, und dieses Licht erzeugt die Schwärze des Rauches, mit der Piene auf Flächen malte. So sind die „Gitter“ der Lichtballette und die Flecken der Rauchbilder miteinander verwandt: Die Gitter zeigen die Formen dank des hindurchscheinenden Lichts und des dadurch entstehenden Schattens als Negativ, während der Ruß auch die Erinnerung an das Feuer ist, dem leuchtenden Element schlechthin.
Der Schatten ist auch eine Begleiterscheinung der Schwingung (und umgekehrt), und was diese Verwendung betrifft, sind alle Künstler zu nennen, die bereits im Zusammenhang mit Letzterer erwähnt wurden: Lo Savio, Castellani, Schoonhoven (bei Bernard Aubertin (1934-2015) führte der Gebrauch des Feuers zu regelrechten Zeichnungen ohne Bleistift[i]) fingen das Licht anhand des Schattens ein, den dieses verursacht. Doch erst mit Christian Megert (*1936) und Nanda Vigo (1936-2020) nahm der Diskurs über das Licht einen radikal einfachen Ausdruck an. Megerts Annäherung an ZERO erfolgte ab Mai 1960 (Ausstellung Monochrome Malerei in Leverkusen) und intensivierte sich ab 1962.[ii] Sein Mittel der Wahl war der Spiegel, ein zerbrochener meist, der den Raum, der sich in ihm widerspiegelt, bricht und neu zusammenfügt, wobei dieser erst durch das auftreffende Licht zerfällt und sich zu neuen Formen zusammensetzt. Wenn der Spiegel der Auslöser einer neuen räumlichen Realität ist – welche, ist irrelevant, sie ist nur eine von unendlich vielen Möglichkeiten –, dann ist das Licht, das darauf fällt und reflektiert wird, der „Big Bang“ der Potenzialität. Nimmt man noch die Bewegung dazu – wie der Künstler das tat, indem er seine spiegelnden Bruchstücke in der Luft schweben ließ, sodass das Licht in immer neuen Winkeln auftraf –, dann wird einem klar, dass die beiden Elemente auch diesmal untrennbar miteinander verbunden sind und der Raum im Grunde eine Folge des Lichts ist. Nanda Vigo hingegen kommt in ihrer Zeit mit ZERO – die wegen des „chauvinistischen“ Widerstands ihres Lebensgefährten Piero Manzoni spät, nämlich 1964 begann, sich aber derart entwickelte, dass zwei exklusive Ausstellungen mit Werken der drei Gründer von ZERO und der italienischen Künstlerin zustande kamen und sie 1965 die große ZERO-Ausstellung in Mailand, Venedig und Turin kuratierte[iii] – noch radikaler daher als Megert, wenn das überhaupt möglich ist. Tatsächlich beschränkte sie sich in ihren Cronotopidarauf, Industrieglas mit unterschiedlichen Narbungen und Gitterrastern – wie sie auch Grazia Varisco (*1937) verwendete, allerdings zu anderen Zwecken – einzurahmen und wie ein Bild an die Wand zu hängen oder auf Sockel zu platzieren: Nur Licht scheint durch oder darauf, nichts weiter (die Hinzufügung von Lichtquellen erfolgte erst einige Jahre später). Die Wirkung ist kaum wahrnehmbar und das Objekt wirkt geheimnisvoll, solange das geistige Auge nicht nach den Gründen fragt, die in der minimalen Reduktion ihrer physikalischen Wahrnehmbarkeit ausgedrückt werden. Das Licht in Vigos ZERO-Werken stößt auf so gut wie keinen Widerstand und manifestiert sich daher nicht mit Gewalt oder als Offenkundiges, aber es ist da, und es ist der absolute Protagonist, während das Glas nur das Relikt einer langsamen Epiphanie ist.
[i] Im Gegensatz zu Piene und auf eine in gewissem Sinne mechanischere Weise, aber näher an Yves Klein, inszenierte Aubertin die Gewalt des Feuers und dessen Folgen, die sich absolut konsequent aus dem Anfangsakt des Feueranzündens ergeben. Auch Klein inszenierte, wie gerade erwähnt, die Aktion des Feuers, man denke an das Foto, wo er mit dem Flammenwerfer die Oberfläche bearbeitet, während im Hintergrund ein Feuerwehrmann bereitsteht, um eine etwaige – heraufbeschworene – Gefahr abzuwenden.
[ii] Megert ist auf den Ausstellungen Nul=Zero in Arnheim, Nieuwe Tendenzen in Den Haag (18. Januar bis 16. Februar 1962), Forum in Gent (5. Mai bis 3. Juni 1962), Zero in Bern, Galerie Schindler (9. bis 30. Juni 1962), ZERO in der Galerie Diogenes in Berlin (30. März bis 30. April 1963), Mikro-Nul/Zero, einer Wanderausstellung in Holland 1963, und dann im Großen und Ganzen in allen späteren Kollektiven vertreten.
[iii] Nach Aussage der Künstlerin, die mehrfach interviewt wurde, wollte Manzoni, mit dem sie von 1962 bis zu dessen Tod zusammenlebte, nicht, dass sie sich als eigenständige Künstlerin präsentierte („wir sind nicht das Ehepaar Curie“, soll er wiederholt gesagt haben), obwohl sie ihm auf seinen Reisen durch Europa folgte. Erst nach seinem Tod (im Februar 1963) konnte Vigo ihre Werke präsentieren. Siehe Kapitel „W like Women (Frauen)“ in dieser Publikation.


Das „offizielle“ Ende von ZERO im Jahr 1966 fiel mit dem Ende der Erkundungen zur Schaffung eines neuen Alphabets für eine neue Welt zusammen: Einerseits begnügten sich die Experimente der Pop-Art mit dem Gegenwärtigen, andererseits begünstigte das soziale und politische Engagement, dass eine populärere und daher weniger radikale Vorstellungswelt bedient wurde, doch die Saat war gestreut. Eben weil die Erkundungen zum Licht von ZERO – und zu den anderen Grundelementen der Wahrnehmung von Welt – absolut zweckfrei waren und sich der Feststellung dessen verschrieben hatten, was ist – das Licht stellt in unserem Fall nicht die Sonne der Zukunft dar und erhellt auch nicht unsere Alltagsprodukte, sondern existiert einfach –, waren sie langlebiger und standen jedem zur Verfügung, der sie nutzen wollte, aus welchen Beweggründen und zu welchen Zwecken auch immer, aber unter Verwendung dieser neuen Art des „Zeigens“, die danach üblich, anerkannt, akzeptiert wurde. Das neue Alphabet der Gleichzeitigkeit hat auch hier seinen Anfang genommen.[i]
[i] Ich möchte Massimo Ganzerla ganz herzlich für seine wertvollen und zahlreichen Hinweise zu Katalogen, Zeittafeln und Beteiligungen danken.
Dieser Text wurde von Caroline Gutberlet aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt.
Endnotes
M Musik
Zeitenwende(n)
Rudolf Frisius
Das Stichwort Zero kann, wenn es in kunstgeschichtlichen und kulturpolitischen Zusammenhängen fällt, verweisen auf künstlerische Tendenzen in der Zeitenwende-Phase des Ersten Weltkriegs (insbesondere 1915 in Russland) oder auf künstlerische Tendenzen in der Nachkriegszeit nach der Zeitenwende des Zweiten Weltkriegs. In beiden Fällen kann sich auch die Frage nach der Bedeutung dieses Stichwortes für die Musik stellen – insbesondere im zweiten Fall: Das Stichwort Zero könnte sich, über sein ursprüngliches Bedeutungsfeld hinaus, als wichtig erweisen auch und insbesondere für die Erforschung wichtiger Tendenzen im Bereich der Künste und insbesondere im Bereich der Musik.

In politischen und kulturellen Diskussionen wird das Stichwort Zeitenwende oft in Verbindung mit Null-Situationen verwendet:
– sei es, vor allem im allgemeinpolitischen Kontext, unter dem Stichwort Stunde null,
– sei es, wie während des Ersten Weltkriegs zum Beispiel in Russland und nach dem Zweiten Weltkrieg in westlichen Ländern, vor allem in Deutschland unter dem Stichwort Zero.
In beiden Fällen (Stunde null, Zero) handelt es sich um Begriffe, die häufiger in Kontexten der politischen Zeitgeschichte und der Entwicklung der bildenden Kunst verwendet werden als im Kontext der Musik. Vieles spricht dafür, dass die Zeit gekommen ist, diese Situation zu ändern und das Stichwort Zero im Zusammenhang mit der Musik und anderen Bereichen stärker als bisher in den musikbezogenen und musikübergreifenden Kontexten zur berücksichtigen.
Es gibt ein Hörstück das schon in den ersten Sekunden in diese Kontexte mit einem laut gesprochenen Stichwort einführt: „Die Mauer“.
Mit diesem Stichwort beginnt das Hörstück Mein 1989 von Georg Katzer, das 1990 entstanden und auch im Entstehungsjahr uraufgeführt worden ist. Zur Entstehungszeit des Stückes kannten viele Hörerinnen und Hörer die Stimme des Mannes, der da sprach: Es war Erich Honecker (1912-1994), der langjährige (und am 18. Oktober 1989 gestürzte) Vorsitzende des Staatsrats der DDR, die nach der Maueröffnung am 9. November 1989 kurz vor ihrem Untergang stand.
Der ostdeutsche Staatspräsident (als Verteidiger der 1961 unter seiner Aufsicht erbauten Berliner Mauer); später auch der Sicherheitschef Erich Mielke, der im weiteren Verlauf des Stückes vor der Volkskammer des von ihm regierten Landes seine „liebevolle“ Überwachung der Untertanen anpreist – beide kommen in diesem Hörstück zu Wort: als Exponenten eines Herrschaftssystems, das einzelne diktatorisch Privilegierte über viele Untertanen herrschen lässt.

Der Komponist Georg Katzer (1935-2019) präsentiert in diesem Stück extrem unterschiedliche Klangmaterialien in beziehungsreichen Kontrasten: Öffentlich gesprochene Worte einzelner Politiker – Geschrei und Gepolter protestierender Volksmassen. Der in diesen Kontrasten dargestellte Konflikt zwischen Herrschenden und Beherrschten lässt sich in Katzers Hörstück genauer verfolgen, und er lässt sich auch vergleichen mit einer historisch älteren Problematik, die Katzer bereits sieben Jahre früher in seinem Hörstück Aide-mémoire dargestellt hatte – dort allerdings in einem anderen Verhältnis zwischen einem redenden Machthaber und seinem Volk: 1983, sieben Jahre vor dem Hörstück über den Fall der Berliner Mauer, hat Georg Katzer dargestellt, wie, etwa ein halbes Jahrhundert früher, ein anderer, damals mächtiger Volksredner sein Publikum zu begeisterter Zustimmung angestachelt hat: Die zum totalen Krieg aufstachelnde Rede des deutschen Propagandaministers Josef Goebbels (1897-1945) und das Jubelgeschrei seiner deutschen Zuhörer 1943 im Berliner Sportpalast lassen sich in Kontext von Katzers Hörstück beschreiben als Kontrastmodell zum Revolutionsstück über die gewaltlose Revolution im November 1989.
Im älteren Hörstück folgt den Parolen des Hetzredners und dem Geschrei des ihm zujubelnden Publikums die Darstellung des deutschen Zusammenbruchs in den auf die Stalingrad-Katastrophe folgenden zwei letzten Weltkriegsjahren. Das Hörbild des Aufrufs zum totalen Krieg und das sich daran anschließende Hörbild der Bombardierung Deutschlands bilden den Schlussteil dieses Tonbandstücks, das Georg Katzer für den ostdeutschen Rundfunk produziert hat: 50 Jahre nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ (und 40 Jahre nach der Berliner Sportpalast-Rede von Joseph Goebbels). In die Untergangsmusik einbezogen ist die verzerrte Wiedergabe einer Musik, die 1941 im deutschen Rundfunk als Sendezeichen und als triumphale Begleitmusik zum Angriff auf die Sowjetunion eingeführt worden war: das lärmende Hauptthema der sinfonischen Dichtung Les Préludes von Franz Liszt.

Georg Katzers Hörstücke über die Epoche der nationalsozialistischen Diktatur (1933-1945) und über den Berliner Mauerfall (1989) präsentieren sich als obrigkeitskritische politische Beiträge zum Thema „Masse und Macht“ – als Entlarvung des aufhetzenden Massen-Verführers und der ihm jubelnd zustimmenden Anhänger im älteren Stück, als Konfrontation von Politikergerede und Massenprotest im neueren Stück. Zwischen diesen beiden Tonbandkompositionen ist 1989 ein thematisch noch weiter ausgreifendes Stück entstanden, das später als Vorankündigung dessen gehört werden konnte, was Katzer 1990 in Mein 1989 dargestellt hat: Die Revolutionsmusik Mein 1789 präsentiert, ebenso wie das spätere Stück über den Berliner Mauerfall, das Spannungsfeld von Worten und Realitäten in politischen Krisenzeiten.
Das 1990 entstandene Hörstück Mein 1989 präsentiert 1989 als „Jahr null“, als Jahr des Scheiterns einer spätstalinistischen Diktatur. Diese Musik der demokratischen Revolution artikuliert sich als Gegenstück zum älteren, 1983 entstandenen Hörstück, das das Zeitenwende-Jahr 1945 als Jahr des Zusammenbruchs einer deutschen Diktatur darstellt, während im neueren Hörstück das Revolutionsjahr 1989 in vorsichtigem Optimismus dargestellt wird.
1945 (als Jahr Zero einer weltweiten Katastrophe) und 1989 (als Jahr Zero eines spontanen, aber gewaltfrei versuchten und gelungenen Volksaufstands) erscheinen in Katzers Hörstücken als Daten politischer und kultureller Niedergänge, Zäsuren und Neuansätze. So präsentiert sich unangepasste politisch engagierte Musik.
Die Revolutions-Musiken von Georg Katzer sind, bezogen auf die Problematik des Nullpunkts (Zero) Sonderfälle im Kontext seines eigenen Œuvres – als politische Aussagen nicht im biografischen Kontext des Komponisten, sondern in Auswahl, Verarbeitung und Verbindung der ausgewählten Klangmaterialien.
Die Tonband-Komposition Aide-mémoire, das Hörstück über die vom nationalsozialistischen Deutschland angerichtete Zeitenwende (1933–1945, insbesondere 1943–1945) entstand 1983 als Auftragswerk für den Rundfunk der DDR. Die hier entwickelten neuen Verfahren der Tonband-Komposition mit zeitgeschichtlich geprägten Materialien führt Katzer auch in später entstandenen Tonbandkompositionen fort:
– zunächst im Tonbandstück Mein 1789 , 1989 (einem Beitrag zu einem internationalen Kooperationsprojekt des Tonbandmusik-Festivals in Bourges, das 200 Jahre nach der französischen Revolution realisiert wurde),
– ein Jahr später, in Mein 1989, 1990 (wiederum uraufgeführt in Bourges, als Beitrag zu einem internationalen Kooperationsprojekt über das Jahr 1989) dann auch als direkte gegenwartsbezogene Weiterführung des zuvor (in Mein 1789, 1989) noch in historischer Verkleidung Präsentierten.
Katzers politische Hörstücke lassen sich beschreiben als Versuche, auf der Basis der musikalischen und politischen Reflexion einen neuen Nullpunkt zu finden und, von diesem Nullpunkt ausgehend, eine dem technischen Zeitalter adäquate und allgemeinverständliche Musiksprache zu entwickeln.
Die Suche nach einem Nullpunkt und nach einer von diesem Nullpunkt ausgehenden Neuentwicklung hat im 20. Jahrhundert in vielen Bereichen der geschichtlichen Entwicklung eine wichtige Rolle gespielt, auch in den Bereichen der Literatur, der Künste und insbesondere der Musik. Besonders wichtig war dies in der Mitte dieses Jahrhunderts, bei der Zeitenwende nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
1945, das Jahr des Kriegsendes, markierte einen Wendepunkt nicht nur im Bereich der Politik, sondern auch im Bereich der Musik und anderer Künste. In verschiedenen Bereichen schien damals deutlich geworden zu sein, was unwiderruflich zu Ende gegangen war. Weniger deutlich war zunächst, wie es in den verschiedenen Bereichen weitergehen könnte, welche Neuansätze möglich sein würden.
In Deutschland begannen 1945 nach der bedingungslosen Kapitulation neue Entwicklungen unter der Kontrolle von vier Besatzungsmächten: Die Aufteilung Deutschlands in drei westliche Zonen (britische, französische und amerikanische Zone) und eine östliche (sowjetische) Zone führte in der Folgezeit zur Aufteilung Deutschlands in einen westdeutschen und einen ostdeutschen Teilstaat, und die in Ost und West unterschiedlichen politischen Machtverhältnisse (die sich dann erst Jahrzehnte später grundlegend verändern sollten im Zeitenwende-Jahr 1989) führten dazu, dass sich innovative künstlerische Tendenzen zunächst vorwiegend im Westen und im Kontakt mit westlichen Nachbarländern entwickelten.
Zu einem wichtigen Kontaktforum im Bereich neuer Musik entwickelten sich in den ersten Nachkriegsjahren die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, auf denen seit 1947 wichtige französische Pioniere avantgardistischer Musik aufgetreten sind:
– zunächst (1947) René Leibowitz (1913-1972), der damals führende Experte für die Zwölftonmusik Arnold Schönbergs (Schönberg hatten die Nationalsozialisten ins Exil vertrieben, Leibowitz hatte im Untergrund überlebt)
– dann (1949) Olivier Messiaen (1908-1992), der die französische Musik unabhängig von Schönbergs Zwölftonmusik zu erneuern begonnen hatte und dessen eigenwilliger Schüler Pierre Boulez
(1925-2016) später auch in Darmstadt eine wichtige Rolle spielen sollte.
Für Olivier Messiaen hat sich 1951 auf den Darmstädter Ferienkursen ein junger deutscher Komponist interessiert: Karlheinz Stockhausen (1928-2007). Stockhausen hat in Darmstadt die Schallplatten-Aufnahme eines radikal neuartigen Klavierstücks von Olivier Messiaen gehört, das dieser zwei Jahre zuvor während seines Aufenthalts bei den Darmstädter Ferienkursen komponiert hatte: Mode de valeurs et d’intensités. In diesem Stück sind alle Konventionen bisheriger Musik radikal in Frage gestellt und aufgehoben: Traditionelle Rhythmen, Motive und Akkorde gibt es nicht mehr. Jeder Ton steht mit eigenen Eigenschaften (Tonhöhe, Lautstärke, Dauer) zunächst für sich. Als Punkt Zero, als Anfangspunkt und Ausgangspunkt für Neues, präsentiert sich hier der einzelne Ton mit seinen Grundeigenschaften Höhe, Lautstärke, Dauer.
Diese Komposition ist das Schlüsselwerk, mit dem Messiaen viele seiner damaligen und späteren Schüler nachhaltig beeindruckt hat, beispielsweise den Franzosen Pierre Boulez, den Belgier Karel Goeyvaerts
(1923-1993), den Griechen Iannis Xenakis (1922-2001) und den Deutschen Karlheinz Stockhausen. Diese und andere Komponisten hat Messiaen ermutigt, vom Nullpunkt ausgehend jeweils ihre eigene Position zu suchen und zu finden. Keiner seiner später berühmt gewordenen Schüler hat Messiaens radikale Klavier-Etüde oder andere Musik von Messiaen jemals kopiert. Jeder hat es vielmehr auf seine eigene Weise studiert und verarbeitet:
– Pierre Boulez hat sich anregen lassen zu einem konstruktiv noch strengeren und noch radikaleren Klavierduo mit seriell genau vorgeplanten Tonpunkten (Structures 1. Buch, insbesondere das 1951 entstandene erste Stück: Structures Ia).
– Karlheinz Stockhausen komponierte, angeregt durch Messiaens Etüde, 1951 das Ensemblestück Kreuzspiel als „punktuelle Musik“ mit ständig wechselnden Tonhöhen, Lautstärken, Rhythmen, Klangfarben und weiträumigen Bewegungen im Tonraum.
– Iannis Xenakis entwickelte, ermutigt von Messiaen, formalisierte Musik auf der Basis altgriechischer Musiktheorie und moderner Mathematik (auch im Zusammenhang mit architektonischen Projekten, die er zunächst als Mitarbeiter von Le Corbusier (1887-1965) und später auch in eigener Verantwortung realisiert hat).
Das erste Werk, mit dem die neuen musikalischen Gestaltungsideen von Xenakis international bekannt wurden, war das 1955 auf den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführte Orchesterstück Metastaseis. In diesem Stück definiert Xenakis den Nullpunkt der musikalischen Konstruktion anders, als es vor ihm Boulez und Stockhausen versucht hatten: Alle Streicher beginnen auf demselben Ton – und danach beginnen ausgedehnte Glissandi, in denen jeder einzelne Streicher seinen eigenen Weg des Auf- oder Abstiegs in Tonraum findet nach strengen Vorgaben, die der Komponist zunächst auf Millimeterpapier fixiert hat (wie ein Architekt), und die er dann später aus aufführungspraktischen Gründen umgeschrieben hat in eine traditionell notierte Partitur.

Die punktuelle Musik von Boulez und Stockhausen geht in Structure 1a und Kreuzspiel aus von einzelnen Tonpunkten (bei Stockhausen auch Geräuschpunkten), die in allen Grundbestimmungen nach strengen Konstruktionsschemata vorausbestimmt werden – nach Regeln, die sich in vielen Details leichter aus der Partitur ablesen als direkt heraushören lassen. Im Orchesterstück von Xenakis hingegen sind die auseinanderstrebenden Gleitklänge der Streichinstrumente von Anfang an identifizierbar als klar ausgerichteter Prozess. Deutlich erkennbar ist dies in der Entwurfsskizze des Komponisten, aber nicht in der von Xenakis nach den Angaben der Grafik angefertigten, in traditioneller Notation ausgearbeiteten Orchesterpartitur, die genaue Anweisungen für alle Spieler enthält und deswegen schwerer zu lesen ist. In einer Konzerteinführung zu seinem Stück hat Xenakis den Unterschied zwischen beiden Partituren plausibel erklärt: Die graphische Notation ist leicht lesbar, aber nicht leicht spielbar. Die traditionelle Notation ist leicht spielbar, aber nicht leicht lesbar.
In diesem Orchesterstück hat Xenakis deutlich gemacht, dass auch Musik für traditionelle Orchesterinstrumente von einem Ton (dem tiefsten Ton der Violinen) ausgehend sinnfällig und durchaus neuartig gestaltet werden kann.
Zur Entstehungszeit des Orchesterstückes Metastaseis hatte Xenakis noch keinen Zugang zu einem Studio, das ihm die Realisation und Komposition technisch produzierter Klänge erlaubt hätte. Dies wurde Xenakis erst in den folgenden Jahren möglich: Er komponierte eine Tonbandmusik mit transformierten Erdbebenklängen (Diamorphoses, 1957), und er realisierte eine konkrete Eingangsmusik für den (ebenfalls von Xenakis entworfenen) Pavillon zur Expo 58, der Weltausstellung in Brüssel (Concret PH, 1958).
Typisch für die Musik und für das Musikdenken von Iannis Xenakis ist, dass in verschiedenen seit den 1950er Jahren entstandenen Stücken die Null- bzw. Ausgangspunkte der musikalischen Konstruktion ganz unterschiedlich angesetzt sind, aber jeder Ansatz auf eigene Weise plausibel weitergeführt wird. Dabei kann die Konzentration auf den Anfangston als Ausgangsstadium so weit führen, dass dieser Ton im ganzen Stück wiederholt wird, wie es Xenakis in einer Komposition für Knabenchor und Orchester versucht hat, in der die Sänger den gesamten Text auf einem Ton rezitieren (Polla ta dina, 1958).
Ein anderes Beispiel: Nach dem Zeitenwende-Jahr 1968 hat Xenakis populäre, vom Hörer in ihren Verläufen leicht nachvollziehbare Schlagzeugmusik geschrieben, die in stets wechselnden Mustern zwischen Periodizität und Aperiodizität oszilliert, zum Beispiel in Persephassa, 1969, für sechs Schlagzeuger oder im Solostück Psappha, 1975.
Während vom Nullpunkt ausgehende musikalische Konstruktionen bei Xenakis oft von mathematischen Strukturierungen ausgehen (beispielsweise von der Siebtheorie als Basis der Strukturierungen von Rhythmen oder Tonskalen), finden sich andere, stärker von innermusikalischem Entwicklungsdenken ausgehende Ansätze in vielen unterschiedlichen Varianten vor allem bei Karlheinz Stockhausen.
Für die Komposition technisch produzierter Musik hat sich Stockhausen schon seit den frühen 1950er Jahren interessiert, weil er damals glaubte, seine strengen strukturellen Vorstellungen nur mit technisch produzierten Klängen realisieren zu können.
Eine erste Tonbandproduktion, die 1952 in Paris realisierte konkrete Étude, fand nicht den Beifall des Pariser Studioleiters Pierre Schaeffer. Das Stück blieb lange unaufgeführt liegen und wurde erst Jahrzehnte später gelegentlich in Konzertaufführungen gespielt, schließlich auch in Stockhausens CD-Gesamtausgabe veröffentlicht. Die merkwürdige Karriere dieses kurzen Stückes lässt sich wohl auch damit erklären, dass Schaeffer weder ästhetisch noch technologisch mit einer Musik sympathisierte, die in strenger Systematisierung aus einem einzigen, als Nullpunkt gesetzten Ausgangsmaterial abgeleitet worden war. Erst in Köln bekam Stockhausen die Gelegenheit, eine Musik zu realisieren, die konsequent vom Nullpunkt eines einzigen synthetischen Grundmaterials ausging: von Sinustönen. Eine solche monochromatische Nullpunkt-Musik hat Stockhausen 1953 geschaffen in seiner ersten elektronischen Musik, der er später den Titel Studie I gegeben hat.

Monochrome Musik, wie sie Stockhausen in seiner elektronischen Studie I realisiert hat, könnte anregen zum Vergleich mit monochromen Bildern, die ebenfalls in den 1950er Jahren entstanden sind, beispielsweise mit Bildern von Yves Klein (dessen Arbeiten Stockhausen kannte, von dessen personalstilistisch profilierter Monochromie er sich aber distanzieren wollte in den extrem unterschiedlichen Konzeptionen seiner verschiedenen Werke). Solche Vergleiche können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass monochrome Musikstücke und Bilder sowohl in der Machart als auch im Endergebnis durchaus sehr unterschiedlich erscheinen können.
Das zeigt sich im Falle der Musik besonders deutlich am Beispiel von Stockhausens Studie I. Dieses Stück ist monochrom nicht in einem der monochromen Malerei exakt entsprechenden Sinne (in dem eine einzige Farbe in verschiedenen Nuancierungen primär den Gesamteindruck prägt), sondern in seiner kompositorischen Struktur.
Sechs Jahrzehnte später entsteht, als Beitrag aus einer jüngeren Generation, eine Komposition, die ebenfalls aus einfachsten Elementarklängen, aus Sinustönen sich bildet: Die 2019 entstandene audiovisuelle Sinusstudie der chinesischen Komponistin Jia Liu (*1990). Die Sinustöne erscheinen aber bei Jia Liu, anders als bei Stockhausen, in kleinsten Abständen, aus denen sich bei der Überlagerung feinste Tonbelebungen durch Schwebungen ergeben. In diesem Stück erscheinen alle Sinustöne in ständiger Bewegung – anfangs und am Ende vereint auf derselben Tonhöhe, aber im größeren Zusammenhang in vielfältigen Belebungen: am Anfang des Stückes mit dynamischen Schwankungen und mit im Tonraum sich ausbreitenden, durchweg dynamisch belebten Tönen; am Ende des Stückes mit der Rückkehr zum Anfangsstadium, zum dynamisch belebten Ton. Hier, ähnlich wie in einer anderen, 2020 entstandenen Komposition mit dem Titel Ringstudie II/b, erscheinen Töne nicht mehr in vorwiegend statischen, stets wechselnden Konstellationen fester Töne, sondern in dichten Schichtungen gleitender Töne, die in der Sinusstudie auch auf dem Bildschirm in stets wechselnden Tonbewegungen zu verfolgen sind und die in der Ringstudie II/b auf dem Computer-Bildschirm als klar konturierte Prozesse des Wachsens und Abnehmens verfolgt werden können.


Musikalische Keimzellen von weiträumigen Klangbewegungen (die sich beschreiben lassen als kontinuierlich bewegte Kontrastmodelle zu den stets wechselnden Klang-Konstellationen „fester“ Töne in Stockhausens elektronischer Studie I) gibt es in radikal neuer Musik seit den frühen 1950er Jahren. Das erste Beispiel dieser Art findet sich am Anfang eines der skandalträchtigsten Stücke in der Musik nach 1945: Le Voile d’Orphée (Der Schleier des Orpheus), das 1953 entstandene Hauptwerk von Pierre Henry, ist der Schlusssatz einer Gemeinschaftskomposition von Pierre Schaeffer und Pierre Henry, die 1953 auf den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt worden ist und dort einen spektakulären Skandal provozierte, der sich einerseits gegen (von Schaeffer bevorzugte) Anklänge an traditionelle Opernmusik richtete, andererseits aber auch gegen die wilden, durchaus neuartigen Klangströme in Henrys Schlussmusik, die, vom Komponisten (zur Übertönung des Publikumslärms) extrem laut ausgesteuert, die meisten Hörer aus dem Saal jagte.
Die Gleitklänge und Klangbahnen dieser Musik ergaben sich als Konsequenz einer Musik, die von einem ganz anderen Nullpunkt ausging als Stockhausens frühe elektronische Musik: nämlich als Musik einer völlig neuartigen Kontinuität, wie sie nur mit neuen, nur im Studio produzierbaren Klängen erreicht werden kann, nicht aber allein mit Stimmen und traditionellen Instrumenten.
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1955, zwei Jahre nach dem von Schaeffer und Henry provozierten Uraufführungs-Skandal, hat in Donaueschingen eine andere, diesmal weniger kontroverse Komposition Aufsehen erregt: Metastaseis, 1953-1954 von Iannis Xenakis – eine Musik für großes Orchester, die mit dichten Glissandi aller Streichinstrumente beginnt: Alle Streicher beginnen auf demselben Ton, dem tiefsten Ton der Violinen, und von diesem Ton aus spielt jeder Geiger ein eigenes Glissando (Gleitklang) – die höheren Streicher aufwärts, die tieferen Streicher abwärts. Nach einiger Zeit stoppen alle Streicher gleichzeitig, jeder auf einem anderen Ton, sodass sich viele Töne dicht geschichtet im weiten Tonraum überlagern. Nach einiger Zeit verwandeln sich plötzlich alle Haltetöne der Streicher in Tremolo-Töne, die extrem laut einsetzen und danach dann im Diminuendo verlöschen, bis ein Triangel-Akzent den Klangstrom unterbricht und eine erste größere Zäsur schafft.
Diesem weiträumig expandierenden Anfang (der rhythmisch belebt wird durch einige mit dem Woodblock gespielte Schlagzeug-Akzente) folgt später, am Schluss des Stückes, eine gegenläufige Entwicklung: Die Töne eines dichten, den weiten Tonraum füllenden Streicherakkordes bewegen sich gegenläufig aufeinander zu und treffen sich schließlich auf einem gemeinsamen Schlusston (der etwas höher liegt als der Anfangston und der, an- und abschwellend im Tremolo, das Stück beschließt).
Die von Xenakis hier erfundenen Bewegungen im Tonraum sind ein erstes plastisches Modell seines musikalischen Denkens, das ausgeht von charakteristischen Strukturmodellen, die sich ändern können im Wechsel verschiedener Werke oder Werkgruppen. Im frühen Orchesterstück Metastaseis finden sich solche Strukturmodelle vor allem am Anfang und Ende des Stückes, während sich im Inneren des Stückes auch Tonstrukturen finden, die eher an modernisierte Zwölftonmusik anknüpfen als an mathematische Strukturmodelle.
In später entstandenen Werken oder Werkgruppen finden sich, oft auf der Basis anderer mathematischer Strukturen, sinnfällige Strukturierungen auch anderer Bereiche, zum Beispiel für Rhythmen (in Schlagzeugmusiken wie dem Sextett Persephassa, 1969 oder dem Solostück Psappha, 1975) oder für Tonmengen oder Tonleitern (in den Klavierstücken Herma, 1960/61 oder Mists, 1981). In diesen und anderen Werken kann der Hörer bestimmte Strukturierungen auch als künstlerische Reaktionen auf Zeitenwenden wahrnehmen, beispielsweise die Glissando-Strukturen und Geräusch-Strukturen im Orchesterstück Metastaseis oder im Hörspiel Pour la paix, 1981 (zu einem Text von Françoise Xenakis, einer früheren Widerstandskämpferin) bezogen auf visuelle oder klangliche Erfahrungen aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs (in denen Xenakis auf Demonstrationen und als Widerstandskämpfer aktiv gewesen ist) oder in Nuits, 1967, einem Gedenkstück für politische Gefangene.
In diesen und anderen Stücken finden sich Modelle einer streng strukturierten politisch engagierten Musik, die einladen könnten zum Vergleich mit Aspekten politischen Engagements in der Arbeit von ZERO-Künstlern (beispielsweise im aktiven Widerstand gegen die Parole „Keine Experimente“, mit der im Bundestags-Wahljahr 1957 die CDU/CSU in den Wahlkampf zog und damals die absolute Mehrheit gewann) oder von anderen Pionieren neuer Musik (beispielsweise Luigi Nono, der Zitate aus letzten Briefen politischer Gefangener in streng serieller Musik präsentierte und verarbeitete).
Es lassen sich auch Beispiele streng struktureller Innovationen finden, die musikimmanent vergleichbar, aber in der musikpolitischen Positionierung unterschiedlich sind oder bei denen musikalische und politische Radikalität sich in (manchmal schwer aufzulösenden) Spannungsverhältnissen präsentieren – zum Beispiel politisch engagierte Musik von Luigi Nono (1924-1990) seit den frühen 1950er Jahren und ihre Wandlungen in Nonos Spätwerk; oder politisch bedingte Abwendung von der Avantgarde seit den 1960er Jahren bei Cornelius Cardew(1936-1981), der sich in den 1960er Jahren vom einstigen Mitarbeiter Stockhausens zu dessen musikpolitischem Gegner gewandelt hat; oder Ansätze einer politisch kritischen Neuorientierung des Hörspiels bei Mauricio Kagel (1931-2008); oder Ansätze politisch engagierter Klaviermusik bei Frederick Rzewski (1938-2021); oder Ansätze der Konfrontation streng strukturierter Minimal Music mit zeitkritischen Sprechtexten bei Steve Reich (*1936).
Diese und andere Beispiele könnten darauf verweisen, dass viele unter dem Stichwort Zero subsumierbare Aspekte in der Musik und in anderen Bereichen des kulturellen Lebens (beispielsweise in den bildenden Künsten und in der Architektur sowie in der Verbindung verschiedener Bereiche im modernen Hörspiel) auch heute noch viele Anregungen zu fachlich spezialisierten oder interdisziplinären Forschungen und Diskussionen geben können. Wie wichtig in diesem Zusammenhang das Spannungsverhältnis zwischen primär politischen und primär kunstimmanenten Fragestellungen werden kann und wie es bewältigt werden kann, wäre zu klären in weiteren Diskussionen und Forschungen innerhalb und außerhalb der Musik und ihrer Vernetzungen im politischen und kulturellen Leben.
Als Beispiel für ein in diesem Zusammenhang wichtiges Arbeitsfeld seien einige fachspezifische und fächerübergreifende Aspekte unter dem Stichwort Bewegung genannt:
Im Zusammenhang mit der Musik kann von Bewegung nicht nur im engeren Wortsinn, sondern auch im übertragenen Sinn gesprochen werden – beispielsweise beim Übergang von einer Tonhöhe zu einer anderen: Wenn eine zweite Tonhöhe nahe der ersten liegt, wird von einem Schritt gesprochen, anderenfalls, wenn sie weiter entfernt ist, von einem Sprung. Eine Bewegung nicht im übertragenen, sondern im engeren Sinn würde eigentlich erst dann entstehen, wenn der eine Ton zum anderen hinübergleitet, im Glissando. Ein solches Glissando aber kann für das traditionelle Musikverständnis ein Problem bedeuten:
In der traditionellen Notenschrift gibt es das Glissando meistens nur als einfache Linie, die in der Regel von einem Notenkopf zu einem anderen führt. In einfachen Fällen, etwa bei den geradlinigen Streicher-Glissandi im Orchesterstück Metastaseis von Iannis Xenakis, kann dies genügen. Es kann aber auch vorkommen, dass kompliziertere Tonbewegungen vorgeschrieben werden, beispielsweise in der Komposition Mikka, 1971, für Violine solo von Iannis Xenakis oder an zentraler Stelle in der Komposition Kontakte, 1958-60, von Karlheinz Stockhausen. Hier erscheint an zentraler Stelle ein in mittlerer Lage einsetzender und von dort aus in kurviger Bewegung abwärts führender Gleitklang, ein Glissando. Nachdem das Glissando sich längere Zeit in kurviger Bewegung abwärts bewegt hat, verwandelt es sich – ähnlich wie der Gleitklang eines sich verlangsamenden Motorrads: Das zusammenhängende Gleitgeräusch beginnt zu zerfallen – es löst sich allmählich auf in abgleitende Impulse, die im Laufe der sich fortsetzenden Bewegung immer langsamer werden und schließlich zur Ruhe kommen. Sie verwandeln sich in Staccato-Wiederholungen desselben Tones, und danach – angekündigt durch ein kurzes Signal mit einigen abwärts führenden Staccato-Impulstönen – führen sie zu einem tieferen Ton, der ebenfalls im Staccato wiederholt wird und auf dem dann auch die beiden (die elektronische Musik begleitenden) Solisten einsetzen können. Hier geht es eindeutig um die Darstellung eines rein innermusikalischen Vorgangs: um die Verwandlung melodischer (Abwärts-) Bewegung eines Gleitklangs (Glissando) in sich verlangsamende Tonwiederholungen und schließlich in einen lang ausgehaltenen elektronischen Ton.

Stockhausen spricht in diesem Zusammenhang von der „Einheit der musikalischen Zeit“. Er meint damit, dass klangliche Vorgänge sich stark verändern können, wenn sie stark beschleunigt werden (wie viele elektronische Klänge, die Stockhausen in seinem Stück gleichsam im Zeitraffer einsetzt), oder wenn sie stark verlangsamt werden (wie der Gleitklang, mit dem der eben beschriebene zentrale Formteil des Stückes einsetzt, und die Herkunft der hier meistens hochtransponiert und beschleunigt verwendeten Klänge in Zeitlupe exemplarisch enthüllt).
In diesem Stück und an dieser Stelle geht es also vorrangig um rein innermusikalische Vorgänge, die der Komponist in einem kommentierenden Artikel auch ausführlich beschrieben hat. Andere Bedeutungen und Zusammenhänge hat der Komponist zur Entstehungszeit des Stückes nicht öffentlich erwähnt – beispielsweise die Zuordnung elektronischer Klänge zu einer himmlischen Sphäre und instrumentaler Klänge zu einer irdischen Sphäre: eine Zuordnung, die anregen könnte zu einer Deutung des die Komposition abschließenden Teils mit seinen dominierenden elektronischen Klängen und mit den nur sparsam begleitenden Instrumentalklängen.

Ganz anders als in Stockhausens Komposition Kontakte stellt sich die Deutungs-Problematik dar in einer einige Jahre später entstandenen Computermusik von Jean-Claude Risset. In diesem Stück erscheinen „unendliche Glissandi“, die beim Hörer den Eindruck eines unendlichen Absturzes erwecken könnten. Der Titel dieses Stückes kann darauf verweisen, dass diese Klänge auch außermusikalisch gehört werden können: in einem Werk, das der Komponist ausgewiesen hat als Computer-Suite zum Theaterstück Little Boy, also zu einem Theaterstück über die erste im Krieg eingesetzte, am 6. August 1945 über Hiroshima abgeworfene Atombombe. Die Problematik des Weitergehens nach Erreichen des Nullpunkts artikuliert sich hier sowohl innermusikalisch als auch im musikübergreifenden Kontext einer Zeitenwende.

Endnotes
N Natur
Von Möwen und anderer Natur – Die gemeinsame ZERO-Präsentation von Hans Haacke, Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker
Romina Dümler
Der Beitrag nimmt die Projektvorschläge von Günther Uecker, Heinz Mack, Otto Piene und Hans Haacke für das nicht realisierte Projekt Zero op Zee zum Ausgangspunkt, um dem Naturverständnis der vier Künstler in den 1950er und 1960er Jahren nachzugehen. Dabei zeigt der erste umfassende Blick auf die 1965 gemeinsam visionierte „ZERO-Präsentation“ für Meer und Land, rund um den Pier von Scheveningen, wie prägend diese für alle vier Künstler auch in späteren Jahren blieb.
Es ist ein großes Glück, dass so viele Materialien des für 1966 geplanten, letztlich aber nicht realisierten Projekts ZERO op zee erhalten geblieben sind.[i]
So zeigen Zeitungsartikel[ii], die das von der niederländischen Galerie Orez initiierte Projekt bereits ab 1965 bewarben, wie ernsthaft die Bestrebungen waren, die Pier von Scheveningen mitsamt der umliegenden Küste, dem Meer und dem Luftraum mit zeitgenössischer Kunst zu bespielen.
Die zahlreichen, sehr konkreten Projektskizzen[iii] der 29 geladenen, internationalen ZERO-Künstler*innen[iv] illustrieren, wie unterschiedlich diese mit den natürlichen Gegebenheiten des anvisierten Ausstellungsortes umgingen: Während einige ihre existierenden Arbeiten auf die örtlichen Gegebenheiten hin skalierten, entwarfen andere neue Werke, die die Natur(kräfte) des ungewöhnlichen Settings produktiv miteinbezogen. Sie erdachten Arbeiten, die zwar noch mit ihrer vorangegangen ZERO-Kunst eng verbunden waren, aber gleichzeitig die Verbindung von Kunst und Natur reflektierten. Dazu gehören neben den Entwürfen der japanischen Künstler, die der Gutai-Gruppe zugerechnet werden können, vor allem die Werke von Hans Haacke (*1936), Heinz Mack (*1931), Otto Piene (1928-2014) und Günther Uecker (*1930).
Jene vier reichten – wie alle anderen – individuelle Entwürfe ein, besonders sticht aber eine schriftliche Projektskizze heraus, die von ihnen gemeinschaftlich vorgelegt wurde.[v] Sowohl die gleichwertige Listung ihrer Namen im Kopf des Briefes an die Galerie Orez als auch die Bezeichnung des Projekts als „unsere ZERO=Praesentation“[vi] verdeutlichen, dass es sich beim Projekt von Haacke, Mack, Piene und Uecker um eine bemerkenswerte Kollaboration handelt.
Wie kam es zu dieser einmaligen Zusammenarbeit? Und was verband die Düsseldorfer ZERO-Gruppe mit Hans Haacke, der heute vor allem als Konzeptkünstler mit politischer Ausrichtung bekannt ist?
[i] Vgl. grundlegend zu ZERO op zee, Caroline de Westenholz: „ZERO on Sea“, in: ZERO 5. The Artist as Curator. Collaborative Initiatives in the International ZERO Movement 1957–1967, hrsg. von Tiziana Caianiello, Mattijs Visser, Gent 2015, S. 371-395; Ulrike Schmitt, Der Doppelaspekt von Materialität und Immaterialität in den Werken der ZERO-Künstler 1957-67, Diss. Köln, Nürnberg 2013, S. 163 – 170; Anette Kuhn ZERO. Eine Avantgarde der sechziger Jahre, Frankfurt am Main, Berlin 1991, S. 85-86.
[ii] Vgl. beispielsweise Archiv ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.II.237; mkp.ZERO.1.II.238;
[iii] Sie befinden sich heute im Haags Gemeentearchief in Den Haag.
[iv] Armando, Bernard Aubertin, Hans Bischoffshausen, Stanley Brouwn, Gianni Colombo, Lucio Fontana, Hans Haacke, Jan Henderikse, Kumiko Imanaka, Norio Imai, Yves Klein, Yayoi Kusama, Heinz Mack, Tsuyoshi Maekawa, Christian Megert, Sadamasa Motonaga, Schuki Mukai, Saburo Murakami, Henk Peeters, Otto Piene, Werner Ruhnau, Shozo Shimamoto, Hans Sleutelaar, Ferdinand Spindel, George Rickey, Günther Uecker, Nanda Vigo, Toshio Yoshida, and Michio Yoshihara.
[v] Heinz Mack, Otto Piene, Günther Uecker, Hans Haacke an die Internationale Galerie Orez, Abschrift von Otto Piene an Heinz Mack, New York, 23.8.1965, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, mkp.ZERO.1.I.653.
[vi] Ebd.



Hans Haacke lebte in den ausgehenden 1950er-Jahren im Gegensatz zu Mack, Piene und Uecker nicht in Düsseldorf, sondern wurde in Kassel ausgebildet. Geboren in Köln, sah er nach eigenen Angaben zum ersten Mal 1959 ZERO-Werke und war beeindruckt von der Neuartigkeit dieser Kunst, vor allem aber dem Einsatz von Licht und Schatten.[i] Wohl Ende 1959 nimmt Haacke daraufhin mit Piene zum ersten Mal Kontakt auf, was aus Haackes daran anschließenden Brief hervorgeht[ii]. Sein Interesse an der ZERO-Zeitschrift wird von Piene nur drei Tage später positiv beantwortet[iii] und auch Haackes Bitte: „Wenn ich einmal in die Düsseldorfer Gegend kommen sollte, würde ich Sie gerne, falls es Sie nicht stört, aufsuchen“[iv] muss Gehör gefunden haben. Der erste Kontakt mündete zwischen 1961 und 1965 in eine rege Korrespondenz, zudem sind Briefwechsel von Haacke mit Mack erhalten.
In den Briefen ist die US-amerikanische Kunstszene ein wichtiges Thema. Bereits 1961 hatte Haacke als Stipendiat die USA kennengelernt, zog dann 1963 zwischenzeitlich in ein Atelier in Köln, um 1965 schließlich dauerhaft in die USA auszuwandern. Die Künstler der Düsseldorfer ZERO-Gruppe führten spätestens ab Mitte der 1960er-Jahre Ausstellungen und längere bis dauerhafte Arbeitsaufenthalte nach Übersee. Und so tauschte man sich über die gemeinsame Kunstbasis aus („Zero ist meines Wissens noch nicht nach New York gedrungen“[v]; „Ich habe …? Ein paar Leute gefunden, die mit unseren Vorstellungen sympathisieren – schon bevor ich sie traf.“[vi]), berichtete von Ausstellungen, an denen die Kollegen nicht selbst vor Ort sein konnten[vii] oder vermittelte sich gegenseitig Kontakte und Ausstellungsmöglichkeiten.[viii]
Dass Haackes künstlerische Interessen eng mit denen der ZERO-Künstler verknüpft waren, wird an seinem Frühwerk augenscheinlich. So ist Ce n’ est pas la voie lactée, 1960, übereinstimmend mit ZERO-Vorlieben für „[…] Rasterstrukturen, neue Materialien, neue Techniken und für den grundsätzlichen Verzicht auf das Handschriftliche […]“[ix] als bildfüllende vibrierende All-Over-Struktur ausgeführt. Les Couloirs de Marienbad, 1962, ist eine Acrylglasplatte mit gleichmäßiger Noppenstruktur, die von einem darunterliegenden Spiegel vervielfältigt wird. Das darin erkennbare Interesse an Licht und Schatten, Reflektion und Dynamik, die auch maßgeblich von der Bewegung der Betrachter*innen abhängt, stimmt ebenso mit den künstlerischen Zielen von ZERO überein.
Auffallend sind formale Parallelen in Arbeiten von Haacke und Mack, so in den Silberreliefs.[x]1965 wurde sich Haacke auch der Ähnlichkeit von Plexiglasarbeiten bewusst und suchte das Gespräch mit Mack, um jegliche Verdachtsmomente, der eine hätte dem anderen etwas abgeguckt, vorab entgegenzuwirken.[xi] Bei den 1963 von Haacke angefertigten, sogenannten Kondensationskästen handelt es sich um rechteckige Plexiglasbehälter verschiedener Formate, in denen er Wasser einschließt, das darin einen unendlichen Kreislauf von Verdampfung und Kondensation vollzieht. Der feine Tröpfchenschleier, der sich auf den transparenten Oberflächen niederschlägt, gibt der simplen und eher kühlen Anlage des Werkes eine poetische Struktur.
Macks Licht, Regen, Schatten[xii] ist auf den ersten Blick dazu sehr ähnlich. Mack stellt seinen Würfel aus Acrylglas auf eine elektrische Heizplatte, was einen bedeutenden Unterschied markiert, denn diese befeuert den Kondensationsprozess dauerhaft und gleichmäßig. Dies steht im Gegensatz zu den Haacke´schen „Wasserkästen“, die durch die äußeren Umgebungsschwankungen wie die Raumtemperatur, die Anzahl der Personen im Raum et cetera, natürlichen Prozessbeschleunigungen und -verlangsamungen unterworfen sind. Nicht zuletzt ordnet der silberne Untergrund Macks Würfel auch optisch klar in dessen Werkkosmos ein.
Dass Haacke von 1962 bis 1965 insgesamt zehnmal zusammen mit den ZERO-Künstler*innen ausstellte und dabei Teil wichtiger Gruppenschauen, wie Nul, 1962, im Stedelijk Museum, Amsterdam, oder 1963 im Halfmannshof, Gelsenkirchen, war, verortet ihn zu dieser Zeit eindeutig innerhalb des aktiven ZERO-Netzwerkes.[xiii] Wie nun die konkrete Zusammenarbeit der vier Künstler für ZERO op zee zu Stande kam, ist heute allerdings nicht mehr genau belegbar.
Fest steht, dass sie gemeinsam 17 durchnummerierte Projekte vorschlugen und dass diese nicht eindeutig einem individuellen Oeuvre zugeordnet werden können. Die Bandbreite der Ideen reicht von spektakelhaften Einfällen (wie Nr. 9 „Revue mit kabarettistischen ZERO-Nummern“; Nr. 10, eine Art Karnevalsgarde; Nr. 12 „Feuerwerk“) bis partizipativ angelegte Aktionen (Nr. 4, ZERO-Flaschenpost und Nr. 5, Kaleidoskope). Ergänzt werden sie von Einfällen, die das Meer (beispielsweise Nr. 7 „Silberhaut auf dem Meer“; Nr. 13 „Wasserspiele im Meer“ durch Umwälzpumpen; Nr. 3, Bojen) sowie den Luftraum (Nr. 14 „Rauchplastiken“; Nr. 2, eine schwarze Dampfwolke) bespielen und so wohl auch von der Küste aus gut sichtbar gewesen wären. Bewegung, ausgelöst durch verschiedene Aggregatszustände von Wasser und Luft, aber auch die Kraft von Wellen und Wind werden aktiv miteinbezogen.
Ein anderer Ansatz, der sogar verschiedene Arten von Bewegung verbunden hätte – die Bewegung der Wellen, von Booten und am wichtigsten, die Eigenbewegung durch lebendige Wesen, nämlich Möwen –, ist in Projektidee Nr. 6 angelegt: „Die Möweninsel“. Ursprünglich wäre sie folgendermaßen auszuführen gewesen:
[i] Jürgen Wilhelm (Hrsg.), Piene im Gespräch. Christiane Hoffmans in Gesprächen mit, München 2015, S. 45.
[ii] Hans Haacke an Otto Piene, Kassel, 20. Mai 1960, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO. 2.I.1067_1.
[iii] Otto Piene an Hans Haacke, Düsseldorf, 23. Mai 1960, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO. 2.I.1067_2.
[iv] Wie Anmerkung 8.
[v] Hans Haacke an Otto Piene, Philadelphia, 25. November 1961, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.1343_1.
[vi] Hans Haacke an Otto Piene, Philadelphia, 8. September 1962, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.1344.
[vii] Haacke berichtet Mack von einer Ausstellung in San Francisco; Hans Haacke an Heinz Mack, Seattle, Washington, 10. April 1966, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.530_1.
[viii] Hans Haacke an Heinz Mack, Köln, 24. Mai 1965, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.529.
[ix] Gabriele Hoffmann, Hans Haacke. Art into Society – Society into Art, Weimar 2011, S. 11.
[x] Vgl. Hans Haacke, A7-61, 1961; Hans Haacke, D6-61, 1961 mit – neben vielen anderen – Heinz Mack, Silberregen, 1959; in: Dieter Honisch, Mack. Skulpturen 1953-1986, Düsseldorf, Wien, 1986, Oeuvre 511, S. 158; vgl. auch Luke Skrebowski, “Jack Burnham, ZERO, and Art from Field to System”, in: Between the Viewer and the Work: Encounters in Space, hrsg. von Tiziana Caianiello, Barbara Könches, Heidelberg/Düsseldorf 2019, S. 53-67, hier 65 und 67; abzurufen unter: https://books.ub.uni-heidelberg.de/arthistoricum/catalog/book/541 (27.11.2023). Er stellt Haackes A7 6, 1961 neben Macks Lamellen-Relief, 1959-60.
[xi] Hans Haacke an Heinz Mack, Köln, 20. Juli 1965, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.529.
[xii] Die Arbeit ist auf 1962 datiert; Vgl. Honisch 1986, Ouevre 182, S. 158.
[xiii] Für die USA stellt die von Otto Piene organisierte Schau Group ZERO am Institute of Contemporary Art, University of Pennsylvania, Philadelphia, 1964, ein wichtiges Beispiel dar, weil sie neben anderen auch Haacke, weitere Ausstellungsbeteiligungen in den USA bescherte. Vgl. https://icaphila.org/exhibitions/group-zero/(24.11.2023).
„An einem Boot wird ein Futterplatz fuer Moewen verankert. Die Moewen werden sich sammeln und eine ,Flugplastik‘ formieren, die mit der Bewegung des Bootes ihren Standort wechselt.“
Wie keine Zweite fand diese Idee Nachhall in den individuellen Werkbiografien.
Hans Haacke –
„Es waere herauszufinden, was Moeven gerne fressen.“[i]
[i] „Es waere herauszufinden, was Moeven gerne fressen. Ein kleines Boot, gefuellt mit dieser Lieblingsspeise, musste auf offener See verankert werden und die Moewen anlocken. Eine staendig sich veraendernde Flugplastik entstuende.“, so beschriebt Haacke „seinen“ Vorschlag einer Möwenskulptur am 28. Februar 1966 an die Internationale Galerie Orez aus New York. Der Brief befindet sich heute im Haags Gementeenarchief, Den Haag.
Auf der Basis von Überlegungen zu ZERO op zee setzte Haacke zwei Jahre später Lebendes Flugsystem/Living Airborne System, 1968, um,[i] das bedeutend für sein Oeuvre ist, da es die erste von mehreren Arbeiten mit Tieren ist.
[i] Hans Haacke realisierte ebenso Idee Nr. 4 „Flaschenpost“ der gemeinschaftlichen ZERO-Präsentation im Rahmen der 1969 von Willoughby Sharp kuratierten Ausstellung Places and Processes in Edmonton, Kanada. Haacke ließ dazu zahlreiche Nachrichten in Form einer Flaschenpost mit der Bitte um Rückmeldung im Falle ihres Fundes in den North Saskatchewan River werfen. Vgl. ausführlich zu diesem Projekt: https://www.artforum.com/features/place-and-process-210698/ (24.11.2023).
„Und das ist eine primitive, aber deshalb wahrscheinlich sehr viel bessere Ausführung eines Vorschlags, den ich einmal 1965 für ein geplantes Zero on Sea-Festival in Holland gemachthabe. […] Ich bin dann später während eines kalten Novembers in New York nach Coney Island hinausgefahren und habe dort Brot aufs Wasser geworfen. Die Möwen der ganzen Gegend kamen zusammen. Diese Aufnahme ist ein Protokoll davon.“[ii]
[ii] Wulf Herzogenrath (Hrsg.), Selbstdarstellung. Künstler über sich, Düsseldorf 1973, S. 66.
Die besagte Fotografie ist wahrhaft eine Moment-Aufnahme, da sie die Flüchtigkeit und Dynamik des Geschehens deutlich macht: Vor dem blauen, bildfüllenden Hintergrund des Meeres halten sich die Möwen knapp über der Wasseroberfläche, um das Futter aufzulesen. In Publikationen oder Ausstellungen steht die Fotografie für die Aktion als Werk ein.[iii]
Wichtig zu verstehen ist, dass Haackes Betitelung Lebendes Flugsystem/Live Airborne System[iv], 1968, seine gesamte Kunstauffassung und deren Relation zur Natur offenlegen kann.
Dass Haacke ab 1962 konsequent mit verschiedenen Aggregatszuständen, zunächst von Wasser und Luft arbeitet, thematisiert bereits subtil das gesellschaftliche Verhältnis zur Natur.[v] Offener zutage tritt dieses dann in seinen Arbeiten ab 1968, als Haacke seine Werke allesamt und trotz ihrer großen formellen Varianz als Real-Zeit-Systeme konzipiert und benennt. Diese theoretische Begriffsbildung folgt der intensiven Auseinandersetzung mit der Allgemeinen Systemtheorie nach Ludwig von Bertalanffy (1901-1972). Dessen wissenschaftliches holistisches Erkenntnismodell geht auf die antike Vorstellung zurück, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist und macht so Konstituenten eines Systems und deren Austausch mit ihrer Umwelt sichtbar. Haacke diskutierte die Systemtheorie im Bereich der Kunst intensiv mit dem Theoretiker Jack Burnham (1931-2019), dessen Bekanntschaft er 1962 machte. Burnhams wegweisender Artikel System Esthetics[vi], von dem wiederum Haackes Kunst wichtiger Bestandteil ist, erschien 1968.
Zwischen 1965-1972 berührt Haackes Kunst parallel physikalische, biologische und gesellschaftliche Systeme. Für erstere stehen vor allem die bereits thematisierten Kondensationskästen. Für biologische Systeme, in denen Tiere zum Material werden, wie eben bei Lebendiges Flugsystem, in dem der Möwenschwarm in Wechselwirkung mit dem Brotkrummen anbietenden Menschen steht, ist Chickens Hatching, 1969, einer Installation aus Kästen, die im Museum Küken ausbrüten, ein weiteres wichtiges Beispiel. Mit seinem MoMa Poll, 1970, einer Installation in der die Besucher*innen im Museum über die aktuelle Politik des US-amerikanischen Präsidenten abstimmen können, beginnt Haacke Prozesse mit explizit politischer Komponente als Arbeiten zu konzipieren.
Was sich bereits in den zeronahen Werken vollzieht – Dynamik und Prozessualität, damals allerdings, und das ist entscheidend, noch als „bildhafte Bewegung“ –, wird nach und nach von realen dynamischen Prozessen abgelöst, die zudem vorwiegend im Museumsraum stattfinden. Ideelle Grundlage bleibt dabei der Begriff der „Veränderung“, der durch die inter- und transdisziplinär angelegte Systemtheorie in ganz unterschiedlichen Werksettings erprobt und weiterentwickelt wird. Indem der Künstler subtile Kombinationen bzw. Kontrastierungen von Naturmaterialien, wie Wasser, mit technoiden Materialien, wie Plexiglas, anlegt, arbeitet er einem romantisierten Naturbild dezidiert entgegen und zeigt vielmehr, wie untrennbar Naturverhältnisse mit gesellschaftlichen Verhältnissen verbunden sind.
[iii] In diesem Kontext soll nicht unerwähnt bleiben, dass das Fotomuseum Winterthur eine weitere Möwenfotografie von 1965 besitzt; siehe: https://www.fotomuseum.ch/de/collection-post/live-airborne-system/ (3.01.2024).
Zudem wurde eine Möwenfotografie später in seinem Werk Krefeld Sewage Triptych, 1972, verwendet. Bewegtbildmaterial des Lebenden Flugsystems gibt es außerdem im WDR- Film: Hans Haacke. Selbstporträt eines deutschen Künstlers in New York, 1969, zu entdecken.
[iv] Es existieren für die frühen Arbeiten deutschsprachige Betitelungen, da Haacke sich aber später im US-amerikanischen Kontext bewegte, wurden alle Titel von ihm anglisiert und sind so heute auch im deutschen Sprachraum gängig. In Edward Fry, Hans Haacke. Werkmonographie, Köln, 1972, sind alle Werktitel in deutscher Sprache aufgeführt; siehe für Lebendes Flugsystem, S. 61.
[v] Luke Skrebowski, „All Systems Go: Recovering Hans Haacke’s Systems Art”, in: Grey Room, Heft 30, New York 2008, S. 54-83.
[vi] Jack Burnham, „System Estethics“, in: Artforum, Nr. 7, 1, 1968, S. 30-35; abrufbar unter: https://www.artforum.com/features/systems-esthetics-201372/ (27.11.2023).

Otto Piene –
„A bird which has no material to perform (a) nest may perform the movement of nest building in the air.”[i]
[i] Gefunden in einem Notizbuch von György Kepes nach dem Ornithologen Konrad Lorenz, entnommen aus: John R. Blakinger, Gyorgy Kepes. Undreaming the Bauhaus, Cambridge Massachusetts, 2019, S. 407. Blakinger stellt dieses Zitat in einen Zusammenhang mit den utopischen Ansätzen der Forschenden des CAVS, die oftmals zu groß angelegt waren, um tatsächlich realisiert werden zu können. Dennoch sieht er letztlich durch immaterielle Lichtarbeiten „in der Luft“ – wie solche von Piene – utopische Ansätze als realisiert an.
Auch Otto Piene dachte nach 1966 noch an Möwen. So plante er 1968 The Birds Sculpture als Teil einer sich im ZERO-Archiv erhaltenen 14-teiligen Projektskizze[i] unter dem Titel The Boston Harbor Project.[ii] Sie ist der ZERO op zee-Idee Nr. 6 sehr ähnlich:
[i] Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.IV.171.
[ii] Siehe zum Kontext des Boston Harbor Projects – das wie ZERO op zee nie realisiert wurde – die umfassenden Studien von John R. Blakinger, 2019 (wie Anm. 26), S. 365 und S. 381. Der Bostoner Hafen war stark versschmutzt, was landesweit Aufmerksamkeit und umweltpolitische Diskussionen nach sich zog. Der US-amerikanische Clean Water Act, 1972, ist eine Folge davon. Als Boston Harbor Project ist heute ein großangelegtes Umweltprojekt (1985-2001) bekannt, welches die starke Umweltverschmutzung des Hafens, die eben bereits ab den 1970er-Jahren vielfach thematisiert wurde, behob.
„A floating island that attracts millions of sea gulls. The constant motion of flying gulls forms a virtual volume that changes constantly.”
Pienes Vorschläge für den Bostoner Hafen stehen in engem Zusammenhang mit seiner Tätigkeit am CAVS – dem Center for Advanced Visual Studies – und vor allem mit dessen Gründungsdirektor György Kepes. Kepes etablierte mit diesem am Massachusetts Institute of Technology (MIT) angesiedelten Institut eine noch nie dagewesene Verbindung von Kunst und Technologie. Piene, der bereits zu ZERO-Zeiten „(i)nnerhalb dieser Bewegung […] sein Konzept einer Symbiose von Natur – Kunst – Technik“[iii] entwickelt hatte, passte perfekt in diese Konzeption und Kepes schaffte es nach langjährigem Austausch,[iv] Piene ab 1968 schließlich als Fellow der ersten Generation an das CAVS zu holen. Zentral für Kepes war eine enge Kollaboration zwischen Künstler*innen und anderen Wissenschaftler*innen. Die 200-Jahr-Feier der Belagerung des Bostoner Hafens 1776 diente als Anlass, um eine weitreichende interdisziplinäre Zusammenarbeit anzuregen.[v] Ganz in diesem Sinne hätten die dafür von Piene erdachten Projektvorschläge für den Bostoner Hafen ihre spektakulären Wirkungen allein durch enormes fachspezifisches Know-how erzielt, wie Punkt Nr. 12 verdeutlicht: „Nightly Display of Artificial Clouds […] I don’t know how to do it but I want to do it. Let’s ask the scientists.“
Allen Ideen von Piene gemeinsam ist, dass sie im Zeichen von Licht und Luft stehen, allein die eingangs zitierte „Vogelskulptur“ sticht heraus, da sie keinerlei technische Komponente benötigt hätte. Was sagt dies über Pienes Naturauffassung aus, dass die Schwarm-Skulptur dennoch Teil seiner Vision blieb?
Schaut man genauer auf Pienes Oeuvre zeigt sich, dass der vermeintliche Gegensatz von Technikglauben und Natur(material) sogar konstitutiv für dessen Kunst ist. Sowohl in den ZERO-Jahren bis 1966 als auch danach sind stets zwei sich entgegenstrebende Richtungen erkennbar, die vom Künstler in Einklang gebracht werden wollen.
Auch wenn Piene erklärt: „Mittlerweile gibt es Leute, die organische Kräfte direkt aus der Natur nehmen und sie nicht nur auf eine Leinwand wirken lassen […]. Der Künstler muß allerdings nicht zum Kartoffelzüchter werden, um die Natur ernst zu nehmen und ihre Triebkräfte ernsthaft zu studieren. Vielleicht genügt es, wenn er die Naturkräfte beobachtet und auf seine Weise darstellt“[vi], kann schon in seinen Feuerbildern (ab den späten 1950er-Jahren) erkennen, dass das natürliche Element Feuer nicht nur zur Darstellung kommt, sondern aktiver Werkstoff ist, der die Arbeiten ko-produziert. Einerseits ist Piene von Yves Kleins Werk und dessen Auffassung von Natur als Vermittler des spirituellen Lebens beeinflusst.[vii]Andererseits gibt er im Gebrauch des Feuers eine gewisse künstlerische agency, also Handlungsmacht, an das Feuer ab. Um schließlich seine Bilder durch die Werktitel zurück an gegenständliche Darstellungen zu binden, wie beispielhaft solche, die den Bereich der Pflanzenwelt berühren[viii], zeigen.
Später in seiner Sky Art, so beispielhaft in seinem kommt die symbolische Form von Naturphänomenen mit Pienes Interesse an dessen naturwissenschaftlichen Grundlagen und deren technischer Realisierung als aufblasbare Skulptur überein, was schließlich in poetische Arbeiten, wie seinem Regenbogen-Inflatable, 1972, mündet.[ix]
Obwohl auch The Boston Harbor Project – wie zuvor ZERO op zee – nicht realisiert werden konnte, gibt es von ersterem schließlich doch eine visuelle Umsetzung. In der Mappe Sky Art, 1969, einem Portfolio mit insgesamt 25 Lithografien[x], druckt Piene seine Projektformulierungen ab und illustriert diese in der unteren Hälfte des Blattes Nr. XX. Mit feinen weißen Strichen skizziert er die riesige Flamme, den enormen Lichtstrahl, die Meerwasser-Dampfwolke oder den großen Mast, an dem Segel im Wind flattern, aber auch den künstlichen Regenbogen auf schwarzem Grund. Im linken unteren Blattviertel ist dann, als eher rundlicher Schwarm, der aus losen Schwüngen und Haken entsteht, The Birds Sculpturezu sehen. Die stilisierten Möwen bilden ein loses aber doch zusammenhängendes Volumen – wenn auch als ein sehr bewegtes und flüchtiges.
[iii] Annette Kuhn, „Otto Piene“, in: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, München 1991, S. 3.
[iv] Vgl. György Kepes an Otto Piene, Massachusetts, 23. November 1965, Archiv ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.2815; Otto Piene an György Kepes, New York, 28. Januar 1966, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.2817; György Kepes an Otto Piene, Massachusetts, 1. Februar 1966, Archiv ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.2814; György Kepes an Otto Piene, Massachusetts, 11. März 1966, Archiv ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.2819.
[v] In Pienes Worten: „Communal projects (such as Kepes’s starter project: ,The Boston Harbor Project’-meant to be ,Bicentennial‘-a Denkmodell) brought the individuals together in (sometimes ,heated‘) discussion.”, in: https://www.leoalmanac.org/in-memoriam-gyorgy-kepes-1906-2002-by-otto-piene/ (2.11.2023).
[vi] Herzogenrath (wie Anm. 21), S. 136.
[vii] Siehe dazu die unveröffentlichte Masterarbeit in der Bibliothek der ZERO foundation: Florence Macagno, ZERO entre Nature et Technologie, Université Paris IV La Sorbonne, 2011, S. 85.
[viii] Als Beispiel unter vielen: Otto Piene, Green Fire Flower I, 1967, 48 x 68 cm. Piene betitelt seine kreisrunden, zentralen Feuermale auf Leinwänden aber auch oftmals als „Auge”.
[ix] Vgl. Barbara Könches, “On Rainbow by Otto Piene: A Sign of Hope in Orange, Yellow, Green, Indigo, and Violet”, in: Art and Society 1972–2022–2072, hrsg. von Anton Biebl, Elisabeth Hartung, 2023, S.138-149.
[x] Otto Piene, Sky Art, 1969, ZERO foundation, Düsseldorf/Schenkung Otto Piene und Elizabeth Goldring, mkp.ZERO.2014.15. Nach Ante Glibota ist Sky Art „die selbstverständliche Folge von Pienes Erfindung dieser Kunst und seiner intensiven Auseinandersetzung mit deren Eigenschaften und Möglichkeiten. So gliedert sich die Mappe dreifach: in Blätter, die mit Gedanken und Konzepten aus der Entwicklungs- und Entstehungsphase der Sky Art vertraut machen, solche mit Abbildungen und Interpretationen von bereits realisierten Luftprojekten und schließlich jene, die mit Plänen und Projekten auf potentielle oder zukünftige Ereignisse verweisen.“ Siehe dazu weiterhin Ante Glibota, Otto Piene, o. O. 2011, S. 617 und S. 628 (Fußnote 25).




Ein Möwenschwarm war für Günther Uecker sicherlich kein Naturphänomen, das ihm erst seit ZERO op zee im Bewusstsein war, schließlich wuchs er auf der an der Ostsee liegenden Halbinsel Wustrow auf.[i] 1970 wurden Möwen dann Gegenstand zweier seiner filmischen Arbeiten.[ii]
In Möweninsel[iii] fokussiert die Kamera einen Hügel, auf dem eine Vielzahl von Möwen lagern. Die weit entfernten Tiere wirken wie Nagelköpfe, die unregelmäßig in eine Platte eingeschlagen wurden. In Schwebend Schweben[iv] sehen wir einen Schwarm Möwen im Flug. Die typische Form des Hakens der schwingenden Flügel setzt sich vielfach gegen den hellen, monochromen Himmel ab.
Wie die Titelzusätze „in Bewegung“ oder „statisch“ zu den wie Skizzen anmutenden Filmen verdeutlichen, sind die beiden Filme gegensätzlich zueinander konzipiert. Möweninsel macht außerdem in seinem Untertitel klar, dass seine Ursprungsidee von ZERO op zee herreicht.Beide stehen im Kontext von mehreren Kurzfilmen aus dem gleichen Jahr, die mit einem starken Schwarzweiß-Kontrast Alltagsphänomene, wie beispielsweise eine wiederholt zuschlagende Tür (Lichtspalt. Banging Door) oder den Blick in die Landschaft (Hochmoor), experimentell mit der Kamera erkunden. Laut Sigrid Wollmeiner fällt der produktive Höhepunkt von Ueckers filmischer Tätigkeit 1970 mit dem seiner Beschäftigung mit Natur zusammen.[v]Sie begreift die Filme „als Aktionen in und mit der Natur im übertragenen Sinne. […] Die Natur übernimmt im vom Künstler gesetzten Rahmen die Hauptrolle und bringt sich selbst zur Darstellung.“[vi] Damit können die Filme der Kategorie „Akzentuierung von Naturausschnitten“ zugeordnet werden – einem von drei Schwerpunkten, die Wollmeiner für Ueckers naturnahe Arbeiten herauskristallisiert hat.[vii] Neben Ueckers Filmen ist die Zusammenarbeit mit Jef Verheyen am Projekt Vlaamse Landschappen, 1967, dafür ein gutes Beispiel. Das Aufstellen von übermannshohen weißen Rahmen in der realen Landschaft um den kleinen belgischen Ort Mullem kann als Kommentar auf die ästhetische Kategorie „Landschaft“ gedeutet werden, die immer nur als subjektiv umgesetzter Ausschnitt von Naturwahrnehmung zur Existenz kommt.
Zentral für Ueckers Naturverhältnis im Anschluss an seine ZERO-Jahre ist, dass er überwiegend mit künstlerischen Aktionen arbeitet, sowohl im Museums- als auch im Außenraum. Diese handlungsbasierten Arbeiten gehen mit Film oder Fotografie, sowie Text (Uecker-Zeitung) als Vermittlungsformen einher.
Günther Uecker stellt immer wieder demonstrativ seine eigene Person und damit stellvertretend den Menschen und seine subjektive Wahrnehmung in den Mittelpunkt seines Naturverhältnisses. Seine Arbeiten reflektieren die Handlungen des Menschen auf und mit ihr, können als Kontaktaufnahme angesehen werden, die dem ZERO-Gedanken verpflichtet ist, dasVerhältnis zwischen Mensch und Natur wieder in Einklang zu bringen.[viii] In Ueckers Verständnis ist der Mensch der Natur damit nicht entgegengesetzt, ko-existiert aber auch nicht reibungslos mit ihr. Wie neben Wollmeiner jüngst Xioa Xiao herausgestellt hat, ist die Warnung vor der Zerstörung der Natur für ihn ein bedeutsames Thema.[ix]
Für seine Aktion Nagelfeldzug, 1969, in der die Kamera den Künstler dabei begleitet, wie er ein Feld oder Dinge des urbanen Raums festnagelt, sieht er den Nagel im Kontext dieser Arbeit als ein „ambivalentes Zeichen des Ordnenden, aber auch aggressiven und zerstörerischen Eingriff des Menschen in die Natur“[x].
Ueckers Kunst macht sichtbar, dass der Mensch seine Markierungen auf der „Erde“ hinterlässt, so exemplarisch in der simplen, filmisch festgehaltenen Aktion mit dem beschreibenden Titel Gehen über Schnee, 1969.
In seinen seit 1965 ausgeführten Sandmühlen[xi] pflügen die elektronisch angetriebenen Apparaturen mit Hilfe von Schnüren unablässig Sand, nur um kurz darauf diese Spuren selbst wieder zu verwischen. So schwingt bei Uecker auch immer mit, wie mit den Eingriffen in die Natur zukünftig umzugehen sei[xii].
Nachdem ihn ebenso wie seine Kollegen vor allem Licht als immateriellen Naturphänomen während der ZERO-Zeit faszinierte, kommen immer mehr handfeste Naturmaterialien hinzu. Steine, Schnüre, Holz (oftmals in der „natürlichen“, heißt unbearbeiteten Form als Baumstamm oder Ast), Asche, Sand sowie Erde werden und bleiben für ihn wichtige natürliche Werkstoffe, auch für skulpturale und leinwandbasierte Arbeiten.
[i] Siehe Dieter Honisch, Günther Uecker, (Monographien zur Kunst der Gegenwart, o. Bd, Stuttgart 1983, S. 8. Dort ist eine Fotografie mit dem Blick aus dem elterlichen Haus abgedruckt; prominent auf den Buhnen sitzen Möwen.
[ii] Die Beschreibungen beziehen sich auf Abdrucke von Filmstreifen. Eine umfassende, fundierte Analyse von Ueckers filmischen Werk steht noch aus.
[iii] Nach Honisch (wie Anm. 38): Günther Uecker, Möweninsel, 1970: Zero on Sea, 1965, Möwenskulptur statisch,16 mm-Film, schwarz/weiß, 3 min.
[iv] Nach Honisch (wie Anm. 38): Günther Uecker, Schwebend schweben 1970, Möwenskulptur in Bewegung. Strukturabläufe, 16 mm-Film, schwarz/weiß, 3 min.
[v] Sigrid Wollmeiner, „Land-Art oder Natur-Kunst? Günther Ueckers Auseinandersetzung mit der Natur und ihrem Material“, in: Günther Uecker. Die Aktionen, hrsg. von Klaus Gereon Beuckers, Petersberg 2004, S. 121-135, hier S. 129.
[vi] Ebd., S. 129.
[vii] Als weitere Schwerpunkte nennt sie, dass Uecker in seinen naturnahen Werken den Betrachter*innen ein „Ausbeutungs- und Zerstörungsverhältnis der Natur“ vor Augen führen würde, um sich schließlich selbst in und mit seinen Arbeiten „der Natur auszuliefern“. Ebd., S. 129. Diese beiden können nicht ganz trennscharf nachvollzogen werden.
[viii] Otto Piene formulierte dies so für ZERO: „Eine unserer wichtigsten Absichten war die Reharmonisierung des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur – wir sehen in der Natur Möglichkeiten und Impulse, die Wirkung der Elemente und ihre stoffliche Gestalt: Himmel, Meer, Arktis, Wüste; Luft, Licht, Wasser, Feuer als Gestaltungsmedien; der Künstler ist nicht der Flüchtling aus der ,modernen Welt‘, nein, er verwendet neue technische Mittel ebenso wie Kräfte der Natur.“ In: ZERO. Die internationale Kunstbewegung der 50er und 60er Jahre, hrsg. von Dirk Pörschmann, Margriet Schavemaker, Ausst.-Kat. Martin-Gropius-Bau, Berlin 2015, S. 244.
[ix] Vgl. Xiao Xiao, Philosophie und Künste Ostasiens im Werk von Günther Uecker, Weilerswist-Metternich 2023, S. 101-103. Xiao sieht weiterhin „Zerstörung“ gleichsam als bildnerische Verletzung und der Gefährdung des Menschen durch andere Menschen thematisiert.
[x] Uecker zitiert nach Wollmeiner (wie Anm. 41), S. 127.
[xi] Zum Beispiel Günther Uecker, Sandmühle, 1970/ 2009, Sammlung der ZERO foundation, Düsseldorf/Schenkung Günther Uecker, Inv. Nr. mkp.ZERO.2008.69.
[xii] Ebd.


Als einziger unter den vier Künstlern der gemeinschaftlichen ZERO-Präsentation für das Projekt ZERO op zee hat Heinz Mack die Idee einer Möwenskulptur in späteren Jahren nicht aufgegriffen.
Dennoch beschäftigten ihn die Meeresvögel auch außerhalb der Kollaboration. In einem Brief an Henk Peeters, der der internationalen Galerij Orez, Den Haag, nahestand, zieht er Möwen als Vergleichsbild für Werkkonstellationen mit Segelschiffen oder Bojen heran, die artifiziell sein und zugleich an Naturphänome erinnern sollen.[i] Später realisierte er Werke, die in Verbindung mit anderen Ideen der „ZERO-Präsentation“ gebracht werden können. So ist „Feuer im Wasser“ (Nr. 1) mit seinen Feuerschiffen vergleichbar, die zum ersten Mal im Film Tele-Mack, 1969, auftauchen.[ii]
Weiterhin ist Punkt Nr. 16, „Feuerlöschboot: Zur Eröffnung der Ausstellung schießt das Boot im Fahren Wasserfontänen hoch“, vergleichbar mit Macks Wasserwolke für die Olympische Spiele 1972, einer enormen Fontäne auf dem See des Olympiaparks in München. Ein vertikaler Wasserstrahl, „The Water Beam“[iii], war auch in Pienes The Boston Harbor Project angedacht. Beide Arbeiten stehen dem Bereich der Gartenkunst nahe, in der Fontänen ein Jahrhunderte altes künstlerisches Gestaltungsmittel im Kontext von Brunnenanlagen sind.
Mack sieht die vier natürlichen Elemente, vor allem Feuer und Wasser, nicht nur für die eigene Kunst, sondern als kennzeichnend für sehr viele ZERO-Künstler*innen an. Darüber hinaus zählt Mack auch Elektrizität, Licht, Bewegung und Transparenz gleichwertig zu den „Universalien der Natur, quasi [zu den] Grundphänomenen der Natur“[iv]. Gerade die letzten drei sind, so Mack, „entscheidende […] Medien für meine Arbeit, genauer gesagt, deren Integration ist mein künstlerisches Problem“[v].
In den von Mack realisierten Brunnenanlagen, wie Segelbrunnen, 1988, in Düsseldorf, kommen mehrere dieser Natur-Universalien zusammen. Die Bewegung des an sich bereits lichtdurchlässigen Wassers wird hier von drei Aluminiumsegeln optisch vervielfältigt und die natürliche Fließeigenschaft des Wassers durch technische Antriebskraft potenziert.
Im Grunde – so Mack selbst – geht es bei ihm darum, Natur und Technik zusammenzubringen. Er begreift sich als Künstler in beiden zueinander in einem dialektischen Verhältnis stehenden Bereichen, die er austauschbar machen will.[vi]
[i] Ebd. Das vollständige Zitat lautet: „Auch ich denke an abstrakte Segelschiffe, nicht unbedingt groß, die in einem Kreis aus Kugelbojen schwimmen. Es könnten auch abstrakte Möwen sein, die sich auf dem Meer niedergelassen haben. Alles soll sehr artifiziell sein. Richtig aufregend wird das, wenn man in der Nacht einen Schweinwerfer darauf richtet.“
[ii] Vgl. „Feuer“, Sophia Sotke, in diesem Band.
[iii] “All the pressure one can get for the tallest water beam ever, shooting vertically”; Projektskizze, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.IV.171.
[iv] Nicht publizierter, der ZERO foundation vorliegender Text von Heinz Mack „Mein Verhältnis zur Natur – ein Arbeitspapier von Heinz Mack“, 2021, S. 1.
[v] Herzogenrath 1973 (wie Anm. 23), S. 109.
[vi] Ebd.
Gerade das Beispiel Brunnen beziehungsweise Wasserspiel/Fontäne, das Macks Umgang mit Naturmaterialien veranschaulicht, rekurriert auch auf das Verhältnis von Naturraum und menschengemachtem Raum, das ebenso grundlegend für Heinz Macks Kunst ist. Ein Garten ergibt sich aus der Schnittstelle von „natürlicher“ und „künstlicher“ Natur und wird als neuer Wahrnehmungsraum vielfach in Macks Werk- und Ausstellungstiteln evoziert oder von Kunsthistoriker*innen untersucht.[viii] Diese Auseinandersetzung wurzelt bereits in Macks bedeutendem Text zu seinem Sahara-Projekt, das er in ZERO 3, 1961, abdruckte. Darin bezeichnet er sein Projekt als „(d)ie Idee eines artifiziellen ,Gartens‘ in der Sahara“[ix]. Mit der Umsetzung in der tunesischen Wüste 1968 verwirklicht er früh den von vielen Künstler*innen angestrebten Schritt aus dem institutionellen Innenraum, wie er auch im ZERO op zee-Projekt geplant war. Ziel ist es, in der Neuartigkeit der Naturumgebung für die eigenen Werke „eine unvergleichliche Erscheinung (zu) gewinnen“ und für „die Kunst eine neue Freiheit finden.“[x]
Macks nachfolgende Projekte in der Wüste oder der Arktis, in denen sein utopisches und romantisierendes Verhältnis zum Naturraum wiederkehrt, bringen Erfahrungen mit sich, die er in zweidimensionalen Werken und damit in den Museumsraum zurückbringt, beispielsweise in monochromen, auch so betitelten Sandreliefs.
[viii] Siehe dazu beispielsweise: Karin Thomas, „Gartenkünstlerische Aspekte bei Heinz Mack“, in: Utopie und Wirklichkeit, hrsg. von Wieland Schmied, Köln, 1998, S. 271-275.
[ix] Heinz Mack, „Das Sahara-Projekt“ (1961), in: ZERO 45321, hrsg. von Dirk Pörschmann, Matjis Visser, Düsseldorf 2012, o. S.
[x] Ebd.
Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker hatten bereits gemeinsam im Rahmen ihrer beiden ZERO-Demonstrationen 1961 und 1962 erste Kunstevents unter freiem Himmel veranstaltet, die den natürlichen Umraum als konstitutives Element betrachteten. So konzipierten Mack, Piene und Uecker 1962 Installationen, die vor allem den Luftraum und das Licht aktiv mit einbezogen: Aufsteigende und gegen den Nachthimmel hell erleuchtete Luftballons, im Wind flatternde Stoff- und Aluminiumsegel, reflektierende Lichtfahnen. Neu ist an diesem Punkt der künstlerischen Entwicklung, dass sie die dynamische Bewegung der für ZERO typischen Materialien verstärkt aus den natürlichen Kräften herleiten. Im Jahr des endgültigen Zerfalls der ZERO-Gruppe, 1966, markiert ZERO op zee noch einmal eine Steigerung dieser Offenheit gegenüber der Natur.
Die Zusammenarbeit mit Hans Haacke, der bereits ab dem Beginn der 1960er-Jahre immer tiefer in die biologischen und physikalischen Grundlagen seiner verwendeten Naturmaterialien vordrang, weist darauf hin, dass alle beteiligten Protagonisten sich zusammenfanden, weil sie gerade in der Intensivierung ihrer Arbeit mit „Natur“ zukünftige Wege sahen. Die exemplarisch an der Rezeption der Idee einer Möwenskulptur nachverfolgten Werklinien verdeutlichen dies ebenso, wenn auch mit unterschiedlichen Gewichtungen auf die Hinterfragung der Trennbarkeit von Natur und Kultur (Haacke), der Integration von technischen Möglichkeiten in das Natur-/Kulturverhältnis (Piene), die subjektive Wahrnehmung von Natur (Uecker) oder die Erschließung neuer Wahrnehmungsräume in der Natur (Mack).
Mehr zu Natur





Endnotes
O O=0 (Null)
4,3,2,1 – ZERO = Null, Nullpunkt, Nichts
Anna-Lena Weise
In der Mathematik fungiert die Null als neutrales Element der Addition. Sie ist die einzige reelle Zahl, die weder positiv noch negativ ist. Vor ungefähr 5000 Jahren ritzte ein unbekannter Schreiber zur Unterscheidung von Zahlen wie 12 und 102 zwei schräge Pfeile in eine Tontafel. Aus diesem Zeichen für das Nichts hat sich in den folgenden drei Jahrtausenden unsere Zahl Null entwickelt. Sie ist zugleich Platzhalter, Lückenfüller, Ziffer, Chiffre und sieht dabei dem Buchstaben O zum Verwechseln ähnlich.[ii]
Bei der „Gruppe“ ZERO erhält die Null unterschiedlichste Verwendung: im Namen, auf Drucksachen, in Kunstwerken und mehr.
[i] In der deutschen Bezeichnung steckt noch die Redewendung „null und nichtig“, was bedeutet, dass etwas ungültig (ohne Wert) ist und was zugleich eine Doppelung enthält. Das Wort Null kommt auch in zahlreichen weiteren Redensarten vor. Zum Beispiel, dass „etwas bei null anfängt“ oder dass jemand, „fachlich gesehen eine Null sei“. Aus diesem Grund wird die Null zumeist eher mit einer negativen Konnotation versehen.
[ii] Uwe Springfeld, „Die Geschichte der Null“, in: Die unsichtbaren Dimensionen des Universums, Spektrum der Wissenschaft 10, 2000, S. 106, https://www.spektrum.de/magazin/die-geschichte-der-null/826879 (aufgerufen am 20.08.2023).
Der Name ZERO verweist bereits auf den von den ZERO-Gründern Heinz Mack (*1931) und Otto Piene (1928-2014) erstrebten Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg. Als Metapher bezeichnet die „Stunde Null“ den Beginn der Nachkriegszeit in Deutschland.
Eleanor Gibson schreibt dazu:
„In the years immediately after the war, the term Stunde Nul – or ‚Zero hour‘ – was used to signify a desired or supposed break with Nazism, as well as with the defeat and destruction of the war. The term Zero also carried specific military associations: ‚air zero‘ being the explosion point of a bomb above the ground and ‚ground zero‘, first used in 1946 by the United States Strategic Bombing Survey, indicating the ground point directly below an aerial nuclear explosion.“[i]
[i] Eleanor Gibson, The Media of Memory. History, Technology and Collectivity in the Work of the German Zero Group 1957-1966, Diss. Yale, 2009, S. 18. – Die ZERO-Künstler wählten diesen Namen mit Sicherheit nicht im Zusammenhang mit der Atom-Bombe, sondern in Verbindung zum Kriegsende und dem sich daraus erhofften Neuanfang. Obwohl es diesen Neuanfang, den die „Stunde Null“ symbolisiert im Endeffekt nicht wirklich gab.
Die Formulierung „null Uhr“ bedeutet im Sprachgebrauch Mitternacht. Bei der Tageszeit ist 00:00 der Beginn eines neuen Tages. Heinz Mack scheint diese Formulierung wörtlich genommen zu haben. Denn zwei seiner Werke stellen regelrechte Null-Uhren dar. Von seinem Onkel, der Uhrmacher war, hatte Heinz Mack gelernt einen Wecker zu demontieren und wieder zusammenzusetzen. Der ZERO-Wecker, um 1964, entstanden, wurde von innen koloriert und auf das Ziffernblatt reduziert, sodass in das Uhrwerk hineingeschaut werden kann. Alle Ziffern wurden durch Nullen ersetzt.[i] Ein weiteres Mal beschäftigte sich Mack im Kontext des Mitternachtsballs im Rolandseck mit einer Uhr.
[i] Heinz Mack, ZERO-Wecker, um 1964, 15 x 13 x 6 cm, Wecker mit Collage, Sammlung der ZERO foundation, Inv. Nr. mkp.ZERO.2008.12.

Die große ZERO-Bahnhofsuhr[i] wurde laut Wieland Schmied Ende 1967 entworfen, aber erst später realisiert.[ii] Auch bei dieser Uhr sind die Ziffern durch die Null ersetzt. Bei Heinz Mack schlagen somit alle Uhren die „Stunde Null“ und läuten eine neue Zeit (für die Nachkriegskunst) ein.
[i] Heinz Mack, ZERO-Zeit 220 Volt, 1961/2008, 210 x 62 x 62 cm, Metall, Glas, Elektrik, Sammlung der ZERO foundation, Inv. Nr. mkp.ZERO.2008.11.
[ii] Vgl. Wieland Schmied, „ZERO // ZERO. Mit Beiträgen von // with texts by Dieter Honisch, Anette Kuhn, Heinz Mack, Pierre Restany, Wieland Schmied und Renate Wiehager“, in: Mack. Leben und Werk / Life and Work. 1931–2011, Köln 2011, S. 110-161, hier S. 160.
Es existiert eine Vielzahl an Plakaten der ZERO-Künstler*innen, die sich der Zahl Null bedienen und diese in unterschiedlichsten Ausformungen zur Anwendung bringen. Das Plakat zur Ausstellung Mack + Klein + Uecker + Lo Savio = 0, Galleria La Salita, Rom, 1961[i], spielt mit der Zahl als Bestandteil einer ungewöhnlichen Addition. Die Namen von oben nach unten geschrieben und miteinander addiert ergeben in jeder Zeile gleich 0. Die Gestaltung des Buchstaben O und der Zahl 0 ist dabei identisch.
[i] Plakat zur Ausstellung Mack + Klein + Piene + Uecker + Lo Savio = 0, Galleria La Salita, Rom, 1961, Archiv der ZERO foundation, Vorlass Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.VII.44.

Sehr präsent ist die Null im Plakat zur Ausstellung Nul, Stedelijk Museum, Amsterdam, 1962.[i]Die schwarze Null ist hier groß und zentral über Werkabbildungen der teilnehmenden Künstler gelegt. Auf ihr liegt der Betrachter*innen-Fokus.
[i] Plakat zur Ausstellung Nul, Stedelijk Museum, Amsterdam, 1962, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.VII.47_1.

Das Plakat zur Ausstellung Mack, Piene, Uecker in der Kestner-Gesellschaft, Hannover, 1965,[i]ziert eine große, aus drei Farben zusammengesetzte Null. Von innen nach außen sind Rot, Silber und Schwarz eingelassen. Das Rot bildet innen die Ellipse einer Null, die durch Silber aufgefüllt und dann durch das Schwarz zur Kreisform erweitert wird. Die drei Farben sollen nach Wieland Schmied jeweils Piene (Rot), Mack (Silber) und Uecker (*1930) (Schwarz) repräsentieren.[ii] Die Null repräsentativ für ZERO im Gesamten, zudem aber auch für den letzten Buchstaben dieses Namens stehend, wird antizipiert. Es kommt zu einer Doppelung der Form, durch elliptische 0 und kreisrundes O.
[i] Plakat zur Ausstellung Mack, Piene, Uecker in der Kestner-Gesellschaft, Hannover, 1965, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv Nr. mkp.ZERO.1.VII.52(1).
[ii] Weitere Informationen dazu in Wieland Schmied, „Etwas über ZERO“, in: 4321 ZERO, hrsg. von Dirk Pörschmann, Mattijs Visser, Düsseldorf 2012, S. 9-17.

Dieser Umgang mit der Null erfährt auch in dem Plakat zur Ausstellung ZERO: An Exhibition of European Experimental Art, Washington Gallery of Modern Art, Washington D.C., 1965, eine Anwendung. Dieses beruht auf einem Entwurf des US-Künstlers Robert Indiana (1928-2018). Indiana fertigte das Motiv speziell für die Ausstellung und das Plakat an. Die weiße Null, in der Plakatmitte, wird von einem weiteren runden Kreis eingeschlossen.[i] Der Kreis aufgrund des Fehlens eines Anfang- und Endpunkts auch als Symbol der Unendlichkeit bezeichnet, schließt die Null in sich ein. Was die Interpretation, dass ZERO für immer/ewig ist/sein soll, nach sich ziehen kann.
[i] Plakat zur Ausstellung ZERO: An Exhibition of European Experimental Art, Washington Gallery of Modern Art, Washington D.C., 1965, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.VII.110.

Auch in einer Collage von Heinz Mack ist das O zugleich als 0 lesbar, was einen Rückbezug zu dem englischen Begriff „zero“ darstellt.[i] An einem Ballon hängt das Wort ZERO. Die Null ist in weiß von den anderen schwarzen Buchstaben abgesetzt. Zudem ist ihr Schriftschnitt größer, wodurch sie eine zusätzliche Betonung erfährt.
[i] Heinz Mack, ZERO-Ballon, Fotocollage, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, mkp.ZERO.1.V.4.

Bei mikro nul zero, Galerie Delta, Rotterdam[i], wird die Zahl wiederum anders genutzt. Die schwarze Null ist auch hier in die Mitte gesetzt. Durch ihre Mitte verläuft eine unsichtbare Trennlinie, die zu einer Spiegelung der Typografie führt. Die teilnehmenden Künstler*innen flankieren die Null, während der Ausstellungstitel in diese platziert wurde. Die namentliche Verbindung von ZERO und der Gruppe Nul aus den Niederlanden kommt besonders gut im Plakat der Ausstellung ZERO-0-Nul, Gemeentemuseum Den Haag, 1964[ii], zur Geltung. Das verbindende Glied – die Null – ist wieder mittig platziert, während die Namen der Künstler von ZERO und Nul diese von vier Seiten einschließen. Auch der Katalog ist zweigeteilt. Die Vorderseite gehört den Nul-Künstlern, die Rückseite den ZERO-Künstlern. Auf jeder Seite ist die Hälfte einer Null abgebildet, die sich nur im Zusammenspiel beider Seiten als Ganzes präsentiert.
[i] Plakat zur Ausstellung mikro nul zero, Galerie Delta, Rotterdam, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.VII.116.
[ii] Plakat zur Ausstellung ZERO-0-Nul, Gemeentemuseum Den Haag, 1964, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.VII.51(1). Mehr zu der Ausstellung in Thekla Zell, „Wanderzirkus ZERO“, in: ZERO, hrsg. von Dirk Pörschmann, Magriet Schavemaker, Köln 2015, S. 19-178, hier S. 79.


Als Nullnummer wird auch die Ausgabe einer Zeitschrift oder Zeitung bezeichnet, die vor der eigentlichen Neueinführung des Mediums erscheint. Schon früh sind Schritte unternommen worden, Zeitschriften über die neuen Tendenzen in der Kunst entstehen zu lassen. Otto Piene und Heinz Mack bringen 1958 im Zuge der 7. Abendausstellung Das rote Bild die Zeitschrift ZERO 1 heraus, welche noch zwei weitere Ausgaben erhalten sollte. Der Name der neuen Kunstrichtung wurde somit zugleich zum Programm gemacht. In ZERO 3 wird bis „unendlich“ gedacht, indem dieses Zeichen aus zwei Kreisen (Nullen) nebeneinander angedeutet wird.[i]
[i] Zu den ZERO-Magazinen s. Pörschmann, Visser (wie Anm. 9).

Die Zeitschrift Nul = 0. Tijdschrift voor de nieuwe konseptie in de beeldende kunst, Band 1, herausgegeben von Armando (1929-2018), Henk Peeters (1925-2013) und Herman de Vries (*1931) erscheint ein halbes Jahr nach ZERO 3. Auch sie dient als Sprachrohr zeitgenössischer Künstler. Die Herausgeber hatten die Idee, regelmäßig Beiträge von Künstlern sowie Informationen zu aktuellen Ausstellungen zu veröffentlichen. Das Cover ist bis auf den ungefüllten Kreis in der rechten oberen Ecke leer. Die Null rückt in den Fokus der Betrachtung.Die Herausgabe von Nul = 0 diente als Werbemaßnahme für die von Henk Peeters für das Jahr 1962 geplante Ausstellung Nul im Stedelijk Museum, Amsterdam. Im April 1963, zwei Jahre nach der ersten Ausgabe, erscheint die zweite Nummer der Zeitschrift. Das Heft ist den verstorbenen Yves Klein und Piero Manzoni gewidmet. Das Titelblatt zeigt die vergrößerten Fingerabdrücke Manzonis, die der Form einer Null ähneln sowie eine prägnante rote Null in der oberen rechten Ecke.

Die Hand von Heinz Mack, mit einer Null gestempelt, anstelle einer Eintrittskarte. Die Idee wurde verwendet für das ZERO-Abschiedsfest im Bahnhof Rolandseck, Remagen bei Bonn, 1966. Zudem wurde ein ZERO-Teller, im Kontext der Eat-Art und in Bezug auf das Fasten nach Karneval, als Idee für das Fest entwickelt. Dieser trägt auf weißem Grund eine schwarze Null demonstrativ in seiner Mitte.
Günther Uecker hatte 1961 die Idee, einen weißen Ballon vor der Galerie Schmela aufsteigen zu lassen. Eine große weiße Null, die Günther Uecker dann ein Jahr später in differenzierter Form wiederholen sollte. Seine auf den Boden gemalte kreisrunde „Weiße Zone ZERO“ wurde bei der ZERO-Demonstration auf den Rheinwiesen, 1962, von Livemusik und einem tanzenden Publikum begleitet. Außerdem trugen Mädchen Gewänder aus schwarzem Karton mit aufgemalten weißen Nullen und sogar die in den Himmel aufsteigenden Luftballons glichen dieser Zahl.

Anlass zu der Demonstration lieferten Filmdreharbeiten von Gerd Winkler für den Hessischen Rundfunk. Der daraus entstandene Film 0 x 0 = Kunst. Maler ohne Pinsel und Farbe wurde am 27. Juni 1962 zum ersten Mal im Fernsehen ausgestrahlt.[i] Das ZERO-Kleid spielte bei den ZERO-Demonstrationen der 1960er-Jahre eine wichtige Rolle. Es war integraler Bestandteil der Performances[ii], was viele dokumentarische Fotos und die Entwurfszeichnung von Günther Uecker beweisen.[iii]
[i] Mehr zu Gerd Winklers Film in Pörschmann, Schavemaker (wie Anm. 13), S. 91 ff.
[ii] ZERO-Kleid, 1961/2008, 100×60 cm, Sammlung der ZERO foundation, Inv. Nr. mkp.ZERO.2008.10.
[iii] Günther Uecker, Entwurf ZERO-Kleid, 2006, 60,6×43,2 cm, Bleistift, Acrylfarbe und Tonpapier auf Papier, Sammlung der ZERO foundation, Inv. Nr. mkp.ZERO.2019.02.

Dieses Zitat aus dem ZERO-Manifest: Zéro der neue Idealismus, welches 1963 aus einer Laune heraus entstanden sein soll,[i] deutet auf die von den ZERO-Künstler*innen des Öfteren verwendete runde Form der Null hin. Das Manifest ist bereits in einen Kreis eingeschrieben.
Kreisrund ist der Buchstabe O. O wie Otto Piene, und wie Null. In einigen Briefen unterzeichnete er nur mit O. Mit diesem O, welches zugleich einen Buchstaben und eine Zahl darstellt. Der Kreis umschließt seine Signatur, was auf seine hohe Identifikation mit ZERO schließen lässt.
[i] Vgl. Schmied (wie Anm. 6), S. 160.

Endnotes
P Plakate
Zur Plakatgestaltung der ZERO-Künstler*innen
Rebecca Welkens
Das Archiv der ZERO foundation bewahrt rund 200 Plakate auf. Eine kleinere Gruppe von 75 Plakaten kann als Kernsammlung bezeichnet werden. Diese sind in der ZERO-Zeit zwischen 1957/58 und 1967 entstanden und wurden meist von Heinz Mack (*1931), Otto Piene (1928–2014) oder Günther Uecker (*1930) selbst entworfen.[i] Als praktisches Medium der Information sowie der Kommunikation schlugen die Plakate im öffentlichen Raum eine Brücke zwischen den Künstler*innen und dem Publikum. Zusammen mit Einladungskarten und Ausstellungskatalogen, deren Designs oft korrespondierten, waren die Plakate Teil des multimedialen Vermittlungsapparats, der in großen Institutionen wie auch in kleineren Galerien ein unverzichtbarer Bestandteil jeder Ausstellung war. Aufgrund ihrer Herstellung durch die Künstler*innen selbst wohnt den meisten Plakaten ein Werkcharakter inne, womit sie als Schnittstelle zwischen Kunst und Gebrauchsgraphik zu verstehen sind.
[i] Heinz Mack und Otto Piene waren Ende der 1950er-Jahre gelegentlich als Grafikdesigner tätig, Günther Uecker hatte eine Ausbildung zum Maler und Reklamegestalter. S. Heiner Stachelhaus, ZERO. Mack, Piene, Uecker, Düsseldorf, Wien, New York, Moskau 1993, S. 217, S. 229.
Im Folgenden wird die Rolle der Plakate innerhalb der ZERO-Bewegung untersucht und vor allem werden die Besonderheiten der Gruppe der ZERO-Plakate herausgestellt, außerdem Prozesse und Abläufe der Herstellung beleuchtet. Neben den Gestalter*innen werden auch die am Produktions- und Nutzungsprozess beteiligten Akteur*innen hervorgehoben, insbesondere Drucker*innen und Galerist*innen. Mithilfe der Dokumente, die sich im Archiv der ZERO foundation in Düsseldorf befinden, können Prozesse, Transaktionen, Preise aber ebenso künstlerische Findungsphasen in beinahe lückenloser Abfolge nachgezeichnet werden, was konsequenterweise nicht nur einen Einblick in den Künstler*innenalltag und den darin anfallenden Arbeiten gibt, sondern ebenso das Selbstverständnis von ZERO beleuchtet.
Ausstellungsplakate waren seit der Durchführung regelmäßiger künstlerischer Werkschauen essentieller Bestandteil der Veranstaltungen. Es handelte sich dabei meist um Schriftplakate. Da ein hoher Anteil der Bevölkerung bis zum Beginn des 19. Jahrhundert nicht lesen konnte, wurden bis dahin Ankündigungen öffentlich verlesen. Als sich dieser Bevölkerungsanteil jedoch sukzessive verringerte, wurden Ausstellungen hauptsächlich über die nach englischem und französischem Vorbild entworfene Säule von Ernst Litfaß (1816–1874) beworben.[i] Erste Plakate, die künstlerisch weiter ausgestaltet wurden und damit die Schriftplakate ablösten, fanden sich ab den 1870er Jahren in Frankreich.[ii] Um 1900 wurden die dort etablierten ornamentalen und allegorisch figurativen Gestaltungselemente des Ausstellungsplakats auch in Deutschland aufgegriffen.[iii] Das Plakat wurde in jener Zeit erstmals als Sammelobjekt betrachtet, was dazu führte, dass Museen Plakatsammlungen anlegten und schriftliche Abhandlungen zum Plakat verfasst wurden.[iv]
[i] We Want You! Von den Anfängen des Plakats bis heute, hrsg. von Museum Folkwang, Ausst.-Kat. Museum Folkwang Essen, Göttingen 2022, S. 14.
[ii] Künstlerplakate. Picasso, Warhol, Beuys…, hrsg. von Jürgen Döring, Ausst.-Kat. Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Berlin 1998, S. 6.
[iii] Ausstellungsplakate 1882–1932. Die Nürnberger Plakatsammlung im Germanischen Nationalmuseum, hrsg. von Anja Ebert, Ausst.-Kat. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Nürnberg 2013, S. 5.
[iv] Ebert (wie Anm. 5), S. 6–7.
[v] Ebert (wie Anm. 5), S. 12–13.
[vi] Ebert (wie Anm. 5), S. 12.
[vii] Ebert (wie Anm. 5), S. 12.
[viii] Anita Kühnel, „Werbegrafik in Deutschland seit 1945“, in: Schrift. Bild. Zeichen. Werbegrafik in Deutschland 1945–2015, hrsg. von ders., Dortmund 2016, S. 8–145, hier S. 60.
Die Entwicklung des Ausstellungsplakats ist eng an den Ausbau mechanischer Druckverfahren wie dem Offsetdruck zu Beginn des 20. Jahrhunderts geknüpft, die vor allem in der stetig wachsenden Werbebranche eine gesonderte Rolle einnahmen. Wesentlich war auch die Entwicklung der Gebrauchsgraphik als eigenständigem Berufsfeld, welches sich mit der Bereitstellung von Information und Werbung beschäftigte.[v]
Produktwerbung und künstlerischer Anspruch waren nicht per se miteinander vereinbar, jedoch überschnitten sich diese Interessen in der 1919 gegründeten Institution des Bauhauses.[vi] Daraus gingen zahlreiche Neuerungen für das künstlerische Tätigungsfeld sowie die Gebrauchsgraphik hervor, insbesondere im Bereich der Typographie.[vii] Beispielsweise entwickelte Paul Renner (1878–1956) im Jahr 1927 in Frankfurt am Main die Schriftart Futura, die als einfache, serifenlose Schrift auf das Wesentliche beschränkt war.[viii] Gemeinsam mit der um 1957 entstandenen Schriftart Helvetica wurde Futura auch mit Vorliebe von den ZERO-Künstler*innen für die Plakate genutzt. Die durch das Bauhaus reduzierte Formensprache wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in der Plakatgestaltung von den ZERO-Künstler*innen aufgegriffen.
Die ZERO-Plakate bilden gestalterisch eine heterogene Masse. Übereinstimmungen in Größe, Farbigkeit und Ausgestaltung sind meist nur zu sehen, wenn es sich um Ausstellungsreihen, wie Pienes Fest für das Licht, oder aber um Wanderausstellungen handelte, wie ZERO-Avantgarde. Der Schriftzug „ZERO“, oder auch stellvertretend die „0“, wurden erst im Laufe der Jahre zu wesentlichen Bestandteilen der Plakate, mit deren Hilfe sich ZERO als Gruppe, Bewegung, Einheit oder auch künstlerischer Zusammenschluss in der Öffentlichkeit zu etablieren versuchte. Der verhältnismäßig späte Rückgriff für die Plakate verwundert, da der Schriftzug bereits 1958 für das Magazin ZERO 1 genutzt wurde. Im Folgenden soll deshalb ein Blick auf die Plakatentwicklung geworfen werden und herausgestellt werden, ab wann „ZERO“ auf den Plakaten als Synonym für die Gruppe auftaucht.
Eines der ersten Plakate, welches für eine ZERO-Ausstellung entworfen wurde, ist das Plakat zur Ausstellung dynamo 1, die im August 1959 in der Galerie Renate Boukes in Wiesbaden stattfand.

Der Entwurf stammt wohl von Otto Piene, wie eine in seinem Nachlass befindliche Entwurfszeichnung vermuten lässt.[i] Unterhalb einer großen Nummer „1“ erscheinen die Namen Bury, Holweck, Mack, Mavignier, Oehm, Piene, Rot, Soto, Spoerri, Tinguely und Yves jeweils mit dem Vorsatz „Dynamo“.[ii] Piene hielt dazu 2009 in einem Interview fest, dass die Ausstellung in Wiesbaden die erweiterte Gruppe ZERO repräsentierte. Erst danach benutzten Mack und er den Namen „ZERO“ als Titel für Gruppenaktivitäten sowie als Vorbereitung für ZERO 3, so schreibt er.[iii] Allerdings hatten sie den Schriftzug im Jahr 1958 für die Magazine ZERO 1 und ZERO 2bereits verwendet.
[i] Entwurfsskizze dynamo 1, o. D. (ca. 1959), Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.IV.99.
[ii] Tiziana Caianiello, „Ein ‚Klamauk‘ mit weitreichenden Folgen. Die feierliche Präsentation von ZERO 3“, in: ZERO 4 3 2 1, hrsg. von Dirk Pörschmann, Mattijs Visser, Düsseldorf 2012, S. 511–526, S. 518–519.
[iii] Dirk Pörschmann, „‚M.P.UE.‘ Dynamo for ZERO“, in: ZERO 5. The Artist as Curator. Collaborative Initiatives in the International ZERO Movement 1957–1967, hrsg. von Tiziana Caianiello, Mattijs Visser, Gent 2015, S. 17–58, hier S. 33.
Auf dem Plakat zur Veranstaltung ZERO. Edition, Exposition, Demonstration, die 1961 in und vor der Galerie Schmela in Düsseldorf stattfand und bei der das dritte und letzte ZERO-Magazin präsentiert wurde, erschien der Schriftzug auch auf dem Plakat.[i]
[i] Dirk Pörschmann, Evakuierung des Chaos. ZERO zwischen Sprachbildern der Reinheit und Bildsprachen der Ordnung, Köln 2018, S. 15.

Auf dem 84 x 58,5 cm großen Poster sind neben dem Schriftzug „ZERO“ im oberen Viertel in unterschiedlichen Schriftgrößen Namen einzelner Künstler*innen versammelt, die an ZERO 3 beteiligt waren. Gemeinsam mit mehrsprachigen Zitaten aus dem ZERO-Magazin wurde das Plakat zunächst als Collage gefertigt. Die Schriftgröße der einzelnen Namen variiert. Die Namen von Piene, Mack, Fontana, Mavignier oder Arman sind größer abgebildet als die von Uecker oder Tinguely. Ira Moldows Name ist auf dem Plakat kaum größer zu lesen als einige der Zitate. Weder Ort noch Uhrzeit der Veranstaltung sind auf dem Plakat vermerkt. Auf Fotografien des Präsentationsabends am 5. Juli 1961 ist das Plakat im Ausstellungsraum zwischen den Kunstwerken, aber auch zwischen Fragmenten einzelner Seiten aus dem Magazin sowie dem Magazin selbst aufgehängt zu sehen. Vermutlich wurde das Plakat nicht zu Ankündigungszwecken der Veranstaltung im öffentlichen Raum gefertigt, sondern zur Proklamation von ZERO 3 im Innenraum der Galerie Schmela, womit es zum gesamten Raumkonzept der collagenartigen Verbindung verschiedener Medien und künstlerischer Beteiligungen an dem Abend beitrug.[i]
[i] Pörschmann 2018 (wie Anm. 14), S. 39.
Für den Namen „ZERO“ als Marke oder Sammelbezeichnung für künstlerisch ähnliche Ansätze ist das Event bei Schmela und das damit verbundene Plakat dennoch als eine Art Initialzündung zu werten, denn ab diesem Zeitpunkt taucht „ZERO“ in Verbindung mit den immer selben Künstler*innennamen in unterschiedlichen Konstellationen auf Ausstellungsplakaten auf.
Das nächste Mal allerdings erst 1963 auf dem Ausstellungsplakat der Galerie Diogenes, zu welchem Anlass auch das ZERO-Manifest entstand und verteilt wurde. Als Titel wird „ZERO“ auch für die Schau in Gelsenkirchen im selben Jahr verwendet, die von Otto Piene gemeinsam mit Ferdinand Spindel (1913–1980) organisiert wurde.[i] Es folgten zahlreiche internationale Schauen, bei denen „ZERO“ als Titel für die Ausstellungen, aber auch zur Gestaltung der Plakate genutzt wurde, darunter in Den Haag oder London, vor allem aber für die Wanderausstellung ZERO-Avantgarde, die 1965/1966 von Nanda Vigo (1936–2020) kuratiert wurde und ZERO-Kunst in Italien bekannt machen sollte.
[i] Thekla Zell, „Chronologie“, in: Caianiello, Visser (wie Anm. 13), S. 429–485, hier S. 470.
An den Ausstellungen, die unter dem Namen „ZERO“ beworben wurden, nahmen nur in seltenen Fällen Mack, Piene und Uecker als einzige Künstler teil. Meist handelte es sich um größere Gruppenausstellungen für die verschiedene, internationale Künstler*innen angefragt wurden. Eine der ersten Ausstellungen, die unter dem Namen Group ZERO beworben wurde und an der lediglich Mack, Piene und Uecker teilnahmen, ist die Ausstellung bei McRoberts & Tunnard Gallery, London, 1964, die einige Monate später unter demselben Namen nach New York zu Howard Wise ging.
Neben dem Schriftzug „ZERO“ wurde synonym oder nebeneinander gestellt ab 1961 auch die Zahl „0“ in der Gestaltung verwendet. In dem von Francesco Lo Savio (1935–1963) designten Ausstellungsplakat für die Ausstellung Mack + Klein + Piene + Uecker + Lo Savio = 0 in der Galleria La Salita, Rom, 1961 wird die „Null“ als primäres Gestaltungselement eingesetzt. Die fünf Namen der teilnehmenden Künstler sind vertikal ausgeschrieben und erinnern an die Gestaltung des dynamo 1-Plakats in der Galerie Renate Boukes. Horizontal gelesen ergeben die Buchstabenreihen keinen logischen Sinn, enden jedoch jeweils mit dem Zusatz „= 0“.
Ein weiteres markantes Beispiel für die „0“ als Gestaltungselement ist das Plakat der Nul-Ausstellung im Stedelijk Museum Amsterdam, 1962. Für die Gruppenausstellung an der auch Mack, Piene und Uecker beteiligt waren, wurden mehrere Plakate angefertigt, darunter eine typographische Collage mit Ausschnitten aus verschiedenen Manifesten, auf deren Rückseite eine fotografische Werkzusammenstellung der teilnehmenden Künstler*innen zu sehen war.[i]Das Plakat wurde gefaltet in einem Umschlag als Begleitbroschüre während der Ausstellung ausgegeben. Für den öffentlichen Raum wurde die Zusammenstellung der Werkabbildungen als Vorlage verwendet, auf die eine große schwarze Null aufgetragen wurde. Am oberen sowie unteren Rand wurden die Angaben zur Ausstellung ergänzt, was ein simples sowie eindrückliches Design ergab. Die Null wurde, wie auch der ZERO-Schriftzug, auf dem Plakat der Bonner Abschlussausstellung von Mack, Piene und Uecker verwendet, war aber ansonsten ebenso Gestaltungselement für größere Gruppenausstellungen, oft auch im Zusammenhang mit der niederländischen Nul-Gruppe.
[i] Johan Pas, „The Magazine is The Message. ZERO im Zine-Netzwerk der Neo-Avantgarde 1958–1963“, in: Pörschmann, Visser (wie Anm. 12), S. 469–486, hier S. 482.

Mack, Piene und Uecker entwarfen zahlreiche der Ausstellungsplakate selbst, wie es zu diesem Zeitpunkt ein übliches Vorgehen war. Bis Uecker zur Gruppe dazustieß, wechselten sich Mack und Piene regelmäßig in der Gestaltung ab, was wohl neben den pragmatischen Gründen der Zeitersparnis auch darauf zurückzuführen ist, dass beide Künstler Spaß am Design der Plakate hatten.
So schrieb Mack im Rahmen der Poster-Gestaltung für die Ausstellung Integratie 64, Arena-Centrum Deurne, Antwerpen, 1964 an Paul de Vree (1909–1982):
„Ich mache gerne Plakate und habe auch manchmal Glück dabei“.[i] Als Beleg für seine Leidenschaft des Plakat-Designs fügte Mack hinzu: „Ich bin auch bereit, das Plakat ohne Honorar zu machen; die 100,- (hundert) DM, die Sie anbieten, möchte ich dennoch annehmen, damit ich meinen Entwurf von einem Berufsgraphiker druckfertig auslegen lassen kann, weil ich für diese Arbeit keine Lust und Zeit habe.“[ii]
Aus Korrespondenzen geht hervor, dass beispielsweise der Museumsdirektor Udo Kultermann (1927–2013) sowohl Piene als auch Mack für die Entwürfe von Gruppenausstellungen anfragte. Piene sollte im April 1960 das Plakat zur Ausstellung Monochrome Malerei in Leverkusen entwerfen, wofür er ein Honorar von 350 DM einforderte. Zwei Jahre später bot Kultermann Mack die Gestaltung eines Plakats für die Gruppenausstellung Konstruktivisten in Leverkusen an. Mack vermerkte im Kostenvoranschlag ein im Vergleich zum regulären Durchschnittsgehalt aus dem Jahr 1960 großzügiges Honorar von 500 DM.[i]
Üblich war das Honorar für die Gestaltung von Plakaten jedoch nicht. Oft ging es in den Korrespondenzen mit den Gallerist*innen um kleinteilige Kostenaufteilungen für die Werbemittel und die Transportkosten. So notierte Piene am 4. Februar 1960 zur Ausstellung Piene. Ölbilder. Rauchzeichnungen. Lichtmodelle. Lichtballett in der Galerie Diogenes in Berlin auf der Rückseite eines Kostenvoranschlags der Druckerei Firma Knoche, dass er mit dem Galeristen Günter Meisner (1926–1994) telefoniert habe, der ihm die finanzielle Übernahme der Kataloge und Einladungskarten zugesichert habe, er selbst zahle die Plakate.[ii] Die Übernahme der Kosten für Drucksachen war Verhandlungssache, wie auch durch die Korrespondenz mit Ursula Ludwig, die für die Galerie Diogenes arbeitete, aus dem Jahr 1962 belegt werden kann. Nachdem Piene im November desselben Jahres für die vom 30. März bis 30. April 1963 in Berlin stattfindende Ausstellung Zero der Galerie Diogenes die Kosten für Plakate und Einladungen übertragen möchte, schrieb Ludwig:
[i] Das durchschnittliche Monatsgehalt eines*einer Lohnarbeiter*in betrug im Jahr 1960 508,42 DM (https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_6/anlage_1.html).
[ii] Druckerei Fr. Knoche an Otto Piene, Solingen, 3. Februar 1960, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.264.
„Nicht gut ist, daß [sic] wir die Kosten für Einladungen, Kataloge und Plakate alleine tragen sollen; ehrlich gesagt ist uns das zuviel [sic] – wie wäre es mit einem Kompromiß [sic]?“
und wartete auf Pienes Entgegenkommen.[i] Anscheinend konnte man sich einigen, denn sowohl Plakat als auch Einladungen und Katalog erschienen im Rahmen der Ausstellung im Frühjahr 1963. Die Wiener Galerie St. Stephan sicherte Piene wiederum für eine Ausstellung direkt die Übernahme der Druckkosten für das Plakat bis zu 300 DM zu, alles was darüber gehe, müsse er aber selbst zahlen. Die Hälfte der Transportkosten übernahmen sie allerdings auch.[ii]
[i] Galerie Diogenes an Otto Piene, Berlin, 8. Dezember 1962, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.1485.
[ii] Galerie St. Stephan an Otto Piene, Wien, 11. Dezember 1960, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO. 2.I.44.
Die Kostenkalkulationen für die Drucksachen einer Ausstellung waren also eng bemessen und wie aus den zahlreichen Briefen mit Galerien und Institutionen hervorgeht, wurde darüber streng verhandelt. Wenn Piene und Mack die Plakate selbst entwarfen, sparten die Galerien oder Institutionen die Kosten für Entwerfer*innen ein, und gleichzeitig war sichergestellt, dass die Plakate den individuellen Wünschen der Künstler*innen entsprachen. Die Künstler*innen selbst profitierten ebenfalls von den abgeschlossenen Deals, denn die Kunsteinrichtungen übernahmen im Gegenzug die Kosten für Transporte und weitere anfallende Druckkosten.
In Bezug auf das Zeitmanagement kann anhand der Archivmaterialien nachgezeichnet werden, dass die Entwürfe in der Regel zeitlich knapp angefertigt wurden. Die Korrespondenzen belegen, dass der Zeitrahmen für die Ausführung der Entwürfe und deren Auslieferung an die jeweilige Druckerei meistens nur eine Woche bemaß, dementsprechend zur Ausarbeitung und Umsetzung der Werbematerialien nur wenig Zeit einkalkuliert wurde – sowohl von Seiten der Institutionen als auch der Künstler*innen selbst. Dennoch sollten die fertigen Plakate möglichst schnell an Galerien und Institutionen weitergeleitet werden, um frühzeitig für die Ausstellungen zu werben. Dieser Vorgang, der stets in Zeitdruck, verspäteten Abgaben und unpünktlichen Aushängen der Plakate mündete, schien sich von Ausstellung zu Ausstellung zu wiederholen, wie anhand der Datierungen der Briefe abzulesen ist. Im Rahmen des Entwurfs für das Poster der Konstruktivisten-Ausstellung in Leverkusen drängte Mack in seinem Brief vom 8. Juni 1962 an Udo Kultermann beispielsweise auf eine rasche Entscheidung bezüglich seines Entwurfs, denn er brauche Zeit für seine „besondere Plakatidee“[i]. Die offizielle schriftliche Bestätigung erreichte Mack jedoch nicht vor dem 15. Juni. Die Ausstellung sollte allerdings am 22. Juni eröffnen, was Mack offiziell eine Woche Zeit ließ für die Konzeption, die er auch einhielt, wie aus der Rechnung geschlossen werden kann.[ii] Dies war jedoch nicht immer der Fall, wie ein Brief von Paul de Vree an Mack zeigt. Obwohl die Ausstellung Integratie 64 erst am 26. September 1964 eröffnen sollte, ließ de Vree Mack bereits am 7. August einen Brief zukommen, aus dem hervorging, dass Mack zu spät dran sei. Er wies Mack darauf hin, dass es bereits Anfang August sei und sie dringlichst mit der Werbung für die Ausstellung beginnen müssten, für die das Plakat essentiell sei.[iii] Die Dringlichkeit, mit der auf die Schnelligkeit bei der Plakatgestaltung hingewiesen wurde, hing sicherlich auch von der Größe der Ausstellung sowie der ausrichtenden Institution ab. Geworben wurde schließlich durch Aushänge an Plakatsäulen, über die Versendung von Plakaten an wichtige Institutionen zum Aushang sowie über die Verteilung an Freund*innen und Bekannte. Oft aber auch erst nach der Eröffnung, was die Folge des immerwährenden Problems des Zeitmanagements war.[iv]
[i] Heinz Mack an das Städtische Museum Leverkusen Schloss Morsbroich, Düsseldorf, 8. Juni 1962, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.1398.
[ii] Korrespondenz zwischen Heinz Mack, Düsseldorf, und dem Städtischen Museum Leverkusen Schloss Morsbroich, Leverkusen, Mai/Juni 1962, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.1397–1400.
[iii] Paul de Vree an Heinz Mack, Antwerpen, 7. August 1964, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.639.
[iv] Engelbert Eckert und Rochus Kowallek an Heinz Mack, Frankfurt am Main, 10. Juli 1961, Archiv der ZERO foundation VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.173; Heinz Mack an Städtisches Museum Leverkusen Schloss Morsbroich [Briefentwurf], Leverkusen, o. D., Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.1400; Otto Piene an Studio f [Briefentwurf], Düsseldorf, 24. April 1960, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.159.
Piene und Mack arbeiteten in Bezug auf die Plakatgestaltung eng mit der Druckerei Fr. Knoche in Solingen-Wald nahe Düsseldorf zusammen, wie Rechnungen aus der Zeit ab 1957 im Archiv belegen. Die Zusammenarbeit erfolgte aus persönlichen Gründen, da Pienes Freund, Walter Kirschbaum, den er im Kriegslazarett kennengelernt hatte, der Schwager des Firmeninhabers war.[i] Aus den Korrespondenzen mit der Druckerei Fr. Knoche lassen sich Preise und Druckangaben für die Plakate in der Zeit ablesen. Eine der ersten dokumentierten Plakatrechnungen stammt aus dem Jahr 1959 – Piene gab 200 Plakate DIN A1 im Offsetdruck bei Knoche in Auftrag, was ihn 209 DM kosten sollte.[ii] Bei Kostenübernahmen seitens Dritter tauchten jedoch nicht selten Probleme auf – meist, wenn eine Galerie die ausstehenden Rechnungen nicht zahlte. So erhielt Mack im Februar 1962 einen Brief von Werner Knoche, in dem er berichtete, dass die Galerie Dato in Frankfurt am Main die Kosten von 29 DM für insgesamt 82 Plakate für Die Ruhe der Unruhe trotz dreimaliger Mahnung nicht gezahlt habe.[iii] Aufgrund der nicht gezahlten Rechnung von Dato verlangte Knoche auf anwaltlichen Rat hin von Mack die Rückgabe der Papiere, womit er wohl die Plakate meinte. Erst im Oktober 1962 (Anm.: die ursprüngliche Rechnung wurde von Knoche am 26.7.1961 gestellt) wurde die Rechnung von der Galerie beglichen.[iv] Die Zusammenarbeit mit Knoche wurde trotz dieser gelegentlichen Zahlungsprobleme nicht beeinträchtigt, denn bis 1966 arbeiteten die ZERO-Künstler mit der Druckerei zusammen.[v]
[i] Dirk Pörschmann, „ZERO bis unendlich. Genese und Geschichte einer Künstlerzeitschrift“, in: Pörschmann, Visser(wie Anm. 12), S. 424–442, hier S. 437.
[ii] Druckerei Fr. Knoche an Otto Piene, Solingen, 29. Juni 1959, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.434.
[iii] Druckerei Fr. Knoche an Heinz Mack, Solingen, Februar/März 1962, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.325–326.
[iv] Korrespondenz zwischen Druckerei Fr. Knoche, Solingen, und Heinz Mack, Düsseldorf, Oktober 1962, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.327–328.
[v] Druckerei Fr. Knoche an Otto Piene, Solingen, 4. April 1967, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.2451.
Im Nachlass von Otto Piene in der ZERO foundation befinden sich zahlreiche Unterlagen zur Vorbereitung von Plakaten, darunter einige Entwurfszeichnungen und Skizzen.[i] Es handelt sich dabei meist um Ideenskizzen, anhand derer grobe Gestaltungsmuster erprobt wurden, wie beispielsweise für das Plakat zur Ausstellung dynamo 1, Galerie Renate Boukes, Wiesbaden, 1959, oder für das Plakat zu Pienes Ausstellung Sensibilité prussienne, die 1961 in der Frankfurter Galerie Dato stattfand. Während die 10,5 x 14,9 cm kleine Skizze für die letztgenannte Ausstellung mit Kugelschreiber auf einem einfachen Blatt Papier ausgeführt wurde, nahm Piene für die mit Füllfederhalter ausgeführte dynamo 1-Skizze die Vorder- und Rückseite seines Briefentwurfs an Oskar Holweck (1924–2007) aus dem Jahr 1959 zur Hand, die er kurzerhand überzeichnete.[ii]
[i] Ruth Magers, Rebecca Welkens, „Entwurf und Skizze im Nachlass von Otto Piene“, in: Die Entwurfszeichnungen und Skizzen von Otto Piene im Archiv der ZERO foundation, hrsg. von der ZERO foundation, Düsseldorf 2023, S.11–15.
[ii] Entwurfsskizze dynamo 1, o. D. (ca. 1959), Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.IV.99; Plakatentwurf zur Ausstellung Sensibilité prussienne, o.D. (ca. 1961), Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr..ZERO.2.IV.14.

Die spätere Plakatausführung ist auf der Vorderseite bereits zu erahnen – in schneller Kritzelei brachte Piene die durchnummerierten Namen der Teilnehmenden auf das Papier. Der zweite Entwurf ist im Vergleich mit dem ausgeführten Plakat fast deckungsgleich, abgesehen davon, dass es sich um einen querformatigen Entwurf handelt und das Plakat später im Hochformat ausgeführt wurde. Neben den Namen im mittleren Bereich sind am oberen sowie unteren Blattrand die Ausstellungsdetails vermerkt – allerdings strich Piene die Skizze durch, sodass von einer ersten Idee ausgegangen werden muss, die nicht an die Druckerei weitergereicht wurde.
Anders mutet der Kugelschreiberentwurf für das Plakat Sensibilité prussienne an. Mit spontaner, skizzenhafter Linienführung umriss Piene das als Hochformat auszuführende Plakat, auf welchem er am oberen Ende seinen Namen und den Ausstellungstitel vermerkte, mittig eine Kreisform andeutete und am unteren Ende den Namen der Galerie sowie deren Adresse anführte. Diese passte nicht ganz auf die klein angelegte Skizze von Piene, weshalb er über den Rand hinausschrieb, diesen Teil aber ebenfalls nachträglich einrahmte. Oberhalb der kleinen Skizze fügte er die Worte „A1 Auflage 500“ hinzu, was klar als Druckanweisung gelesen werden kann. Die Ausführung des Plakats erfolgte dem Entwurf entsprechend – auf die Nennung von Laufzeit und Öffnungszeiten der Ausstellung wurde tatsächlich auch auf dem Plakat verzichtet, weshalb es sich bei der Skizze um einen konkreten Vorentwurf handeln muss.[i] Generell gab Piene aber auch detailliert ausformulierte Anweisungen an den Drucker weiter, was in einigen Fällen Entwurfsskizzen sogar hinfällig werden ließ.[ii]
[i] Es ist davon auszugehen, dass zahlreiche Entwurfsskizzen für Plakate in den Druckanstalten verblieben und nicht mehr an die Entwerfer*innen zurückgesendet wurden. Ein Beispiel für diese Annahme ist ein Briefentwurf von Otto Piene an die Druckerei Fr. Knoche, in der Piene konkret eine Entwurfszeichnung benennt, die dem Brief wohl beigelegt wurde, im schriftlichen Nachlass von Piene aber nicht mehr aufzufinden ist. Eine Recherche nach dem Nachlass der Druckerei Fr. Knoche blieb bisher erfolglos. Vgl. Otto Piene an Druckerei Fr. Knoche [Briefentwurf], Düsseldorf, 1. Mai 1960, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.498.
[ii] Otto Piene an Druckerei Fr. Knoche [Briefentwurf], Düsseldorf, 26. April 1960, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.503.
Günther Uecker nutzte die Collage-Technik als Gestaltungselement für das Plakat Sintflut der Nägel, welches in Zusammenarbeit mit dem Verleger Hans Möller, dem die Hofhauspresse in Düsseldorf gehörte, im Jahr 1963 entstand.[i] Uecker beteiligte sich häufiger an Collagen, die als künstlerische Kollaborationsprojekte entstanden. Eines dieser Beispiele ist die bereits erwähnte Collage zur Nul-Ausstellung 1962 in Amsterdam. Für das Sintflut-Plakat griff Uecker auf zwei Collagen zurück, die er im selben Jahr wie das Plakat – 1963 – kurz zuvor gefertigt hatte.[ii] Auf einer 60,5 x 35,0 cm großen Pressspanplatte brachte Uecker neben Zeitungsausschnitten der Skyline von New York und einem blauen Wellenornament Fotografien des oberen Teils eines Atompilzes, seines eigenen Kopfes und des nach vorne gebeugten unteren Teils eines unbekleideten Körpers an. Mit weißer Farbe schuf er den Hintergrund für die New Yorker Skyline und mit dünnen Nägeln benagelte er Konturen der Abbildungen sowie größere Dunkelflächen der Fotografien für die erste Collage Sintflut Manifest – Überflutung der Welt. TRANSGRESSION. Den Titel vermerkte Uecker gemeinsam mit Signatur und Datum im unteren Drittel der Pressspanplatte mit Bleistift.
[i] Plakat Sintflut der Nägel, 1963, Archiv der ZERO foundation, Bestand 0, mkp.ZERO.0.VII.93.
[ii] Beide Arbeiten wurden 2023 durch den Freundeskreis der ZERO foundation angekauft und befinden sich in der Sammlung der ZERO foundation Düsseldorf.

Nach Fertigstellung fotografierte Uecker Teile der Collage und fügte diese im selben Jahr gemeinsam mit verschiedenen schwarz-weißen Werkfotografien zu einer weiteren Collage, Sintflut (Die Engel fliegen), zusammen, die mit 89 x 62,5 cm deutlich größer ist als die Arbeit auf Pressspan. Mit schwarzem Filzstift ergänzte er an den Rändern einzelne Wörter und kurze Sätze wie „die Engel fliegen“ oder „sich ausbreitender Unsinn“. Neben den fotografischen Kopien der ersten Collage fanden Werke wie seine aus demselben Jahr stammende Sonnenüberflutung – Transgression mittig in der oberen Hälfte der Collage ebenfalls als fotografische Reproduktionen Platz. Dazwischen sind Fotografien benagelter Tische sowie andere Alltagsgegenstände zu sehen. Ein Foto von Uecker selbst am unteren Rand sticht gemeinsam mit dem Kopf einer Frau heraus. Der Frauenkopf ist das einzige Element der Collage, welches aus einer Zeitung ausgeschnitten wurde und nicht auf Fotopapier gezogen wurde. Beide Figuren befinden sich auf einer gemeinsamen Vertikalen und suggerieren eine Verbindung im ansonsten chaotisch anmutenden Übereinander und Nebeneinander. Die Reproduktionen von Ueckers benageltem Kopf stechen aufgrund des starken Hell-Dunkel-Kontrastes deutlich heraus. Ihre vielfache Verwendung für die Collage hebt sie als motivische Konstanten hervor.
Die zweite Collage bildete schließlich die Vorlage für das Plakat Sintflutmanifest. Mit der Hilfe von Hans Möllers Hofhauspresse wurde die Sintflut-Collage kopiert und auf eine druckfähige Größe, in diesem Fall DIN A2, reduziert.[i] Auf dem fertigen Druckplakat wurden dann rote Stempel mit der Aufschrift „SINTFLUT DER NÄGEL“ am oberen linken sowie mittleren rechten Rand angebracht. Ein weiterer Stempel mit den Worten „hofhaus presse“ wurde in blauer Farbe am unteren Rand hinzugefügt. Wo und wie das Manifest verbreitet wurde, ist unklar, doch als Uecker mit William E. Simmat (1926–1993) aus der Galerie d im August 1963 bezüglich der Ausstellung Sintflut der Nägel in Kontakt tritt, schreibt er, ob es möglich sei, seine Plakate, er habe noch 500 Stück, als Einladung zu verwenden. Sie müssten, so notiert er, dann rot mit Namen und Galerie d bedruckt werden – und fügt sogleich eine Skizze in den Brief mit ein.[ii] Eine weitere Skizze auf dem gestempelten Plakat, die Uecker ebenfalls an Simmat schickte, zeigt mit blauem Kugelschreiber an, wie er sich die Einladungskarte vorstellte.[iii] Uecker handelte pragmatisch, denn so wurde der Kosten-Nutzen-Aufwand für die Werbemittel zur Ausstellung besonders gering gehalten. Dennoch fand ein wohlüberlegtes und anspruchsvolles Collagenwerk weitere Verwendung.
[i] Vgl. Brief Heinz Mack an Paul de Vree (wie Anm. 18). Hieraus geht hervor, dass Hans Möller wohl nur bestimmte Größen Offset drucken konnte.
[ii] Günther Uecker an William E. Simmat, Düsseldorf, 15. August 1963, Archiv der ZERO foundation, Nachlass William E. Simmat, Inv. Nr. mkp.ZERO.7.I.22.
[iii] Entwurf für die Einladungskarte für die Ausstellung Sintflut der Nägel in der Galerie d, Frankfurt am Main, 1963,Archiv der ZERO foundation, NL Simmat, Inv. Nr. mkp.ZERO.7.IV.2.

In leicht veränderter Form und mit einem zusätzlichen Schrifttext wurde das Manifest später tatsächlich als Einladungskarte versendet, allerdings ohne die roten und blauen Stempel der Hofhauspresse. Im September 1963 eröffnete die Ausstellung, in der Uecker primär benagelte Alltagsgegenstände zeigte, mit einem Event: Bazon Brock (*1936) las einen Text vor und Günther Uecker benagelte diesen gleichzeitig zu Brocks Füßen.


In der Gestaltung der ZERO-Poster findet sich häufig die Verwendung von fotografischen Elementen, meistens Werkfotografien zur Illustration und Konkretisierung der in der Ausstellung zu erwartenden Inhalte. Neben den Plakaten, auf denen Werke stellvertretend für die teilnehmenden Künstler*innen gezeigt wurden, gibt es in der Gruppe der ZERO-Plakate einige Exemplare, für deren Design abstrakte Fotografien gewählt wurden. Dazu gehören beispielsweise die Plakate zu den Gruppenausstellungen Konstruktivisten, Museum Morsbroich, Leverkusen, 1962, sowie Integratie 64, Arena-Centrum Deurme, Antwerpen, 1964. Für beide Ausstellungen entwarf Mack das jeweilige Plakat und in beiden Fällen verwendete er eigene Werke als fotografische Vorlagen.
Kultermann hatte im Mai 1962 bei Mack angefragt, ob dieser das Plakat für die Konstruktivisten-Ausstellung entwerfen würde und Mack sagte kurze Zeit später zu.[i] Für das Plakat sowie den Ausstellungskatalog verwendete er zur Illustration eine von ihm gefertigte Experimentalfotografie.[ii]
[i] Städtisches Museum Leverkusen Schloss Morsbroich an Heinz Mack, Leverkusen, 30. Mai 1962, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.1397.
[ii] Vielen Dank an das Atelier Mack, insbesondere Heinz Mack und Sophia Sotke, die mir großzügige Auskünfte in Bezug auf die Plakatentstehung erteilten.



Im Vergleich mit Macks Oeuvre aus der Zeit fallen zahlreiche Überschneidungen zwischen der Fotografie und seiner Werkreihe der Dynamischen Strukturen auf. Auf schwarzem Grund ragen aus einer trichterförmigen weißen Fläche weiße zacken- oder strahlenförmige Linien heraus. In der Mitte des Hochformat-Posters wird die Fläche durch einen schwarzen Streifen mit der Beschriftung „Konstruktivisten“ getrennt, darunter spiegelt sich der obere Teil der Fotografie. Die abgebildeten Strukturen erinnern im weitesten Sinne an Visualisierungen von Ton- und Stimmbildern. Zahlreiche ähnliche Beispiele sind im malerischen und zeichnerischen Oeuvre von Mack zu erkennen, der sich seit den frühen 1950er-Jahren mit der Darstellung von rhythmischen Strukturen in Anlehnung an Musikalität beschäftigte. Andere Beispiele für ähnliche Darstellungen der Dynamischen Strukturen von Mack finden sich auch in ZERO 3, was die für das Plakat verwendete Experimentalfotografie zu einem für Mack markantem Werk machte.[i]
Für das Poster von Integratie 64 wählte Mack eine Fotografie des Sahara-Reliefs, welche 1960/1961 als Arbeit für den öffentlichen Raum geschaffen wurde und die Fassade der Mathilden-Schule in Leverkusen bekleidete.[ii] Auf dem Plakat ist die Fotografie einer der in Untersicht fotografierten Fassade zu sehen, die den Blick auf eine horizontale Zick-Zack-Struktur freigibt.
[i] Magdalena Zorn, „Das Klingen sehen. Musikalität im Werk von Heinz Mack“, in: Heinz Mack, Köln 2021, S. 58–73, S. 58–61; Fotografie des Werks Dynamische Struktur von Heinz Mack, 1961, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.V.106.
[ii] Die Reliefs bestehen heute nicht mehr und wurden von der Fassade entfernt. Sophia Sotke, „Das Sahara-Projektvon Heinz Mack im internationalen Kontext von ZERO und Land Art, 1959–1976“, Diss. Köln 2020, S. 65–66.

Die Lamellen variieren in ihrer Anordnung, was für die Betrachter*innen den Effekt unterschiedlicher Licht- und Schatteneinfälle je nach Standortwechsel erzeugte.[i] In einem Brief an Paul de Vree, einem der drei Organisatoren der Ausstellung, schrieb Mack detailliert auf, was er für die Plakatgestaltung plante:
[i] Sotke (wie Anm. 45), S. 65–66.
„[…] ich möchte die Rasterwirkung meiner Sahara-reliefs [sic] – als graphisches Raster übersetzt – für das Plakat verwenden, weil m.E. damit eine großzügige, plakative Wirkung erreicht werden kann, die auch ihren inneren Sinn hat: eine Integration von architektonischen und plastischen Strukturen. Selbstverständlich werde ich allein einen Ausschnitt der Reliefs wählen, der sich möglichst anonym präsentiert; d.h., natürlich soll der Betrachter nur die freie graphische Struktur sehen, wobei er Architektur und Plastik und Technik assoziiert, nicht aber meinen Namen, beziehungsweise die gegebenen Reliefs.“[i]
[i] Heinz Mack an Paul de Vree [Briefentwurf] (wie Anm. 18).
Der Brief bezeugt Macks Anliegen mit seiner Plakatgestaltung so eng wie möglich am Ausstellungsthema zu arbeiten und visuell in die Verbindung von Kunst, Technologie und Architektur einzuleiten. Neben dem Wunsch nach einem treffenden Entwurf, geht Mack darauf ein, dass er eine graphische Ausgestaltung seines Reliefs für das Poster plane – umgesetzt wurde jedoch eine Fotografie, die nur wenig abstrahiert wurde. Aus weiterer Korrespondenz mit de Vree geht hervor, dass Mack am Ende die Frist zur Gestaltung nicht einhielt – es lässt sich nur mutmaßen, dass die Verwendung der Fotografie eventuell auch auf Zeitgründe zurückzuführen ist. Dies hatte zur Folge, dass die versprochene Abstraktion, und damit die Anonymität Macks, aus heutiger Sicht kaum erfüllt wurde: Macks Relief muss zumindest für Kenner*innen sogleich als solches ersichtlich gewesen sein, denn es handelte sich um ein Werk im öffentlichen Raum, aber viel wichtiger noch war, dass es schon in ZERO 3 abgedruckt worden war.[i] Mack platzierte in beiden besprochenen Beispielen seine eigenen Werke durch den Wiederabdruck auf Plakaten zu Gruppenausstellungen geschickt im öffentlichen Raum.
[i] ZERO 3 hatte mit 1225 gedruckten Exemplaren eine höhere Reichweite als ZERO 1 (400 Exemplare) und ZERO 2(350 Exemplare). Vgl. Pörschmann, Visser (wie Anm. 12), S. 403–404.
Dass die Werke einzelner Künstler*innen über die Plakate als solche zu identifizieren waren, mag vor allem auch der Ausbildung eines eigenen wiedererkennbaren Stils geschuldet gewesen sein. Als einer der wenigen Berufsgraphiker*innen aus dem ZERO-Kreis bildete Almir Mavignier (1925–2018) einen unverkennbaren Personalstil aus, der sich in den 1950er- und 1960er-Jahren oftmals am Punktraster orientierte. Anders als bei den anderen ZERO-Künstler*innen bedingten sich bei Mavignier Plakatgestaltung und künstlerische Tätigkeiten, denn nicht selten entstand aus den Plakat-Designs eigenständige Graphik, was die Grenzen zwischen Kunstwerk und Gebrauchsgraphik bei Mavignier fließend werden ließ.[i]
Nach seinem Malerei-Studium in Rio de Janeiro kam Mavignier nach Europa und studierte von 1953 bis 1958 an der Hochschule für Gestaltung in Ulm „Visuelle Kommunikation“.[ii] Über Piene und die Teilnahme an der 7. Abendausstellung stieß Mavignier zu den ZERO-Künstler*innen dazu und stellte bis 1963 regelmäßig mit ihnen aus.[iii] Neben den Kunstwerken, die er schuf, fertigte Mavignier in dieser Zeit über 200 Plakate an, dabei handelte es sich bei den meisten um Kulturplakate, beispielsweise für das Museum in Ulm, die er als Auftragsarbeiten ausführte.[iv] In Ulm entwickelte Mavignier auch erstmalig seine sogenannten Modulplakate für das Museum, die für jede neue Ausstellung angepasst werden konnten, im Grunde aber stets einem ähnlichen Aufbau folgten. Einzelne Module wurden für jede Ausstellung neu angeordnet – so ergab sich ein serieller und zusammenhängender Charakter, der einen Wiedererkennungswert in der Öffentlichkeit hatte, dennoch ließen sich die Arbeiten individuell gestalten. Mavignier war es besonders wichtig, innerhalb der Gestaltung der Plakate möglichst frei zu sein, dazu zählten vor allem die graphische Gestaltung, die Farbwahl sowie auch die Überwachung des Drucks.[v]
[i] Axel von Saldern, „Almir Mavignier“, in: Mavignier. Plakate, hrsg. von ders., Ausst.-Kat. Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg/Deutsches Plakat Museum Essen, 1981, S. 46–47.
[ii] Von Saldern (wie Anm. 49), S. 46–47.
[iii] Otto Piene an Almir Mavignier [Briefentwurf], Düsseldorf, 5. März 1958, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.854; Almir Mavignier an Heinz Mack, Ulm, 28. April 1963, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.809.
[iv] Von Saldern (wie Anm. 49), S. 46.
[v] Von Saldern (wie Anm. 49), S. 46.
Eines der prägnanten Beispiele seiner innovativen Herangehensweise an die Plakatgestaltung zeigte sich im Rahmen der Ausstellung Mavignier. Bilder + Plakate, Galerie Nota, München, 1961.[i]
[i] Es handelte sich dabei um eine Ausstellungsreihe. Die Mavignier-Ausstellung war die vierte Ausstellung. Zuvor gab es bereits Ausstellung von Morellet sowie Mack und Piene in der Münchner Galerie Nota. Antje von Graevenitz, “Gerhard von Graevenitz as Curator”, in: Caianiello, Visser (wie Anm. 13), S. 275–292, S. 284–287.

Zwei große weiße Kreise sind jeweils am oberen und unteren Ende des vertikal ausgerichteten Siebdruck-Plakats zu sehen, in denen oben Mavigniers Name und unten in kleiner Schrift – eines der gestalterischen Markenzeichen von Mavignier – der Ausstellungstitel sowie die weiteren Angaben zur Ausstellung genannt werden. Die zwei weißen Kreise sind Teil eines Rasters aus ansonsten schwarzen Kreisen auf blauem Grund, die, abgesehen von dem mittleren Kreis, jeweils durch den Plakatrand geteilt beziehungsweise beschnitten werden. Mavignier verfolgte damit eine spezifische Strategie für den Außenraum.[i] Es sollten mehrere Plakate vertikal sowie horizontal nebeneinander angebracht werden, sodass sie zusammen ein großes Rasterbild ergaben. Die Plakatgestaltung unterlag also einem logischen Gesamtkonzept, das sowohl im Einzelnen als auch in der größeren Menge funktionierte und den Außenraum sowie die öffentliche Wahrnehmung mitbedachte.
[i] von Graevenitz (wie Anm. 54), S. 287.

Für die besprochenen ZERO-Künstler, Mack, Piene, Uecker und Mavignier, war die Ausgestaltung von Plakaten essenzieller Teil ihrer Arbeit, der sich formal an der Schnittstelle von Kunst und Gebrauchsgraphik angliederte, oftmals aber inhaltlich eine intensive künstlerische Ausgestaltung aufwies, wie die einzelnen Beispiele anschaulich gemacht haben. Die Plakate erfüllten neben der generellen Funktion– der Erzeugung von öffentlicher Aufmerksamkeit für die jeweils beworbenen Ausstellungen – auch individuelle Aufgaben. Während sich Piene komplett dem ZERO-Gedanken verschrieben hatte und dies auch in seinen Entwürfen für die Plakate deutlich wurde, verwendete Mack die Poster auch, aber sicher nicht ausschließlich, zur Aufmerksamkeitsgenerierung für seine eigenen Werke. Für Uecker hatten die Poster weniger einen werbestrategischen als einen ideellen, aber vor allem künstlerischen Wert und für Mavignier erfüllten sie stets die Doppelfunktion zwischen künstlerischem Ausdrucks- und Werbemittel, die ihm auch zur Sicherung seiner Existenz dienten. Die eingangs erwähnte Heterogenität der Plakate im ZERO-Archiv findet sich also nicht nur in der motivischen, sondern auch in ihrer funktionalen Ausgestaltung wieder, die letztlich auf das individuelle Verständnis des Plakats als Gestaltungsmedium der besprochenen Künstler hindeutet.
Am Beispiel des Dokumentationsraums der 1966 stattgefundenen Ausstellung Zero ist gut für dich in Bonn wird noch einmal besonders deutlich, dass Mack, Piene und Uecker dem Plakat auch für ihre gemeinsame Tätigkeit einen hohen Stellenwert beimaßen. Die Wände des Raums wurden mit zahlreichen Plakaten aus der ZERO-Zeit regelrecht tapeziert. Vor den Wänden aufgestellte Vitrinen beinhalteten korrespondierend die Kataloge, Manifeste und Einladungskarten aus der Zeit von 1957/1958 bis 1966. Die Ausstellung wurde durch den Dokumentationsraum betreten und sollte die Besucher*innen über die Geschichte von Mack, Piene und Uecker informieren und in den Ausstellungskontext einführen.[i] Die Künstler, die diesen als den einzigen Raum gemeinsam gestaltet hatten, strebten über die Inszenierung der Plakate und der anderen Werbemittel eine Form der Selbstdarstellung an, die einerseits der eigenen Historisierung diente, andererseits auch die gemeinsamen Tätigkeiten visualisieren und aufwerten sollte. Das Plakat wurde trotz aller individuellen künstlerischen Positionen als gemeinschaftliches Produkt nach außen getragen, womit auch der weitgreifend internationale Erfolg von den Düsseldorfer ZERO-Künstlern konstatiert wurde.
[i] 1964 hatte Mack einen ähnlichen Raum in London konzipiert. Thekla Zell, ”’The ship ZERO is casting out its anchor, and the voyage is over.’ ZERO in Bonn and a final Midnight Ball”, in: Caianiello, Visser (wie Anm. 13), S. 397–428, hier S. 403.
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Endnotes
Q Zitate
Moving Memory
Leonard Merkes
0.
Am Rand einer Straße, vor einem Tor, einer Einfahrt. Ein Auto nähert sich, es hält und eine Tür wird geöffnet. Jemand steigt aus. Dann wird ein Streichholz angezündet und verlischt im Wind. Musik, eine Melodie, die wie Rauch den Text einhüllt.
Wir waren ja heranwachsende Jungens und Teenager in einer dunklen Zeit. Die ganze Welt war dunkel. Es durfte kein Lichtschein aus irgendeinem Fenster kommen. Es gab keine Straßenlaternen und die Autos, die wenigen, die es gab, hatten vor ihren Scheinwerfern Masken mit kleinen Schlitzen, mit einer Winzigkeit von Licht.
dunkel
alles gefährlich
Das bezog sich auch auf den Tageshimmel, denn der Tageshimmel war ja voller Gefahren. Der Tageshimmel war mehr eine Bedrohung,
als dass er Erlösung und Erhellung versprechen konnte.
Es war einfach dunkel. Und das sechs Jahre lang. Von dem Leben das ich gelebt habe als Junge,war 1/3 Krieg.
Und daher dieser enorme Kontrast zwischen einem Leben im Dunkeln
und einem Leben in einer legalisierten Helligkeit.
Ein Streichholz wird angezündet und verlischt im Wind. Dann, wie von weit her, ein Knacken, ein Knirschen. Metall trifft auf Metall. Ein Tor öffnet sich, etwas setzt sich in Bewegung, gräbt sich in die Melodie. Eine Stimme, die wiederholt:
Projectionists please turn on projectors!
Projectionists please turn on projectors!
Projectionists please turn on projectors!
Now
0.
Schritte. Jemand steigt eine Treppe hinauf. Eine Stimme zählt leise von zehn herunter. Ein Countdown, ein Abzählreim, der, bevor er bei null enden kann, wieder von vorne beginnt, manchmal wild zwischen den Zahlen hin und her springt. Für die Szene gilt: Über Fehler darf gelacht werden, Stille kann sich jederzeit ereignen und natürlich müssen Schritte am Ende wiederholt werden. Verschiedene Stimmen, die sagen:
ja
ja
ja
gestern
heute
morgen
atmen
Jemand nimmt einen tiefen Atemzug. Dann wieder Schritte.
ja
ja
ja
je suis de mon temps
je suis de mon temps
gestern
heute
morgen
ja
ja
ja
atmen
Wieder nimmt jemand einen tiefen Atemzug. Dann wieder Schritte.
ZERO: wir sind für alles!
ZERO: wir leben!
gestern
heute
morgen
4 2 3 1
bewegung
bewegung
3 4 2 1
bewegung
ZERO: wir sind für alles!
ZERO: wir leben!
bewegung
sie ist unaufhaltsam
sie ist ohne physik
dynamo dynamo dynamo
ich
7/7 dynamo
die ruhe der unruhe
die ruhe der unruhe
4 3 2 1
tun
no tremolo
no lamento
no ritardando
no parlando
tun
Kichern. Irgendwo in einem Gebäude öffnet sich eine schwere Eisen- oder Stahltür und dann noch eine und noch eine und noch eine. Eine kurze Melodie, die des Anfangs, wird wieder aufgenommen, sie schiebt sich durch die geöffneten Türen, die nach einer Weile überraschenderweise völlig geräuschlos zufallen. Weiterhin Schritte, die in die nächste Szene führen.
0.
Ein leerer Raum. Da gehen einige auf Zehenspitzen, leise Töne aus allen Richtungen. Es hallt auf deutsch, englisch, französisch, italienisch, niederländisch und Sprachen, die noch zu erfinden sind.
Es muss eine ganz neue Kunst kommen. Nicht schön und hässlich mehr, nicht gut und böse, sondern eine Kunst, die keine Kunst mehr ist, sondern eine gegebene Tatsache.
Nicht abstrakt. Nicht figurativ.
Nicht nur als Aktion. Nicht bloß als Stimulanz. Sondern als das Sehen selbst.
Anti-Malerei, kein Antagonismus. Sondern eine neue Dimension.
ZERO ist eine Gemeinschaft von Individuen, keine Partei. Es gibt keinen Präsidenten, keinen Führer, Sekretär, Kassierer, keine Mitglieder. Es gibt nur menschliche Beziehungen.
Es besteht weder eine Verpflichtung zur Teilnahme noch irgendein anderes „Soll“ oder „Muss“. Die Zusammensetzung der ZERO-Ausstellungen wechselt ständig.
Wir arbeiten gelegentlich gemeinsam, sogar als Team.
Die Bedeutung der Mannschaftsarbeit besteht für mich in der Synthese verschiedener, individueller Ideen.
Freiwillige Integration und freiwillige Auflösung.
ZERO akzeptiert die Dinge, wie sie sind.
Störende persönliche Gefühle auszuschließen, ist ein Grundprinzip von ZERO.
Das Fehlen einer bestimmten Präferenz, das Fehlen einer bestimmten Betonung.
Nicht abstrakt. Nicht figurativ.
Nicht nur als Aktion. Nicht bloß als Stimulanz. Sondern als das Sehen selbst.
Sie fragen: Kann dieses Projekt auch verwirklicht werden?
Ich antworte: Ja!
ja
ja
ja
ZERO: wir sind für alles!
ZERO: wir leben!
gestern
heute
morgen
bewegung
bewegung
je suis de mon temps
je suis de mon temps
ich
7/7
ich
7/7
dynamo
dynamo dynamo dynamo
ich
7/7
ich
7/7
ich
war 1/3 Krieg
von dem Leben das ich gelebt habe als Junge
war 1/3 Krieg
Plötzliche Stille. Es knackt und knistert, etwas verformt sich und jemand flüstert:
Projektvorschlag:
Lichtplantage 3x3x3 meter
Kubus mit 36 vertikalen Säulen.
Diese Säulen haben Schlitze von 150 cm Länge in verschiedenen Höhen.
Die Schlitze erscheinen als Lichtfäden.
Einzelne Lichtfäden sind zu Gruppen programmgeschaltet
Die Leuchtzeit einer Gruppe beträgt:
5 Sekunden.
Mehrere Stimmen zählen leise immer von fünf abwärts, während eine einzelne Stimme folgenden Text gegen den Rhythmus des Zählens spricht:
Ich will einen neuen Raum bauen, einen Raum ohne Anfang und Ende, in dem alles lebt und zum Leben aufgefordert wird. Der gleichzeitig ruhig und laut, unbewegt und bewegt ist. Er soll hoch sein, so hoch wie ich ihn haben will und niedrig, wenn ich ihn niedrig haben will. Er soll überall errichtbar sein, auf kleinster Fläche oder groß wie eine Stadt, ein Land, oder gar ein Gedanke. Wenn Sie einen Spiegel gegen einen Spiegel halten, finden Sie einen Raum ohne Ende und Grenzen, einen Raum mit unbeschränkten Möglichkeiten, einen neuen metaphysischen Raum.
Ein Streichholz entzündet sich und in den Worten, die jetzt folgen, ist ein Flackern, ein Knistern.

0.
Man hört ein Radio. Es springt zwischen den Frequenzen hin und her. Nachrichten, Neuigkeiten, von gestern heute und morgen. Stimmengewirr, dann ein Wochenschaubericht:
… Dann begaben wir uns in die Galerie d, wo Europas künstlerische Avantgarde einen Vorgeschmack dessen gibt, was unsere Enkelkinder eines Tages ebenso begeistern soll, wie uns seit langem Rembrandt und Raffael. Etwas beklommen tasteten wir uns durch das Gestrüpp der Meinungen:
„Ich weiß nicht, ob man das mit Kunst bezeichnen kann, sind ja sehr viele Sachen hier, die ja sehr amüsant und formal sehr witzig gelöst sind.“
„Wenn ich es Ihnen genau sagen möchte, ist das ein ganz sinnloser Quatsch.“
„Mit Kunst hat es sehr wenig zu tun. Es wirkt mehr wie eine technische Anlage und wenn es Kunst sein soll, würde ich sagen, es grenzt mehr an Scharlatanismus.“
„Ich finde es recht einfallsreich.“
„Die Komposition ist auch ganz gut.“
„Können Sie mir die Sache mit dem Strich erklären?“
Abruptes Ende, als hätte jemand den Stecker gezogen. Nur ein einzelner Ton bleibt zurück, sozusagen als akustische Linie. Er ist weder angenehm noch unangenehm. Er dauert so lange, bis die nächste Szene beginnt.
0.
Ein Lichtschalter wird betätigt, eine Zigarette angezündet, ein Fenster geöffnet. Einatmen und Ausatmen. Während jemand spricht, meint man, ein startendes Flugzeug zu hören, dessen Turbinen immer lauter, immer dröhnender klingen und auch die Stimme beeinträchtigen. Gerade, wenn man meint, das Flugzeug müsse nun abheben, tritt eine plötzliche Stille ein.
1944 habe ich zum ersten Mal einen Düsenjäger gesehen. Er kam zum Rande des Rollfelds, um zu starten. Mir fiel während der Vorbereitung auf, daß der Pilot einen merkwürdigen nervösen, vielleicht neurotischen Eindruck machte. Das Flugzeug wirkte fremdartig und erregend.
Trotz dieser stimulierenden Beobachtung war ich völlig überrascht von dem, was dann eintrat: Die Turbinen wurden angelassen. Sofort fing die Luft um die Maschine, vor allem hinter den Tragflächen, an zu zittern,
zu schwingen, zu vibrieren und zu tanzen. Stärker als das Flimmern
über einem Kornfeld im Sommer, offensichtlicher, eindringlicher. Durch diese pulsierende Luft gesehen, erschien alles wie Artikulation von Kraft.
Nach dem Lärm, in die Stille hinein, leise, aber fest:
Ja,
ich wünsche mir eine weitere Welt.
Soll ich mir eine engere wünschen?
0.
Eine Autotür wird zugeschlagen. Man hört einen startenden Motor, dann Stimmen aus einem Autoradio. Immer wieder wechseln die Frequenzen.
Bei Kriegsende wurde ich in Schleswig-Holstein entlassen. Ich hatte noch nie das Meer gesehen und beschloß deshalb, nicht sofort südwärts nach Hause zu gehen, sondern nach Westen zur Küste.
Von der Ausstellung ZERO on Sea hast Du gehört …unglaublich morgen werde ich mit Piene dort sein und alles Nähere besprechen. Wenn alles wahr ist: was meinst du?
… zwischen Bewegung und Reglosigkeit gibt es diesen nicht wahrnehmbaren Moment …an dem das Bewegte bereits stillsteht …an dem das Ende mit dem Anfang beginnt.
Kriegsbedingt war ich evakuiert worden und mitten auf dem Land gelandet.
Schnell geht es an einem Wald vorbei. Hier verschieben sich statische Gegenstände voreinander wie hintereinander.
Ich erinnere mich, dass ich als Kind versuchte, meinen Kopf zwischen die Gitterstäbe eines Geländers zu schieben und ich bekam ihn nicht zurück.
Autobahnbrücke. Geländer. Zwei vertikale Stahlreihen verschieben sich voreinander. Sie schwingen wie gezupfte Saiten eines Instruments.
Durch eine Summe von widrigen Umständen, dauerte es Tage, ja eine Woche bis ich nach Glücksstadt kam, wo zwar nicht die Küste, aber doch die Elbe ist.
Vielleicht können wir das Meer färben und den Strand.
Scheinwerfer können wir sicher bekommen für Lichtsäulen in der Nacht. Was denkst du?
Kriegsbedingt war ich evakuiert worden und mitten auf dem Land gelandet.
Ich erinnere mich …
Stillstand gibt es nicht.
Ich erinnere mich …
Man müßte auf dem Meer gehen können, auf einer Haut von Silber. Das wäre was für dich. Was denkst du?
Ich erinnere mich …
Es wäre gut eine Rakete von der NATO dort zu haben und diese zu verändern, zu humanisieren. Eine gute Idee einen Panzer rosa zu streichen, besser eine Stalin-Orgel, und ein Manöver mit Kriegsmaschinen zu machen. Was kann man tun, dass hier deutlich wird, dass es ein Lebensfest wird?
Ich erinnere mich …
Die Inseln bewegen sich, oder die Erde bewegt sich und die Inseln stehen, stehen in der Umdrehung. Das kann man mit Akustik machen. Was denkst du?
Feuerflöße. Brillen für die Sonne, nicht gegen sie. Was denkst du?
Ich erinnere mich …
Wie denkst du?
Bibliographie:
ZERO aus Deutschland 1957 bis 1966. Und heute, Ausst.-Kat. Villa Merkel, Galerie der Stadt Esslingen, hrsg. von Renate Wiehager, Ostfildern-Ruit 2000.
Otto Piene und Heinz Mack, „dynamo“, in: nota, studentische zeitschrift für bildende Kunst und Dichtung, Heft Nr. 4, S.3-4.
Heinz Mack, Ausst.-Kat. Kunstpalast Düsseldorf, hrsg. von Heike van den Valentyn, Köln 2021.
Otto Piene, 10 Texte, München 1961.
ZERO. Die internationale Kunstbewegung der 50’er und 60’er Jahre, Ausst.-Kat. Martin Gropius Bau, Berlin, hrsg. von Stedelijk Museum Amsterdam, ZERO foundation, Düsseldorf, Köln 2015.
Günther Uecker, „Aus an einem Brief an Mack 1965“, in: Günther Uecker, Ausst. -Kat. Kestner-Gesellschaft Hannover, hrsg. von Wieland Schmied, St. Gallen 1972, S. 40-41.
Projektbeschreibung KunstLichtKunst, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.V.140_4.
Endnotes
R Rot
Monochrom (Rhythmus und Phänomen)
Matthieu Poirier
Dieses Stakkato wird von Künstlerinnen und Künstlern, die einen ähnlichen Ansatz wie Klein verfolgen, etwa Heinz Mack oder Jesús Rafael Soto, oft als Flach- oder Hochrelief ausformuliert, in Abhängigkeit von einer möglichen vertikalen Plastizität (Volumen). Diese Künstler wollten das unbewegte Objekt in ein Medium der Erfahrung verwandeln und erforschten die Variationen von Ton, Licht, Schatten und Tiefe, wodurch sie neue Wahrnehmungsmodi stimulierten, wie die [freie] Bewegung des Betrachters, die oft der einfachen [motorgetriebenen] Bewegung eines Kunstwerks vorgezogen wurde. Die in diesem Kontext entwickelte visuelle Erfahrung lehnt die komplexen Farbvariationen ab, die in der abstrakten Kunst nach 1910 zur Entfaltung kamen.
Der künstlerische Ansatz von ZERO ist höchst rhythmisch, vibrierend und verzeitlicht. Damit begünstigt er eine De-Hierarchisierung der Werkbestandteile, was eine umfassende künstlerische Umwälzung bedeutet, deren zentrales Element die Abkehr von der Polychromie ist.
Innerhalb des weiter gefassten Kontexts von Op-Art und perzeptueller beziehungsweise kinetischer Kunst situieren sich diese Werke in der Echtzeit und dem Wirklichkeitsraum einer aktiven Wahrnehmung, sie entfalten sich dort in vivo, das heißt innerhalb des lebendigen Organismus des Betrachtenden, der somit zu einem eigenständigen Medium wird und dessen begriffliche Bestimmung folglich verändert, erforscht und kritisch hinterfragt werden kann. Wo diese „Metastrukturen“ (Heinz Mack) über ihrem materiellen Dispositiv schweben und zu reinen Vibrations- und Lichtphänomenen außer Reichweite und Kontrolle werden, werden wir zugleich Zeugen einer Befreiung der Pigmentfarbe von ihrem festen Träger.

Diese Bilder und weitere monochrome Reliefs, die im Rahmen von ZERO entstanden, bieten sich dem Blick gleichermaßen dar, wie sie sich ihm entziehen, sie erscheinen und verschwinden zugleich. Sie verweigern sich jeder Fixierung, und durch ihr ständiges Oszillieren stellen sie einen klaren Bruch mit der absoluten, stabilen und konstanten Präsenz dar, wie wir sie gerade von Kleins Werken kennen. Denn was hier zum Ausdruck kommt, ist vor allem eine im Kern konstruktivistische und dem Wesen nach kinetisch-dynamische Schwankung, die aber zugleich ihre eigene Materialität und deren sparsamen Umgang mit Kunstgriffen hervorhebt und sich dabei selbst in Gefahr bringt oder, anders ausgedrückt, sich entmaterialisiert. Obgleich Sotos und Macks Arbeiten auf der Höhe der Kognitionswissenschaften, der Gestalttheorie und der damals rasant sich entwickelten Informationstheorie waren, folgten sie doch dem Anspruch, für das Bewusstsein unmittelbar zugänglich zu sein, unvermittelt durch visuelle oder textuelle Referenzen. Diese Logik entfaltet sich in zahlreichen Variationen, die alle eher auf Wiederholung und Progression denn auf klassischer Gestaltung beruhen. Entscheidend ist an dieser Stelle das Verhältnis der Ununterscheidbarkeit von Grund und Gestalt: Es generiert bei der kleinsten Veränderung des Betrachterstandpunktes einen visuellen Moiré-Effekt, wogend und wechselnd. Bereits 1953 nahm Soto allerdings Abstand von seinen zweidimensionalen Gemälden, die sich später im Übrigen als einzigartige Vorwegnahme der in den 1960er-Jahren populären Op-Art erwiesen, um sich konsequent Werken mit einer räumlichen Komponente zu widmen, vom vorspringenden Relief eines einfachen Gitters bestehend aus zahlreichen vertikalen schwarzen und weißen Linien bis hin zu „betretbaren“ Installationen, seinen Pénétrables. Innerhalb dieser Räume spielte die Monochromie recht früh eine wichtige Rolle, ebenso wie in seinen zahlreichen Installationen, die vom Künstler selbst oft als „virtuelle Volumen“ bezeichnet wurden und aus farbigen Stäben oder Fäden bestehen, die sich in der Art eines „Regenschauers“ nach unten ergießen. In diesen schwebenden, kaum greifbaren Fluten begegnen sich die außerordentliche Einfachheit der materiellen Wirklichkeit und die schwer fassbare Komplexität der immateriellen Wirkung, aber auch die Neutralität der – monochromen – Einzelfarbe und die rhythmische Unbeständigkeit der Vibration. Denn bei Soto ist das Werkerlebnis nie starr und festgelegt: Es vollzieht sich in einer realen Dauer und in einem echten Raum, die beide der [physischen] Wahrnehmung des Monochroms entsprechen. Und im Gegensatz zu seinem Freund Klein strebt Soto danach, die Pigmentfarbe vom festen Träger des flachen Bildes zu lösen, um sie in den Rang eines reinen Lichtphänomens zu erheben, und zwar nicht mehr nur konzeptuell, sondern vollkommen „perzeptuell“.

Schon in Sotos frühen Pariser Jahren lassen sich bestimmte Einflüsse ausmachen, etwa jene von Piet Mondrians Neoplastizismus oder Laszló Moholy-Nagys Theorien über Licht und Transparenz, dargelegt in seinem Buch Vision in Motion (1947) – welches Soto sich anlässlich einer für Dezember 1952 in der Galerie Arnaud anberaumten Ausstellung des einstigen Bauhaus-Professors beschafft hatte, um es vollständig übersetzen zu lassen. Ebenfalls erwähnte Soto, dass seine Ablehnung von Komposition – auf der selbst noch die Architektur einer monochromen Uniformität aufbaut – und seine Verwendung repetitiver Systeme auf den Einfluss von Pierre Boulez’ serieller Musik und Zwölftontechnik sowie seine eigene Lektüre von René Leibowitz’ Buch über Arnold Schönberg[i] zurückging.
[i] René Leibowitz, Schoenberg et son école: l’étape contemporaine du langage musical, J.B. Janin, Paris 1947. (Englische Fassung: Schoenberg and His School: The Contemporary Stage of the Language of Music, Philosophocal Library, New York 1949).
„Mein Interesse galt jenen Werken, die den Geist des Bauhauses atmeten, und bei Klee interessierten mich diejenigen, die nach einem multiperspektivischen Standpunkt strebten“[i]
[i] Jesús Rafael Soto im Gespräch mit Claude-Louis Renard, „Excerpts from an interview with Soto“, in: Soto: A Retrospective Exhibition, Ausst.-Kat. Solomon R. Guggenheim Museum, New York 1974, S. 26–27.
,äußerte Soto 1974 über seine frühen Leidenschaften. Und tatsächlich, selbst da, wo die Materialien seiner Werke Systemen gehorchen, scheinen sie sich je nach Blickrichtung zu verändern oder in Schwingung zu geraten, während sie beim Betrachtenden gleichzeitig eine motorische Reaktion auslösen. Anders als der Wind bei Alexander Calder oder die Elektrizität bei Jean Tinguely ist bei Soto der Mensch selbst die treibende Kraft, ohne dass er das Objekt dabei berühren müsste. Diese Eigenschaft seines Werks, die man als „dynamogen“ bezeichnen könnte, wurde zu der Zeit, als sie sich entwickelte, nicht verstanden – auch nicht bei anderen Künstler*innen, etwa Heinz Mack, Julio Le Parc oder Bridget Riley. Man muss sich vor Augen halten, dass Soto seit den 1960er-Jahren weithin als Held eines entweder als „kinetische Kunst“ oder als „Op-Art“ bezeichneten Ansatzes gefeiert wurde. Darauf bedacht, die Eigenständigkeit seines Werks zu betonen, widersetzte sich der Künstler dieser zweiten Zuschreibung allerdings regelmäßig, da diese implizierte, sein Spiel mit traditionellen Effekten sei auf die Ebene der Malerei beschränkt. Sotos Schaffen folgt jedoch einem Ansatz, den William Seitz als „perzeptuelle Abstraktion“ bezeichnet, womit eine Form nicht-figurativer Kunst mit phänomenologischen Ansätzen gemeint ist, die die raumzeitliche Wahrnehmung als ein eigenes Medium versteht.[i]
[i] Diese Begriffe stehen im Mittelpunkt meiner Doktorarbeit über optische und kinetische Kunst (Université Paris IV-Sorbonne, 2012) sowie der Ausstellung Dynamo. Un siècle de lumière et de mouvement dans l’art. 1913–2013 in den Galeries nationales du Grand Palais (2013), deren Kurator ich war (in Zusammenarbeit mit Serge Lemoine, Commissaire général, sowie Domitille d’Orgeval und Marianne Le Pommeré, Commissaires associées).
Im begleitenden Katalog zur Ausstellung des Künstlers im ARC – Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris 1969 findet sich ein Beitrag, in dem der Kunstkritiker Jean Clay die hochgradig spirituelle Dimension der vom Künstler betriebenen „radikalen Entmaterialisierung“ betont.[i]Damit greift er Kasimir Malewitschs Worte auf, dessen Gemälde Suprematistische Komposition: Weiß auf Weiß (1918), eine Ikone der monochromen Malerei, das Werk des Venezolaners nachhaltig beeinflusst hat.
[i] Der Autor knüpft darin an seine Ausführungen im Katalog zu Sotos Einzelausstellung in der Galerie Denise René im Jahr 1967 an.
Mehr als fünfzig Jahre vor Soto hatte der konstruktivistische Maler den theoretischen Rahmen angegriffen, der seiner Ansicht nach die damals noch sehr junge abstrakte Malerei beherrschte:
„Nun“, so Clay, „erfüllt sich [Malewitschs] Prophezeiung aus dem Jahr 1919: ,Wer abstrakte Konstruktionen macht und sich auf gegenseitige Farbbeziehungen innerhalb des Bildes beruft, der ist noch in der Welt der Ästhetik verfangen, statt in die Philosophie einzutauchen‘.“[i]
[i] Kasimir Malewitsch, zit. in: Jean Clay, „Soto. Itinéraire. 1950–1959“, in: Soto, Ausst.-Kat. Musée d’Art moderne de la Ville de Paris, Paris 1969, o. S.
Von der radikalen Abstraktion des Konstruktivisten Malewitsch bis hin zu jener des Kinetikers Soto, der 1950 nach Paris zog – es geht immer darum, der Logik des geschlossenen Bildes zu entkommen: Das Werk sollte „offen“ sein, um den von Umberto Eco – insbesondere in Bezug auf die kinetische Kunst – benutzten Ausdruck zu verwenden. Die ultimative Verkörperung dieses Ansatzes scheint Clay in Sotos Pénétrables (ab 1967) zu sehen. Dabei handelt es sich um Installationen aus transluzenten und meist monochrom gefärbten Nylonröhren, die, wie oben erwähnt, Regenschauern ähnlich nach unten hängen. Die Besucher*innen können sich darin frei bewegen und sind dabei ununterbrochen in Berührung mit dem Werk.[i] Clay stellt diesen Ansatz als eine wichtige Weiterentwicklung des „ambivalenten Raums“ dar, der sich in den frühen Plexiglasreliefs der 1950er-Jahre bereits abgezeichnet hatte. Die bescheidenen Dimensionen der älteren Arbeiten stellen jedoch kein Hindernis für diese visuelle und räumliche Wirkung dar. Im Gegenteil, so Jean Clay, erzielt Soto
[i] Soto hatte die Idee für eine Pénétrable-„Wasserversion“, ein Aquapénétrable, bei dem tausende kleine Wasserstrahlen die transluzenten Röhren ersetzen sollten; er hatte auch eine Version mit Dampf im Sinn, ein Dampfpénétrable „für kalte Länder“(diese Werke wurden nicht realisiert, aber Skizzen von ihnen wurden 1969 in der Zeitschrift Robho abgedruckt).
„durch das Spiel der unterschiedlich geneigten Streifen erstaunliche Effekte einer ungleichen Schwerkraftverteilung, als ob jede Ebene der Atmosphäre eines anderen Planeten angehörte, als ob jede Streifenserie den Gesetzen der universellen Anziehungskraft auf andere Weise gehorchte […]. Ein Schritt zur Seite, und schon setzt sich ein komplettes Spiel divergierender Schwebezustände in Bewegung, welche das beunruhigende Gefühl vermitteln, in diesem Mikroraum würden synchron gegensätzliche physikalische Gesetze gelten, die Soto gekonnt in die Falle gelockt hat.“[i]
[i] Clay 1969 (wie Anm. 5).
Es geht also um die psychophysiologische (und nicht die imaginäre) Erfahrung einer monochromen Schwerelosigkeit, um ein Universum, durchdrungen von „nicht-euklidischen“ Kräften, die sich den physikalischen Gesetzen und insbesondere einem rationalen Verständnis entziehen.
Die Kunstschaffenden sahen sich gezwungen, mit ihren Werken auf dieses neue, multidimensionale Regime visueller Erfahrung zu reagieren. Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre verschrieben sich viele Künstler*innen, die im Umfeld von ZERO ihre Kunst weiterentwickelten, ebendiesem Anliegen, und zwar nicht mehr auf der Ebene der Malerei und einer Welt der Bilder, sondern in der zeitlichen und räumlichen Wechselwirkung der lebendigen Erfahrung.
Doch diese Ausweitung ins Mehrdimensionale, die manche vielleicht als „barock“ bezeichnen würden, verlangt kontrapunktisch nach einer beispiellosen Reduktion, sowohl in Bezug auf die Farbe als auch auf das Trägermaterial. Oftmals entsteht das monochrome Phänomen auf der Oberfläche einer Leinwand, eines bemalten Holzbretts oder einer Metallplatte. Darüber hinaus steht das kinetische oder perzeptuelle Monochrom durch das unaufhörliche Pulsieren seines Blickregimes in einem einzigartigen Resonanzverhältnis zum Begriff des „Trüben“ bei Goethe.[i]In dessen Schriften ist zu lesen:
[i] Zur Frage der Übersetzung von Goethes Terminologie im Französischen vgl. Maurice Élie, Lumière, couleurs et nature. L’Optique et la physique de Goethe et de la Naturphilosophie, Paris 1993.
„Wenn nun die Trübe die verminderte Durchsichtigkeit und der Anfang der Körperlichkeit ist; so können wir sie als eine Versammlung von Ungleichartigem, d. h. von Undurchsichtigem und Durchsichtigem ansprechen, wodurch der Anblick eines ungleichartigen Gewebes entspringt, den wir durch einen Ausdruck bezeichnen, der von der gestörten Einheit, Ruhe, Zusammenhang solcher Theile, die nunmehr in Unordnung und Verwirrung gerathen sind, hergenommen ist, nämlich trübe.“[i]
[i] Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, 5. Bd., I, Weimar 1897, S. 395f.
Maurice Élie weist darauf hin, dass Goethe diese trüben Mittel in jenem Kapitel seiner Abhandlung untersucht, das sich mit den physikalischen Farben der „ersten Klasse“ befasst, das heißt den Farben, die durch die Kombination von Licht und Dunkelheit, mittels Dunst, Nebel oder Rauch, entstehen.
Aufgrund ihres Charakters als zwischengeschaltetes Mittel ist die Trübe gleichzeitig transparent und opak. Sie ist dazu fähig, ein Moment des Gleichgewichts zwischen Sein und Nichts, zwischen der vibrierenden Einheit des lichtchromatischen Feldes und der chaotischen Beweglichkeit seiner Elemente darzustellen. Zahlreiche Werke, die dieser dynamischen Interpretation des Monochroms entsprechen, vereinen auch die atmosphärischen Eigenschaften des Diaphanen in sich, wie sie Aristoteles in seinen Meteorologica formuliert:
„[…] wie die Sonne, die an sich weiß erscheint, durch Nebel und Rauch gesehen aber rot“.[i] In seinen Kleinen Schriften zur Naturgeschichte erfasst Aristoteles zudem sehr früh den schwebenden, vermittelten und zugleich körperlichen Charakter der lichtchromatischen Präsenz: „Die Natur des Lichts“, sagt er, „ist nun in einem unbegrenzten Durchsichtigen [Diaphanen]. Dass nun das Durchsichtige [Diaphane] in den Körpern ein Äußerstes haben muss, ist allen einleuchtend; dass dieses aber die Farbe sei, ist aus den Vordersätzen ergeblich. Denn die Farbe ist entweder in der Grenze, oder selbst die Grenze.“[ii] Bei Soto tritt die Einzelfarbe nur als unbestimmte Streuung auf, in die dann der Blick eintauchen kann. Wie in einem gedanklichen Vorgriff auf Sotos Reliefs, Volumen und Pénétrables stellt darüber hinaus der Maler Franz Marc in seinen Aphorismen (1914) einen Zusammenhang zwischen bestimmten optischen Erkenntnissen und der Kunst her, und er unterstellt dem modernen Blick eine ähnliche Fähigkeit, das Sichtbaren zu durchdringen, auch wo dieses vollkommen konkret und opak ist:
[i] Aristoteles, in der Übersetzung Goethes, in: Johann Wolfgang Goethe, Werke, Bd. XIV: Naturwissenschaftliche Schriften, Hamburg 2005, S. 26.
[ii] Aristoteles, in der Übersetzung Goethes, in: ebd., S. 25.
„Die kommende Kunst wird die Formwerdung unserer wissenschaftlichen Überzeugung sein. Wir zerlegen heute die keusche, immer täuschende Natur und fügen sie nach unserem Willen wieder zusammen. Wir blicken durch die Materie, und der Tag wird nicht ferne sein, an dem wir durch ihre Schwingungsmasse hindurchgreifen wie durch Luft. Stoff ist etwas, das der Mensch höchstens noch duldet, aber nicht anerkennt. Die alte Welt-Anschauung hat sich in Welt-Durchschauung verwandelt. Kein Mystiker erreichte in seinen entzücktesten Stunden, in denen er den Himmel offen sah, die vollkommene Abstraktion des modernen Denkens, sein Schauen durch und durch.“[i]
[i] Franz Marc, „Aphorismen“ (1914), zit. in: Georg Schmidt und Robert Schenk (Hg.), Kunst und Naturform, Basel 1960, S. 27.
Die begehbaren Installationen Sotos zeigen, dass er ein befreites Sichtfeld und zugleich ein freies Bewegungsmoment bevorzugt; mit einem Betrachtenden, der sich sein eigenes Szenario wählt, einem Tanzenden ohne Choreografie, der sich verliert – zumindest so lange, bis er eine solche dort sensorisch und sozial wiederfindet, das Objekt [die Installation] um sich vergessend.
Es ist möglich, dass die Werke verwirrend wirken, da sie sich in ihrem Aufbau als gleichermaßen minimalistisch wie schwer greifbar erweisen, wenn man sich ihnen in vivo nähert. Das Auge – aber in Sotos Pénétrables manchmal auch der Körper – wird auf subtile Weise aufgehalten und kann endlos in den atomisierten Räumen umherirren, ständig zwischen Volumen und Ebene, Objekt und Bild oszillierend. Ein ZERO-Monochrom ist, um es mit Henri Bergson zu sagen, ein Objekt, das niemand je in seiner Totalität gesehen hat und oder sehen wird, da es in unseren Wahrnehmungsraum eindringt, ohne sich jemals vollständig erfassen zu lassen. Ob als Wandrelief, freistehende Skulptur oder Environment, dieses monochrome Stakkato lädt uns zu einer einzigartigen, bei jeder Betrachtung neuen Erfahrung ein: nämlich zu der Feststellung einer Unvollständigkeit, eines räumlich-zeitlichen Kontinuums, dessen getreue Schilderung und bildnerische Darstellung stets versagt bleiben.
Auf seiner Visitenkarte bezeichnet sich Heinz Mack als „Bildhauer und Maler“. Wichtig ist dabei die Reihenfolge der Begriffe: Sie gibt der Bearbeitung von Materie im Raum den Vorrang vor der Herstellung von Bildern auf der gemalten Oberfläche. Mit anderen Worten: Selbst die Leinwände, die der Künstler ab Mitte der 1950er-Jahre auf einen Keilrahmen spannte, lassen sich aufgrund des üppigen pastosen Materialauftrags dem kunsthistorischen Grenzbereich zwischen Malerei und Skulptur, dem Relief, zurechnen. Dieses manifestiert sich in einem unaufhörlichen Spiel mit der Wahrnehmung von Licht und gegebenem Raum. Das Spiel der Reflexionen scheint die Materie darin regelrecht zu verzehren, das Kunstwerk besteht allein aus einer gedoppelten Bewegung des Erscheinens und Verschwindens. Wir haben es hier mit einem Paradoxon zu tun, das sich zwischen der Evidenz der materiellen Gegebenheiten und der Komplexität ihrer Wirkungen entfaltet und das untrennbar mit der Geschichte der kinetischen und perzeptuellen Kunst verbunden ist, zu deren wichtigsten Akteuren Heinz Mack zählt. Eine ähnliche Spannung lässt sich auch bezüglich der Laufbahn des Künstlers konstatieren: Betrachtet man sie nur aus einem starren Blickwinkel oder aus einer Perspektive, wird man ihr nicht gerecht.
Die lyrische Abstraktion, mit der sich Mack Anfang der 1950er-Jahre näher auseinandersetzte, schien ihm damals wegen ihrer lebhaften Vielfarbigkeit und ihrer vermeintlich „freien“ Gestik zu sehr der Geschichte der Malerei verpflichtet zu sein. Bei den meisten mit ZERO verbundenen Künstler*innen tauchten immer wieder die Fragen des Reliefs und des „monochromen Ideals“ auf. Mack etwa zielt darauf ab, innerhalb des realen Raums und der realen Zeit eine einzelne Farbe zu entfalten. Mit anderen Worten: Mack knüpft an die älteste Definition des Wortes „Grisaille“ an, indem er sich jeweils auf nur eine Farbe beschränkt – vorzugsweise Weiß, Schwarz oder Grau, abwechselnd und in verschiedenen Wiederholungen –, ohne dabei jedoch ein Relief zu simulieren, sondern vielmehr auf illusionistische Weise, indem er die Möglichkeiten der Perspektive nutzt (Dynamische Strukturen) oder, was seltener vorkommt, andere Farbtöne wie Rot (Ohne Titel, 1957–1958), Blau (Vibration im Blau, 1959) oder Halbtöne (Ohne Titel, 1957–1958) einsetzt. Sein ästhetisches Projekt des Jahres 1958 ist äußerst präzise definiert: „Ich gebe der Farbe eine Vibration, d. h. ich gebe der Farbe eine Struktur, oder: Ich gebe der Farbe ihre Form. Von Formbildung im bisherigen Sinne kann keine Rede mehr sein.“[i]
[i] Heinz Mack, „Die neue dynamische Struktur“, in: ZERO 1, Düsseldorf 1958, o. S.

In Macks Metallreliefs oder Lichtreliefs ist die anhaltende Dialektik zwischen Ordnung und Chaos, Gitter und Wolke, Materie und Licht entschieden abstrakt. Wie übrigens auch in den Sandreliefs kommt in diesen Werken das Wirken der natürlichen Elemente – des Lichts, des Windes und des Regens in den Weiten der Gewässer oder Wüsten – zum Ausdruck. In diesem Zusammenhang ist die Verbindung von Heinz Mack und Yves Klein zentral. Nach ihrer ersten Begegnung im Jahr 1956 entwickelte sich eine intensive Freundschaft, und es ergaben sich zahlreiche Kooperationen, eine Verbundenheit, die erst mit Kleins Tod im April 1962 zu Ende ging. Kleins Beitrag zur Geschichte des Monochroms mit tragischem Ausgang fand in der Folge rasch Anerkennung. Macks Beitrag zu dem Genre hingegen, der zwar aus der gleichen Zeit stammt, sich aber auch deutlich von Kleins Ansatz unterscheidet, erhielt von der Kunstgeschichtsschreibung lange Zeit nicht die Aufmerksamkeit, die ihm gebührt. In seinen schwarzen Bildern, deren Materialität mit dem Licht spielt, etwa Ohne Titel (1957–1958), versuchte Mack, die Variation eines sich wiederholenden Rhythmus auf die Malschicht zu übertragen. Unzählige Zufälle und Unregelmäßigkeiten, Offbeats ähnelnd, sind Teil dieses Stakkatos, wo Klein eine Art kontemplative Beständigkeit bevorzugte. Diese zahlreichen Mikro-Brüche gehen auf den freihändigen Schaffensprozess zurück, den Mack für notwendig hält, um das Ornament zu vermeiden. Diese radikale Serie – die im Übrigen die Outrenoirs von Pierre Soulages vorwegnahm, mindestens aber zeitgleich mit diesen entstand – steht seinen Sandreliefs nicht fern, welche mit einer regelmäßigen Abfolge von Vertiefungen und Vorsprüngen sowie einer körnigen Oberfläche versehen sind – Spuren eines einfachen Stiftes oder eines gezackten Lineals, von denen der Künstler übrigens mehrere Modelle hergestellt hat, je nach Format des Werks und des Rhythmus, den er diesem aufprägen wollte. Man denkt bei derartigen Werkzeugen üblicherweise an Skulpturen, hier kommen sie allerdings als Ersatz für Malerpinsel und -messer zum Einsatz.
Das Gesamtergebnis dieses Vorgehens erinnert natürlich an die pulvrige Oberfläche der IKB-Monochrome Kleins oder an die plissierten und dann bemalten Textilien von Piero Manzonis Achromes Aber durch ihren dynamischen Anteil, das Spiel mit Licht und Schatten, unterscheiden sich Macks Arbeiten, ebenso wie durch die Rolle, die er dem Zufall zugesteht, wie zum Beispiel in einem eigentümlichen horizontalen Relief mit dem Titel Sahara-Sandtisch (1972).
Dieses Werk besteht einfach aus trockenem Sand, den der Künstler von einem Aufenthalt in der Wüste mitgebracht und dann in einen Plexiglaskasten gefüllt hat, dessen Aussehen sich mit jeder Verlagerung und jeder Kippbewegung verändert. Es stellt nicht nur ein offenbar in den Bereich der Kunst überführtes Fragment der Wüste dar, sondern zugleich die nie enden wollende Wandelbarkeit der Gestalt dieser Wüste.
Neben dem feinsinnigen Verweis auf die Wüste, deren Sand-Entnahme das Werk materiell ausmacht, stellen auch die Aluminiumarbeiten einen wichtigen Schritt dar in Macks Auseinandersetzung mit der Monochromie. Dabei prägt der Künstler das Aluminium händisch mit Stift und Lineal – anschließend wird das Blech zum Stabilisieren auf einer Holzplatte befestigt.
„Ich sah nämlich nicht mehr das Metallrelief, sondern stattdessen eine flirrende, vibrierende Rasterstruktur aus Licht“, so der Künstler, „und diese Struktur schien über dem Metallrelief zu schweben, sie hob sich von ihm ab, so wie bei starker Sonneneinstrahlung die Lichtreflexe auf dem Meer zu zittern beginnen wie ein Lichtteppich aus tanzenden Lichtreflexen.“[i]
[i] Heinz Mack, zit. in: Yvonne Schwarzer, Das Paradies auf Erden schon zu Lebzeiten betreten. Ein Gespräch mit dem Maler und Bildhauer Heinz Mack, Witten 2005, S. 15.
Diese Schilderung zeugt wie viele andere von der außerordentlichen Faszination des Künstlers für das Licht, das der Kunsthistoriker Dieter Honisch als vollwertigen Protagonisten ansieht. Er führt diese Metallreliefs genealogisch auf den Impressionismus und Neoimpressionismus zurück und stellt in diesem Zusammenhang fest:
„Er [Mack] malt das Licht nicht ab, sondern er zwingt es, sich selbst darzustellen, mitzuwirken an der Herstellung einer bestimmten optischen Qualität. In diesen Lichtreliefs scheint das Licht gebündelt, konzentriert, verstärkt, überhöht, intensiviert, kurzum: von einer sonst nicht wahrnehmbaren Faszinationskraft.“[i]
[i] Dieter Honisch, Mack. Skulpturen 1953–1986, Düsseldorf und Wien 1986, S. 12.
Um es anders auszudrücken: Mack zielt darauf ab, die wellenförmige, rhythmische und vibrierende Essenz des natürlichen Phänomens Licht durch eine Matrix zu verstärken, die allerdings sehr physisch, materiell und konkret ist. Während László Moholy-Nagy den raumzeitlichen Einsatz seines Licht-Raum-Modulators (1922–1930) noch als Komposition auffasste, führt Mack seine Skulptur an die Grenzen der Vereinfachung, der formalen Reduktion, hin zu einer paradoxen Form der Derealisation. Das Auge verfängt sich in den geheimen Windungen des Dispositivs, verstrickt sich in dessen optischen Netzen. Denn Mack beschränkt sich nicht nur auf den Einsatz von Einzelfarben, beziehungsweise der „Nichtfarben“ Schwarz, Weiß und Grau, deren Verwendung Piet Mondrian eingefordert hatte, da diese, wie er meinte, neben allen Farbwerten bestehen könnten.
In einigen früheren Arbeiten, wie der erstaunlichen Zeichnung auf Papier, die Mack in seinem ersten Jahr an der Kunstakademie Düsseldorf angefertigt hat (Ohne Titel, 1950) und die lediglich aus einer horizontalen Abfolge gezackter Linien besteht, manifestiert sich bei Mack erstmals die monochromatische Struktur, die der Künstler von da an vielfach weiterentwickeln sollte. Mit diesem eigentümlichen Anklang an die Grisaille skizziert Mack ein Stakkato-Motiv, in dem sich seine Kombination aus formaler Reduktion und phänomenaler Entfaltung eines monochromen und zugleich „offenen“ Werks bereits ankündigt, welche bald in ein Kontingenz- und Abhängigkeitsverhältnis zu einem variablen Kontext – etwa den sich wandelnden räumlichen Bedingungen und Lichtverhältnissen oder der unvorhersehbaren Fortbewegung der Betrachter*innen – treten sollte. Diese Entwicklung eines veränderlichen Erscheinungsbildes geht bei Mack mit ausgeprägten Landschaftsanklängen, einer Suche nach dem Erhabenen und einer nicht zu leugnenden romantischen Haltung einher. Mit dieser Haltung scheint der Künstler an Piet Mondrians frühe Experimente aus den 1910er-Jahren anzuschließen, die diesen vom Landschaftsbild zu einer radikalen Abstraktion geführt hatten, insbesondere in Komposition 10 in Schwarz und Weiß – Pier und Ozean (1915). Darauf ist eine luftige Form mit unklaren Konturen zu erkennen, die überwiegend aus feinen, im Himmel angeordneten horizontalen und vertikalen Strichen besteht. Diese Dialektik zwischen essentialistischer Geometrie und atmosphärischer Entropie findet sich auch in Macks Metallreliefs ab 1958 wieder, wie zum Beispiel in seinem Lamellen-Relief oder dem ziemlich explizit betitelten Das Meer I – Licht-Relief, beide aus dem Jahr 1963. Die Steigerung und die nicht vorhersehbare Veränderung ihrer Lichtreflexe sorgen dafür, dass diese Werke wechselweise wie materielle Objekt und dann wieder buchstäblich wie schimmernde Wolken anmuten, wodurch jene Motive, die der niederländische Maler einst in Öl auf Leinwand gemalt hat, in eine im wörtlichen Sinne „phänomenale“ und verräumlichte Dimension überführt werden.
Dieser Dialog zwischen einer dauerhaften Struktur und der wechselhaften Dynamik der natürlichen Elemente entspricht dem Landschaftsgenre. Allerdings handelt es sich hier nicht um Landschaft im klassischen Sinne mit Bäumen und Menschen, wie wir sie von der flämischen Malerei des 17. Jahrhunderts kennen, sondern um eine Landschaft ohne Orientierungspunkte, um wüstenartige Weiten – bestehend aus Wasser oder Mineralien, in arktischen Gefilden oder in der Sahara –, Letzteres ein Projekt, mit dem sich der Künstler ab 1959 auseinandersetzte. Jene unwirtlichen Flecken Erde, die von den Kräften der Natur geformt werden – aufgetürmte Dünen, Gletscher und durchscheinende Eisberge –, machte der Künstler kurzerhand zu einer Art Rahmen für die Präsentation seiner Werke, wodurch er ein Wegbereiter für die amerikanische Land-Art im Allgemeinen und für einen Künstler wie Robert Smithson im Besonderen wurde.[i] Ähnliches gilt für die faszinierenden Fotocollagen Macks, die an die aus der gleichen Zeit stammenden Werke von Archigram oder von Hans Hollein denken lassen. In diesen überträgt der Künstler die Abbildungen seiner eigenen Skulpturen in eine natürliche Umgebung, wobei er mit den Maßstäben spielt und zugleich die Spuren seiner „Fälschung“ deutlich sichtbar belässt, etwa in seinem Entwurf für eine Lichtpyramide (1964), auf dem eine Edelstahlskulptur zu sehen ist, bestehend aus sechs Dreiecken, die einfach in der Mitte gefaltet und von klein nach groß hintereinander angeordnet sind. Die eingesetzten Mittel sind so dürftig, wie der Zweck im ursprünglichen Sinne des Wortes phänomenal ist: Licht und Reflexionen werden von der Skulptur eingefangen und zurückgeworfen, wodurch diese fast verschwindet, während sich die Pyramiden, die wie Messer geschliffen scheinen, zugleich majestätisch und bedrohlich im Raum entfalten. Wie bei seinen Stelen, die mit ihren fein geprägten Oberflächen mit dem Sonnenlicht spielen – etwa den mit gelbem Blattgold überzogenen Stelen von The Sky Over Nine Columns (2013) oder der mit Weißgold verkleideten Silber-Stele (2012–2014) –, bietet Mack dem beweglichen Blick ein Modell dynamischer Monumentalität. Hier gewinnt das Wort „DYNAMO“, das ab 1957 immer wieder in den Ausstellungstiteln und Veröffentlichungen von ZERO auftauchte,[ii] eine besondere Bedeutung: Das Werk soll nicht nur „dynamisch“ sein, das heißt von einer inneren Kraft angetrieben, sondern auch „dynamogen“: Es soll beim Betrachter visuell eine motorische Reaktion hervorrufen und seine Wahrnehmungsmechanik in Gang setzen.
[i] Robert Smithson (1934–1973), von dessen Arbeiten in diesem Zusammenhang etwa die Yucatan Mirror Displacements (1969) zu erwähnen sind, machte mit Heinz Macks Werk höchstwahrscheinlich bereits 1964 Bekanntschaft, als im New Yorker Museum of Modern Art die Ausstellung The Responsive Eye vorbereitet wurde (das geht aus seinen Briefen an William Seitz, den Kurator der Ausstellung, hervor, die im Archiv des Museums hinterlegt sind).
[ii] Soto/Renard 1974 (wie Anm. 2).
Um 1870 versuchte sich Hippolyte Taine an der Beschreibung einer Grenze von Formwahrnehmung, die insbesondere bei übergroßer Anstrengung der Augen erreicht wird und an der Vorstellung und Wahrnehmung auseinanderfallen. Im Rahmen einer Untersuchung über die visuellen Bedingungen im Wahrnehmungsprozess und nachdem er ein „allgemeines Gesetz“ der Aufmerksamkeit umrissen hat, bezeichnet der Philosoph den Effekt, der durch eine „optisch-muskuläre“ Beeinträchtigung der Bewertung und räumlichen Zuordnung von Seheindrücken ausgelöst wird, als „Bewusstseinstäuschung“.[i] Seiner Meinung nach wird dann das Unsichtbare und das Flüchtige sichtbar, wenn die Anordnung der Elemente innerhalb des Gesichtsfeldes gestört ist. Taine führt seine Überlegungen am Beispiel einer Partitur aus, die vor dem geistigen Auge eines Musikers im Nachhinein zu einem „schwarzen Durcheinander“ wird: „[deren] Zeichen sind verschwunden, die Töne sind geblieben“.[ii] Diese „Töne“, die „geblieben sind“ und die vom Bewusstsein erzeugt (und eben nicht registriert) werden, entsprechen zu großen Teilen dem zerstreuten und wellenartigen Charakter der monochromen kinetischen Bilder. Es ist bemerkenswert, dass, würde man aus diesen Bildern nun wie aus einer Partitur Töne herleiten, der resultierende Klang an die zu jener Zeit aufkommende repetitive und serielle Musik erinnern würde. Das sensorische Erlebnis bleibt bei Mack nie nur Absichtserklärung oder bloßes Konzept. Der Wunsch des Künstlers, die Dynamisierung und Fragmentierung der modernen raumzeitlichen Erfahrung zu vermitteln, ist bei ihm in die konkrete Realität der Materialien eingeschrieben, in die unzähligen Spuren eines entschieden manuellen und handwerklichen Herstellungsprozesses, vom Pinselstrich bis zum Zuschnitt des Edelstahls. Ein anderer, möglicherweise primitiverer Aspekt der oben erwähnten „dynamogenen“ Qualität hat mit einem unerschütterlichen Glauben der „ZERO-Künstler*innen“ zu tun: dem Glauben, dass sich die physische Handlung, durch die das Werk entstanden ist, auf die Betrachtenden überträgt. Wenn diese visuelle Dynamik Macks gesamtes Werk durchzieht und oft mit jener verwechselt wird, die für eine kurze Zeit kennzeichnend für ZERO war, so deshalb, weil sie aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs hervorgegangen ist, aus der zwingenden Notwendigkeit, eine neue, anders geartete Welt aufzubauen als jene, die ihr vorausging. Dieser entmystifizierte und zugleich lichte Realitätsbezug befragt mit seinen eigenen Mitteln eine Moderne, die von dem manchmal überwältigenden Gefühl einer Intensivierung des Informations- und gesellschaftlichen Austauschs und einer Beschleunigung des Lebensrhythmus beherrscht ist. So drängt sich die Beschäftigung mit dem vibrierenden Monochrom, die mit ZERO begann, heute förmlich auf, weil es mit seiner anhaltenden Oszillation zwischen Bewegungslosigkeit und Beschleunigung, Materialität und Flüchtigkeit weiter unbeirrt eine kritische Haltung verkörpert.
[i] Hippolyte Taine, Der Verstand, Bonn 1880, S. 55.
[ii] Ebd., S. 55f.
Dieser Text wurde von Michael Ammann aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt.
Zum Thema "Rot"



Endnotes
S Struktur
ZERO 3+3
Iwona Dorota Bigos
Es ist keine Spitzfindigkeit, den Begriff von Struktur von solchen verwandten Vorstellungen zu trennen wie Ordnung, Form, komplexe Organisation, Gesamtheit, System oder Gestalt. Jeder historische Zeitabschnitt braucht und sucht ein zentrales Motiv der Verständigung. Struktur scheint für unsere Zeit zentral – die einzigartige Substanz unseres Sehens.“[i]
[i] Gyorgy Kepes, „Einleitung“, in: Struktur in Kunst und Wissenschaft (Reihe sehen + werten, Bd. 2), hrsg. von ders., Brüssel 1967, S. 10
Die Definition von Struktur ist vielfältig und kann auf verschiedenen Ebenen erklärt werden. Kurz gesagt ist sie ein Ganzes und zugleich eine Anordnung von Bestandteilen, die man als Strukturelemente bezeichnen könnte, welche in einem System gegenseitiger Beziehungen stehen. Dem Text ist ein Zitat aus dem Buch Struktur in Kunst und Wissenschaft vorangestellt, das als zweiter Band der Reihe sehen + werten erschienen ist. Es war der Versuch, die damals aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse und künstlerischen Visionen als ein komplexes Bild darzustellen und den Begriff der Struktur als das neue Ordnungsprinzip der damaligen Denkprozesse bekannt zu machen.
Im Kontext von „ZERO und Struktur“ erscheint diese Publikation wichtig, weil sie auch ein Bild der neuen wissenschaftlichen Entdeckungen um die Mitte des 20. Jahrhunderts aufzeichnet, darunter so folgenreiche wie die Entdeckung der DNA-Struktur 1953. Sie zeigt die Verbindungen zwischen Wissenschaft und Kunst, die für die damalige Kunst von großer Bedeutung waren und zur Anwendung neuer technischer Medien im künstlerischen Prozess führten. Nicht ohne Bedeutung für die damalige Kunstentwicklung war der Strukturalismus, der in dem Buch ebenfalls angesprochen wird.
Die Publikation entstand aus einer mehrjährigen Seminarreihe am Massachusetts Institute of Technology, Cambridge, MA an dem der Herausgeber und spätere erste Direktor des Center for Advanced Visual Studies (CAVS) György Kepes (1906-2001) lehrte. In dem Buch erschienen Texte von Wissenschaftlern, Technologen, Architekten und Künstlern, darunter Max Bill (1908-1994) und der Kunsttheoretikerin Margit Staber (*1931). Margit Staber verwendete als Bildmaterial zu ihrem Text unter anderen die Arbeiten Unistische Komposition 9, 1931, von Władysław Strzemiński (1893-1952) und Calme, 1960, von Otto Piene, auf die später noch mehrfach zurückzukommen sein wird.
Max Bill und Margit Staber waren auch die Autoren des Katalogs zur Ausstellung Konkrete Kunst. 50 Jahre Entwicklung, die 1960 im Helmhaus Zürich stattfand. Gerade auf der Suche nach der Verwendung des Strukturbegriffs im Werk der drei ZERO-Künstler Heinz Mack (*1931), Otto Piene (1928-2014) und Günther Uecker (*1930) erwies sich Stabers Hinweis, dass der Ursprung seiner Anwendung in der Entwicklung der konkreten Kunst zu suchen sei, als richtungsweisend. In dem Katalog schrieb sie Folgendes:

„aber die konzeption der konkreten kunst hat offensichtlich viel weiterreichende und tiefergehende wurzeln, sie hängt am begriff der struktur, der in den vorangegangenen ausführungen auch immer wieder hervortritt. struktur: zu verstehen als das bewusste ordnungsprinzip, das kontrollierte und kontrollierbare organisationsschema des gestaltungsvorganges. ungeometrische und amorphe formationen haben darin ebenso ihr recht wie die geometrischen und exakten elemente, die scharfe und die weiche kontur, sfumato oder punktuelle auflösung. diese prozesse führen einmal mehr in richtung der gestaltvorstellung, zum andern – und dies vor allem in den neuesten experimenten – zur sichtbarmachung der strukturellen organisation selbst.“[i]
[i] Margit Staber, „katalog dokumentiert von margit staber”, in: Konkrete Kunst. 50 Jahre Entwicklung, Ausst.-Kat. Helmhaus Zürich, hrsg. von Zürcher Kunstgesellschaft, Verwaltungsabteilung des Stadtpräsidenten, Zürich 1960, S. 9-57, hier S. 57.
In dieser bereits zweiten von Max Bill organisierten Ausstellung zur Entwicklung der konkreten Kunst wurden Werke von über hundert internationalen Künstlern und Künstlerinnen gezeigt, darunter Arbeiten von Heinz Mack, Struktur der Bewegung, 1960, Otto Piene, Rasterbild Calme, 1960, und Günther Uecker, Objekt Weiss, 1959, sowie von Władysław Strzemiński, Unistische Komposition 9, 1931, und Unistische Komposition 13, 1934. Laut Dieter Honisch (1932-2004) war diese Ausstellung die erste Gelegenheit für Günther Uecker, sich mit dem Konzept des Unismus und den Werken von Władysław Strzemiński auseinanderzusetzen.[i]Uecker indes behauptet, bereits in den 1950er-Jahren mit Willem Sandberg (1897-1984) über die Korrespondenz zwischen Strzemiński und Malewitsch (1879-1935) gesprochen zu haben. Seiner Aussage nach kannte er den Namen des polnischen Künstlers und Theoretikers bereits vor der Bill-Ausstellung.
[i] Vgl. Dieter Honisch, „O strukturze Günthera Ueckera“, in: Günther Uecker Struktury, Ausst.-Kat. Muzeum Sztuki w Łodzi, Łódź 1974, S. 8. Alle beigefügten Zitate aus diesem Buch wurden durch die Autorin aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzt.
„In Antwerpen war ich mit Jef Verheyen, in Amsterdam mit Willem Sandberg sehr gut befreundet. […] Sandberg hat mir von Briefen zwischen Władysław Strzemiński und Malewitsch erzählt, in denen Strzemiński Malewitsch vorwirft, dass er noch ein sehr stark symbolistisch befangener Maler sei, aber doch mit seinen strukturellen Reibungen und seiner Nicht-Dominanz eines herausragenden Gegenstands im Bild die Egalität der Wahrnehmung herbeiführe. Das ist jetzt nur interpretiert, nicht zitiert. Strzemiński hat mich dann sehr beschäftigt und auch geprägt.“[i]
[i] Interview geführt von Franziska Leuthäußer mit Günther Uecker, 31.03.2016, https://cafedeutschland.staedelmuseum.de/gespraeche/guenther-uecker (08.08.2023).
Zusammen mit seiner Frau Katarzyna Kobro (1898-1951) gehörte Strzemiński zu den einflussreichsten polnischen Künstlern des 20. Jahrhunderts. Die beiden waren wichtige Mitglieder der europäischen Avantgarde, standen früh in Kontakt mit den russischen Suprematisten um Kasimir Malewitsch: Wladimir Tatlin (1885-1953), El Lissitzky (1890-1941) und Alexander Rodtschenko (1891-1956) und pflegten einen regen Austausch mit einer ganzen Reihe europäischer Künstler, nicht zuletzt mit Piet Mondrian (1872-1944) und Theo van Doesburg (1883-1931). Gemeinsam halfen sie der polnischen Kunst nach dem Ersten Weltkrieg dabei, die modernistischen Ideen Ostmitteleuropas und Russlands mit denen Westeuropas zu verbinden. 1930 gründeten sie das Muzeum Sztuki in Łódź – das erste Museum für zeitgenössische Kunst in Europa. Wesentlich für Strzemińskis theoretisches Werk, vor allem für die Theorie des Sehens[i], war seine Verwundung: im Ersten Weltkrieg verlor der Künstler neben Arm und Bein auch das Augenlicht in einem Auge.
[i] Vgl. https://msl.org.pl/theory-of-vision—the-first-edition-with-the-critical-commentary/ (08.08.2023).

Die Rezeption der Theorien Strzemińskis und die Kenntnis seines Werkes waren nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen nicht weit verbreitet. Nach Stachelhaus hat der polnische Künstler durchaus eine inspirierende Rolle für die ZERO-Künstler gespielt.[i] Man kann annehmen, dass es zu einer Auseinandersetzung, oder vielleicht eher Begegnung der jungen deutschen Künstler mit der Theorie des Unismus in der Malerei erst während der Ausstellung in Zürich kam.[ii] Jeder der drei Protagonisten hat sich sehr unterschiedlich über den Einfluss oder gerade über den fehlenden Einfluss geäußert.[iii] Im Katalog der Züricher Ausstellung, wurde bei den Bildern von Strzemiński ein Kurztext zu seinen Ideen publiziert, in dem ein kleiner Teil seiner Überlegungen zum Unismus zitiert wurde.
[i] „Mit der Beschränkung auf Mack, Piene und Uecker wird der Versuch unternommen, gleichsam die ‚Mitte‘ von Zero darzustellen. Daß in der Frühphase im Umfeld manche direkten und indirekten Einflüsse wirksam waren, darf nicht verschwiegen werden. Hier sind Künstler wie Lucio Fontana, Yves Klein, Piero Manzoni, Jean Tinguely einerseits sowie Kasimir Malewitsch und Wladislaw Strzeminski andererseits zu nennen“, Heiner Stachelhaus, ZERO. Heinz Mack, Otto Piene, Günther Uecker, Düsseldorf u.a. 1993, S. 9.
[ii] Vgl. Anette Kuhn, Zero. Eine Avantgarde der sechziger Jahre. Frankfurt a.M., Berlin 1991.
[iii] „Was die Vorläufer der Monochromie betrifft, so sieht Mack im Gegensatz zu Uecker den Einfluß des polnischen ‚Unisten‘ Wladislaw Strzeminski und des russischen ‚Suprematisten Kasimir Malewitsch auf sein Werk als nicht so gravierend an, wenngleich er höchsten Respekt vor den großen Leistungen dieser Künstler, insbesondere vor denen Malewitschs, hat. Mack hat erst durch einen Katalog der Pariser Galerie Denise René Bilder von Strzeminski entdeckt. Das war nach seiner Erinnerung nach dem Ende von Zero. Über Malewitsch und die Relationen des Suprematismus zu Zero hat es im engeren Zero-Kreis keine Diskussionen gegeben“, Heiner Stachelhaus (wie Anm. 6), S. 66.
„in ‚abstraction-création‘ (1932) erschien ein text des polen wladislaw strzeminsky zu seinen neuen bildern, die heute wieder besonders aktuell sind, denn sie enthalten bereits die grundlagen der monochromen strukturmalerei, die in den letzten jahren aufkam: ‚dort, wo es eine trennlinie gibt, ist das bild in teile zerschnitten. was müssen deren beziehungen sein? die linie. ist es nur eine linie, so sehen wir ihre beziehung zu den bildgrenzen. sind es mehrere, sehen wir die beziehungen der linien unter sich und einer jeden zu den bildgrenzen.
die linie hat stets das bild durchschnitten. wie ist die reziproke beziehung dieser schnitte? wir binden die einzelnen teile in einen rhythmus der beziehungen einer dimension zu einer andern. so besteht also ein rhythmus als essenz der ästhetischen emotionen des bildes.
dieser rhythmus ergibt sich aus dem widerstreit der richtungen und dimensionen.
das gesetz der einheit des rhythmus? man gewinnt die einheit des rhythmus, indem man die beziehungen der dimensionen demselben mathematischen ausdruck unterordnet.
dieser mathematische ausdruck entscheidet über die beziehung zwischen höhe und breite des bildes. alle bruchstücke und alle formen sind durch diese mathematische beziehung zusammengehalten. auf diese weise gelangen wir zu einem absoluten rhythmus aller formen, deren grösste das bild selbst ist.
wo wir jedoch eine linie haben, gibt es eine teilung, und an stelle eines einzigen bildes haben wir getrennte teile. die linie teilt; aber das ziel unserer absichten soll nicht die teilung, sondern die einheit des bildes sein, direkt dargestellt, das heisst die optische einheit.
folglich muss man auf die linie verzichten. man muss auf den rhythmus verzichten, denn er besteht nur in der beziehung zwischen unabhängigen teilen. man muss auf widerstreit und kontrast verzichten, denn nur getrennte formen können widersprüche und kontraste erzeugen. man muss auf die teilung verzichten, denn diese bewirken konzentration und grösste intensität an den konturen — und zerteilen das bild in starke und schwache formen. nachdem ich in meinen bildern das problem des architektonischen rhythmus studiert habe, beschäftige ich mich nunmehr mit dem begriff der bild-einheit.‘“[i]
[i] Margit Staber (wie Anm. 2), S. 25-26.
Auf die Aktualität dieser theoretischen Überlegungen weist 34 Jahre später Volker Adolphs (*1957) in seinem Text Das schweigende Bild aus dem Ausstellungskatlog der Retrospektivausstellung Strzemińskis im Kunstmuseum Bonn hin. „Durch die nicht erfolgte oder wenigstens erheblich verzögerte Rezeption konnte es geschehen, daß die Gedanken Strzemińskis zu der Selbstbezüglichkeit des Bildes als autonome und organische zweidimensionale Ganzheit, zu der Einheitlichkeit seiner Struktur, der Reduktion von Reflexion der bildkonstituierenden Elemente, die er in Bildern und Schriften wie ‚B=2‘ (1924) und ‚Unismus in der Malerei‘ (1928) darlegte, wieder verschüttet wurden. Seine Einsichten mußten seit Ende der fünfziger Jahre erneut entdeckt und erforscht werden, ohne daß sich die Künstler dabei auf Strzemiński beriefen. Strzemiński gehört zu den Wegbereitern einer auf sich selbst verweisenden konkreten Kunst, die Entwicklung der Kunst zum Beispiel zur Monochromie, zur Auseinandersetzung mit primären Strukturen scheint in dem Werk von Strzemiński vorbereitet, so daß in Deutschland unter anderem die Ziele der Gruppe ‚Zero‘ in ihrem Purismus von Form und Farbe den Zielen Strzemińskis verwandt wirken. Günther Uecker ist einer der wenigen Künstler, die Strzemiński ausdrücklich als einen Vorläufer und Geistesverwandten der eigenen künstlerischen Absichten anerkannt hat.“[i]
[i] Volker Adolphs, „Das schweigende Bild“, in: Władysław Strzemiński 1893–1952, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bonn, Bonn 1994, S. 29-43, hier S. 30.

Was war dieser Unismus? Warum erscheint er im Kontext einer Abhandlung über die Struktur im Werk der ZERO-Künstler erwähnenswert? Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese Theorie im Bereich der Malerei auf der Annahme beruht, dass das Wesen eines Bildes dadurch bestimmt wird, dass die flache Bildfläche, die aus der aufgetragenen Farbe besteht, von einem Rahmen mit bestimmten Abmessungen begrenzt wird.[i] Es ist der Versuch, den Dualismus von Umriss und Fläche oder Raum und Form, der in der Bildgestaltung vorherrscht, zu überwinden. Das Bild bildet eine festgelegte Einheit von Formen, deren größte das Bild selbst ist. Alle Formen und Farben sollen gleichzeitig und gleich stark wirken, was durch die subtile Differenzierung der Farbgebung wie der Textur erreicht werden kann und zu einem absoluten Rhythmus aller Formen führt. Alles, was über diese definierten Eigenschaften hinausgeht, wie Bewegung, Zeit, Dreidimensionalität oder Verweise auf Referenzen und Inhalte, muss vom Künstler abgelehnt werden, da es der idealen Ganzheit des Werkes im Wege steht. Das Bild wird zum Subjekt, ähnlich einem Organismus. Es gibt keine Realität wieder und wird zu einer Art „Sein“. Diese Idee Strzemińskis wurde am besten in seinen letzten unistischen Kompositionen sichtbar, die in der Züricher Ausstellung zu sehen waren. Sein Streben nach einem einheitlichen Bild führte nicht zum Verzicht auf eine Struktur, die sich aus der Verbindung von organischer Linie und Farbfläche ergibt. Adolphs erklärt diesen Wiederspruch folgend:
[i] Die ersten Bilder aus der Unismus-Phase waren in den 8:5 Proportionen gemalt, die aus der letzten Phase quadratisch.
„Die Linie kann dann legitimiert werden, wenn sie sich nicht als subjektive Gestik des Künstlers, als emotionale Chiffre zeigt, wenn sie nicht als ‚Kraftzeichen‘ dynamische, gegensätzliche Bildrichtungen formuliert, sondern stattdessen entindividualisiert, vereinheitlicht, ungerichtet, in rasterartigen Wiederholungen und Parallelverläufen zur Vereinheitlichung der Bildfläche beiträgt.[…]
Die Linie dient nicht mehr dazu, Farbflächen zu begrenzen oder sie frei zu durchqueren, die Linie wird selbst Farbe, Farbe wird Linie. Um jeden Anspruch auf eine repräsentierende, symbolische, illusionistische Funktion der Farbe abzuwehren, wird sie in dichte Gewebe von Linien bzw. kleinsten Formeinheiten zerlegt, dabei pastos aufgetragen, getupft, gespachtelt, aus der Tube zu Farbbändern herausgepreßt. Die Farbe ist damit unmittelbar als Material präsent, sie verweist auf nichts anderes als auf sich selbst. Diese Faktur der Bilder ist für die angestrebte Bildstruktur von großer Bedeutung.“[i]
[i] Volker Adolphs (wie Anm. 10), S. 38.
Als Bildmaterial benutzt Adolphs für seinen Text sowohl Strzemińskis Unistische Kompositionen 9 und 11, 1931 (eine davon war auch im Katalog der Züricher Ausstellung und in dem Buch Struktur in Kunst und Wissenschaft, allerdings spiegelverkehrt abgebildet, zu sehen) sowie Heinz Macks, Dynamische Struktur auf Schwarz, 1961, und Günther Ueckers, Mathematische Reihung, 1963. In dem Text weist der Autor auch auf eine direkte Verbindung zwischen der Theorie und dem Schaffen der ZERO-Künstler hin.[i]„Verwandt ist ebenso der Struktur-Begriff der Künstler aus der deutschen Gruppe ‚Zero‘, die sich in ihren Arbeiten aber vor allem um die Freisetzung der Energiewerte des Lichts bemühten und durch die Reinigung der Farbe zu einem Null-Punkt, einer neuen Basis für die Kunst gelangen wollten.“[ii]
Heinz Mack behauptet sich erst nach der ZERO-Zeit mit dem Unismus beschäftigt zu haben. Das beweist seine Schemazeichnung aus dem Jahr 1970 über die Künstlergruppierungen um ZERO.[iii]
Betrachtet man das Frühwerk von Heinz Mack, so findet sich die schriftlich erfasste Auseinandersetzung des Künstlers mit dem Strukturbegriff bereits 1958. In seinem Essay Die neue dynamische Struktur für die Zeitschrift ZERO 1, die anlässlich der 7. Abendausstellung Das rote Bild erschien, schreibt er sowohl über die Bedeutung der Struktur in der Bildgestaltung als auch über die dreißig Jahre zuvor von Strzemiński so stark angestrebte Einheit des Bildes:
[i] Vgl. Volker Adolphs (wie Anm. 10), S. 39.
[ii] Volker Adolphs (wie Anm. 10), S. 39.
[iii] Vgl. Anette Kuhn (wie Anm. 7), S. 12.
„Die Überwindung der Vielfarbigkeit durch die Farbe selbst entspricht, daß man die Komposition aufgibt zugunsten einer einfachen S t r u k t u r z o n e, d.i. das einfache Zusammen aller bildnerischen Elemente. Der Maler erreicht die Einheit seines Bildes (u.a.) nur dadurch, daß er sehr wohl um die Funktion der einfachen Bildteile weiß; an die Stelle des reizvollen Details tritt das völlig reizlose Strukturelement, das nur dann sinnvoll ist, wenn es eine bildnerische Beziehung hat bzw. diese repräsentiert; hierdurch gewinnt ein Strukturelement seine Individualität, seine nicht austauschbare Bedeutung; für sich selbst ist ein solches Element ohne Sinn. (Es gibt nun nicht mehr die Bilder im Bild, den Effekt, die Autorität der isolierten Einzelformen.) Das besagt: Zerstörbar ist nur die Struktur als Einheit, die große Form, nicht deren Elemente, das bloß Mannigfaltige! Aus dieser Erkenntnis ergeben sich erregende Folgerungen für den Maler.“[i]
[i] Heinz Mack, „Die neue dynamische Struktur“, in: ZERO 1, Düsseldorf 1958, S. 15.
Macks Beschäftigung mit der Strukturzone im Kontext der dynamischen Struktur steht im Widerspruch zu Strzemińskis theoretischer Ablehnung der Erscheinung von Bewegung im Bild. Wenn man aber seine unistische Kompositionen betrachtet, vor allem die letzten, sieht man wie sehr seine Theorie doch von den realen Bildern abweicht, in denen die sich wiederholenden monochromen Farbformen dennoch zu pulsieren scheinen. Ähnliche Effekte zeigen auch die Arbeiten von Mack. In den Strukturbildern entstehen durch den mechanischen Prozess der Wiederholung „Parallelzonen“, die dem Bild eine vibrierende Erscheinung und Dynamik verleihen. Ähnlich wie in Strzemińskis unistischen Kompositionen sind Macks Bilder von der Komposition befreit, an deren Stelle tritt die Struktur. Wobei, wie Gerhard Charles Rump (1947-2020) betont, für Mack eine Struktur nicht identisch ist mit einem gleichmäßigen Raster.[i] Macks erste dynamische Strukturen entstanden Ende der 1950er-Jahre. Sie sollten den Eindruck der reinen Emotion im Bild wiedergeben, welcher sich beim intensiven Betrachten der sich ständig verändernden, flimmernden Schwingungen einstellt. Die von Mack verwendeten Strukturelemente sind in unterschiedlichen Längen, vertikal oder horizontal, leicht schräg oder gerade zusammengesetzt. Was willkürlich erscheint, hat nichts mit Beliebigkeit zu tun. Mack spricht von einem neuen Bildraum.[ii]
Es sind geschlossene rhythmische Bildsysteme. Dieser Rhythmus, der von einer Vibration in den Augen der Betrachter bestimmt ist, wurde für Mack zu einer sehr wichtigen Kategorie seines künstlerischen Schaffens. Gerhard Charles Rump spricht sogar von Rhythmus als Bildstrategie. „Die Rhythmisierung des Bildes sorgt für eine erhöhte Aufmerksamkeit, die es aus dem Reizstrom der optischen Wahrnehmung heraushebt. Rhythmus ist Bildstrategie.“[iii]
[i] Gerhard Charles Rump „Die Macht der Notwendigkeit. System der Struktur im Werk von Heinz Mack“ in: Heinz Mack. Strukturen – Licht – Bewegung, Ausst.-Kat. Samuelis Baumgarte Galerie, Bielefeld 2013, S. 2-7, hier S. 2.
[ii] „Dieser entspricht ein neuer Bildraum. Unter Bildraum verstehe ich die kontinuierliche Integration einer Vielzahl von Einzelräumen. Die differenzierten Bildräume treten in Proportion zueinander und ergeben Ordnungsverhältnisse; das neue räumliche Strukturgefüge wird vornehmlich vom Raumwert der Farbe und deren Frequenz bestimmt. […] Die Strukturierung der Farbräume macht nun wiederum die Vibration der Farbe allererst möglich. Die Bewegung vollzieht sich nicht nur auf der Fläche, sondern gerät auch auf den Betrachter hin in Schwingung. Die Bildtiefe wird aufgehoben; der gegenständlich-physikalische Bildraum ist zu verwerfen, auch wenn er sich abstrakt gibt.“ Heinz Mack, „Die neue dynamische Struktur“, in: ZERO 1, Düsseldorf 1958, S. 16.
[iii] Gerhard Charles Rump (wie Anm. 17), S. 4.

Der Rhythmus im bildnerischen Arbeiten Macks erscheint selbsterklärend, da der Künstler über ein großes musikalisches Talent und musiktheoretisches Wissen verfügt.[i] Bereits früh verstand er die Notation als Zeichensystem, und schon die Bilder, die er zur Aufnahme an der Kunstakademie vorlegte, waren abstrakte musikalische Notationen. Musik und Klavier begleiten ihn sein Leben lang; diese Doppelbegabung hat in seinem bildnerischen Werk ihren Niederschlag gefunden. Ein gutes Beispiel dafür ist das Bild Das Klavierkonzert, 1962, aber auch in seinen Fotografien aus den 1950er- und 1960er-Jahren findet sich dieser Rhythmus wieder, wenn er strukturell wirkende Ackerfurchen oder Baumreihen abbildet. Über diesen Zusammenhang spricht Mack in einem von Heinz-Norbert Jocks (*1955) geführten Interview:„Das hat mit der Musik, meiner musikalischen Ausbildung und speziellen Beschäftigung mit Johannes Sebastian Bach zu tun. Durch die Musik kam ich früh mit einer gegenstandslosen Welt voller Strukturen in Berührung. Die in sich logische Struktur des Notenbildes einer Fuge oder eines Präludiums, die einem inneren Gesetz folgt, hatte ich so verinnerlicht, dass ich als Schüler graphische Experimente machte. Weil ich mit der Hand zeichnete, nannte ich es später ‚Sprache meiner Hand‘. Alles, was in der Musik eine große Rolle spielt, wie Vibrationsmomente oder Schwingungen, hielt ich graphisch fest und vermied es, ein musikalisches Notenbild zu machen.“[ii]
[i] Mehr darüber in dem Vortrag von Heike von den Valentyn, „Die strukturelle Logik des Klanges. Von der Notation zum dynamischen Bildraum“, während der Tagung Mack und Musik – eine Tagung zu Ehren von Heinz Mack, kuratiert von Barbara Könches, ZERO foundation, 26. 02.2021, , https://www.google.com/search?client=safari&rls=en&q=heinz+mack+musik&ie=UTF-8&oe=UTF-8#fpstate=ive&vld=cid:60a46f1f,vid:NHwIZI5wYjs, Minute 28‘28‘‘ bis 46‘58’’ [05.08.2023].
[ii] Heinz-Norbert Jocks, „Warum an den Tod denken, wenn ich lebe“, ein Gespräch mit Heinz Mack, in: Kunstforum „Leonardo im Labor. Kunst und Wissenschaft im 21. Jahrhundert“, Bd. 277, Oktober 2021, S. 226-241, hier S. 239.

Der dynamische Aufbau dieser Arbeiten beruht nicht nur auf den sich wiederholenden, unterschiedlich zusammengesetzten notenähnlichen Strukturelementen, sondern auch auf den vorhandenen Lichtkontrasten, unabhängig von den verwendeten Farben (meist Weiß, Grau und Schwarz). Dem Prinzip des Rhythmus´ und des Hell-Dunkel-Spiels unterliegen auch seine berühmten Lichtreliefs aus der gleichen Zeit. Geht man nach Thomas Beck von zwei Modellen des Umgangs mit Licht in Macks Œuvre aus: Licht als Lichtwert der Farbe und Objekte, die das reale Licht im Raum erfahrbar machen, gehören die Dynamischen Strukturen zur ersten Kategorie.[i] Zur zweiten Gruppe gehören die Lichtreliefs. Sie behalten noch eine Bildform, haben aber durch die Verwendung des neuen Materials bereits einen Objektcharakter und man kann hier schon den Begriff der Lichtkunst verwenden. In den Lichtreliefs, in denen der Künstler hochglanzpolierte Aluminiumfolie reliefartig auf eine Platte gelegt hat, wird das Licht nicht nur durch den Kontrast, sondern durch die direkte Reflexion des Lichtes erfahrbar. Die Arbeiten dieser Gruppe zeigen auch den Bezug zur Welt der Musik, wie z.B. Meine kleine Klaviatur, 1960. In der dritten ZERO-Zeitschrift verfasst Mack in seinem Aufsatz zum Sahara Projekt als Station 10. Die Lichtreliefs:
[i] Vgl. Thomas Beck „Licht als Thema im Werk von Heinz Mack. Eine Analyse der ästhetischen Grundlagen“, in: Zero-Studien. Aufsätze zur Düsseldorfer Gruppe Zero und ihrem Umkreis, hrsg. von Klaus Gereon Beuckers, (Karlsruher Schriften zur Kunstgeschichte, Bd.2), S.11-52, hier S. 12.
„Diese ‚Lichtreliefs‘, wie ich sie nenne, zeigen nun die Eigenschaft, daß ihre Strukturen sich verändern, sobald das auf ihnen ruhende Licht seinen Einfallswinkel oder seine Intensität ändert. Wechselt der Stand der Sonne.
so wechseln auch die Relieferscheinungen. Damit ist jede fixierte Bildidentität aufgehoben. […]
Die Lichtreliefs gewinnen, wenn der Betrachter ihnen gegenüber eine ungewöhnliche Entfernung einnimmt, eine Intensität an Vibration, die besonders suggestiv sein kann. Solch eine Wirkungsweise entspricht den neuen Raumverhältnissen und bestimmt die Empfindungen, die den Betrachter erfüllen. Und nicht zuletzt ist die räumliche Entfernung, in der wir den Erscheinungen gegenüberstehen, geeignet, die Überwindung der Materialität zu fördern.“[i]
[i] Heinz Mack, „Das Sahara Projekt. Station 10. Die Lichtreliefs“, in: ZERO 3, Düsseldorf 1961, o. S.
In der Weiterentwicklung des künstlerischen Prozesses überträgt Mack die Lichtreliefs später auf neue skulpturale Träger, bleibt aber in der Malerei, zu der er später zurückkehrt, dem Medium des Strukturbildes treu.
Die revolutionäre Kraft der Lichtreliefs wurde auch von Max Bill bemerkt. Macks Lichtrelief in Bewegung, 1959, war im Katalog der bereits mehrfach erwähnten Ausstellung Konkrete Kunst. 50 Jahre Entwicklung abgebildet. Wobei man bei diesem Werk schon von einer Installation sprechen kann, da Mack von dem Prinzip der Zweidimensionalität des Bildes zugunsten der Dreidimensionalität abrückt. Aus dem Œuvre Otto Pienes wählte der renommierte Künstlerkollege und Kurator eines der frühen Rasterbilder, Calme, 1959. Zwei Jahre zuvor, so Ursula Perucchi-Petri, entstand das erste Bild dieser Serie, die Frequenz. In ihrem Text Otto Piene und ZERO vergleicht sie den strukturellen Aufbau dieser Bilder mit dem unistischen Denken, das die Bildstruktur der Bildkomposition gegenüberstellte.[i] Mit den Rasterbildern, die eine Schlüsselstellung in seinem Werk annehmen sollten, gelang Piene damals der künstlerische Durchbruch. Da die Schablonen, mit denen Piene die Bilder schuf, von ihm selbst als Lochsysteme hergestellt wurden, weisen diese frühen, noch sehr geometrisch strukturierten Werke auch eine leichte Unregelmäßigkeit der entstandenen Farbpunkte und -kreise auf. Das Bild Calme zeigt dagegen schon sehr deutlich einen variierenden Aufbau; die Geometrie weicht dem komplizierten Vibrieren von unterschiedlich tiefen, manchmal fast flachen farblosen Flächen. Ähnlich wie bei Macks Strukturbildern spielt auch hier das Schattenspiel des Lichts auf den Fakturen eine entscheidende Rolle. Piene untersucht die Wirkung der Farbe als Material und Medium des Lichts, das er durch die Siebe auf die Leinwand aufträgt.
In ZERO 1 schreibt Piene.
[i] Vgl. Ursula Perucchi-Petri, „Otto Piene und ZERO“, in: Otto Piene, hrsg. von Ante Glibota, o. O. 2011, S. 253-275, hier S. 265.
„Der Lichtwert kann sein: B e l e u c h t u n g s w e r t, E n e r g i e w e r t, B e w e g u n g s w e r t.
Als Beleuchtungswert tritt der Lichtwert im Gewande eines Imitationswertes auf. Der Energiewert der Farbe (‚die Kraft der Farbe‘) kann ‚bedeuten‘ statische Energie oder Bewegungsenergie. Hier zeigt sich wieder der Form-Farbe-Nexus: Es ist eine Frage des formalen Arrangements, ob der Lichtwert als statische oder kinetische Energie erscheint. Die Farbe wird vor allem dann Bewegungswert haben, wenn der imitative Raumwert gering ist und der eigentliche (Bild-) Raumwert knapp oder indifferent ist (silber, weiß, gold, gelb). Ein Vermindern der Dimension Raum bedeutet hier ein Erweitern der Dimension Zeit. Das Scheinen der Farbe wird hier zum dynamischen Vibrieren, Gleißen, Strahlen.“[i]
Die Rasterbilder wurden mit hellen Farben wie Weiß, Silber, Gold oder Gelb angefertigt, die das Licht am besten reflektieren.
Die Beschränkung auf eine Farbe im Bild hing mit der bewussten Reduktion der Ausdrucksmittel der ZERO-Künstler zusammen, sollte aber auch zu einer besseren Artikulation von Licht und Struktur im Bild führen.
[i] Otto Piene „Die Farbe in unterschiedlichen Wertbereichen“, in: ZERO 1, Düsseldorf 1958, S. 18.
„So wird deutlich, dass die Monochromie bei den Zero-Künstlern eng mit der Bedeutung, die sie dem Licht beimessen, verbunden ist. Das rote Bild hieß die 7. Abendausstellung von Mack und Piene im April 1958, die zur ersten Demonstration monochromer Tendenzen wurde.
Neubeginn symbolisiert für die Künstler aber vor allem die Farbe Weiß. Weiß und Zero sind komplementäre Begriffe. ‚Zero ist Weiß‘, heißt es in einem Zero-Manifest.“[i]
[i] Siehe Ursula Perucchi-Petri (wie Anm. 23), S. 266.
Die Farbgebung bei Piene ändert sich mit dem nächsten Schritt, den Rauchzeichnungen, die bereits 1959 entstanden. Dies hängt mit dem neuen Herstellungsverfahren und dem verwendeten, sehr ungewöhnlichen Material zusammen. In diesen Bildern wird der künstlerische Prozess noch weiter reduziert und der Künstler überlässt den Schaffensakt weitgehend der Wirkung des Mediums Rauch.
„Wird bei den Rasterbildern die Standardisierung noch durch Beeinflussen der Einzelpunkte sowohl von Hand, (sic) als auch über den Farbauftrag, den Farbton, die Farbkonsistenz oder über die Rasterherstellung etwas relativiert, findet bei den Rauchzeichnungen kein direkter Kontakt zwischen der gestaltenden Hand und dem Bildmaterial mehr statt. Nur noch die entpersönlichte, ‚objektive‘ ‚Licht‘quelle, die die dunklen Punkte als Rauchspur hinterläßt, wird von seiner Hand geführt. Das Licht im Raum versetzt die Rauchpunkte im Dialog mit dem Betrachter vor dessen innerem Auge in Bewegung.“[i]
Die beiden wichtigsten Elemente sind weiterhin die Struktur und die Bewegung, in der sich die Rauchflecken, -punkte oder -schlieren überlagern oder häufen. Auch wenn die Konsistenz der Oberfläche im Vergleich zu den doch farbigen Rasterbildern ihren reliefartigen Charakter verliert und die Lichtwirkung auf den Schwarz-Weiß-Kontrast reduziert ist, rufen die Rauchbilder beim Betrachter dynamische Bewegungseffekte hervor, die allerdings viel stärker vom aktiven Sehen des Betrachters abhängen.
Ähnlich wie Heinz Mack stellt Otto Piene durch die Entwicklung neuer Gestaltungsmöglichkeiten das traditionelle Bild in Frage, das mehr zum Objekt wird, das sich, befreit von Komposition und Gegenständlichkeit, durch seine Vibration im Raum ausdehnt.
[i] Beate Fricke, „Rauch und Feuer bei Otto Piene“, in: Beuckers (wie Anm. 21), S. 53-83, S. 57.

Die Veränderung des künstlerischen Prozesses, in dem der Schaffende auf den Nutzen der klassischen malerischen Werkzeuge verzichtet, ist noch stärker in den Werken von Günther Uecker wahrnehmbar. Laut Honisch war Uecker, der ZERO-Künstler, der sich am radikalsten und gründlichsten mit der Struktur in seinen Werken auseinandersetzte. Er blieb seiner archaischen Arbeitsweise treu, während Mack und Piene nach einer strukturorientierten Phase ihre künstlerische Problemsuche auf die technologische Ebene verrückten.[i]
In seinem Text Über die Struktur von Günther Uecker setzt sich Honisch mit der Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts bis in die 1970er-Jahre auseinander und stellt die Hypothese auf, dass es in dieser Zeit zur Verschiebung von der Bildkomposition zum Strukturbild kommt, wobei er von einer neuen Definition der Realität im Bild spricht.
[i] Vgl. Dieter Honisch (wie Anm. 3), S. 8.
„Der Weg, auf dem die Künstler aus der Welt der Illusion und der Reproduktion zur Wiedergabe zurückgekehrt sind, ist der Weg der stufenweisen Definition der Struktur, in das Gegenstand und die Wiedergabe in einem bestimmten Objekt aufeinandertreffen. Dieser Ausgleich, der vielleicht nur deshalb stattfand, weil die Kunst – negativ gesehen – sich zur formalen Analyse verfestigt hat, – positiv gesehen – ihre soziale Freiheit genießen konnte, ohne sicher zu sein, was daraus resultiert, wurde erst vor Generationen, zu denen auch Günther Uecker gehört, vollendet.“[i]
[i] Dieter Honisch (wie Anm. 3), S. 5.

Bei der Analyse der künstlerischen Entwicklung in Ueckers Frühwerk nimmt Honisch auch einen Vergleich mit der Theorie Strzemińskis vor. Das bedeutsame Element im Werk des Polen scheint für Honisch die Tatsache zu sein, dass Strzemiński an die Stelle der Antithese von Komposition und Konstruktion, die ihre Gültigkeit von außen beziehen, eine Struktur setzt, die in und für sich selbst Bedeutung hat.[i] Das sollte die Aktualität seines Denkens ausmachen und ihn zum „Vater“ eines neuen Bewusstseins auch für die Kunst von ZERO machen, die nicht mehr reproduktiv, sondern immanent, konkret und selbstbestimmt ist. Auch wenn Uecker sich in seinen Arbeiten nicht direkt auf das Werk des Polen bezog, fand er in dessen Theorie eine Bestätigung seiner künstlerischen Praxis. Dass Uecker den Polen sehr schätzte, zeigt die Tatsache, dass er dem Muzeum Sztuki in Łódź, wo er 1974 seine erste monografische Ausstellung in Polen hatte – für deren Katalog Honisch einen Text verfasste –, das Bild Das weisse Feld – Hommage à Strzemiński, 1970, schenkte. In der Auseinandersetzung mit der Struktur zeigt Uecker eine starke Konsequenz. Ihn interessieren die Probleme der neutralen Bildgestaltung ohne Kontraste und Dramatik. Die Struktur in seinen Werken entsteht durch die Verwendung von Linien, Streifen, Punkten, aber auch durch die unterschiedliche Dichte der weiß gestrichenen Nägel. Er gab seinen Werken bezeichnende Namen wie: Offene Struktur, Hängende Struktur, Symmetrische Struktur, Licht Struktur, Organische Struktur und auch Lichtmodulation. Noch am Anfang bleibt die Struktur im Bild eingeschlossen, wie z.B. beiPerforationen; seit 1958 übernimmt sie die Bildfläche. Sie bezieht das Feld von Rand zu Rand. Die Hierarchie verschwindet. Die Strukturen sind ungenau und entstehen spontan, was den Eindruck einer individuellen, für Uecker charakteristischen Haltung vermittelt. Der Künstler definiert keine festen Formen des Bildträgers, die Werke sind rechteckig und fast quadratisch, die Farben monochrom, auf Rot, Weiß, Gelb und Schwarz beschränkt. Man könnte hier von einem unistischen Bildaufbau sprechen, da es um die Vereinheitlichung des Bildfeldes geht. Uecker entwickelt den Strukturgedanken jedoch weiter, indem er ihm durch das Einfügen von Nägeln eine raumgreifende Wirkung verleiht. Die Nagelbilder entwickeln ein starkes Licht-Schatten-Spiel und eine aggressive Dynamik. Die Struktur löst sich aus der Bildfläche.
Betrachtet man das Werk der drei ZERO-Protagonisten unter dem Aspekt der Struktur, so wird nicht nur deutlich, wie weit sich das Verständnis des Bildentstehungsprozesses von der Tradition des Pinselwerkzeugs entfernt hat, sondern auch, wie die Person des Künstlers in den Hintergrund tritt. Der Vordergrund bleibt dem Betrachter überlassen. Dies gilt vor allem für den Übergang von der Zwei- zur Dreidimensionalität und schließlich mit den Environment-Projekten zur Vierdimensionalität, in der die Zeit eine entscheidende Rolle spielt.
[i] Vgl. Dieter Honisch (wie Anm. 3), S. 6.
Fünf Jahre vor Ueckers Ausstellung im Muzeum Sztuki in Łódź fand in denselben Räumen eine große Werkschau von Henryk Stażewski (1894-1988) statt, in der vor allem weiße Reliefs gezeigt wurden. Stażewski begann seine ersten Reliefs Ende der 1950er-Jahre – als er schon seit vielen Jahren die Position des geistigen „Vaters“ der polnischen Avantgarde innehatte. Er war bereits über sechzig Jahre alt, also durchaus „erwachsen“. Die Entdeckung dieser neuen Ausdrucksform verdrängte für fast zwanzig Jahre die rein malerischen Medien aus seiner kreativen Praxis. Wie andere Vertreter der geometrischen Abstraktion vertrat Stażewski die Auffassung, dass die Kunst nach dem Vorbild der Wissenschaft, nach den Grundprinzipien der Wirklichkeit suchen müsse.
Stażewski schuf lange Zeit im Geiste der von Władysław Strzemiński formulierten Theorie des Unismus. Die beiden fast gleichaltrigen Künstler waren lange Zeit eng befreundet und arbeiteten in Künstlergruppen wie BLOK oder artyści rewolucyjni (‚a.r.‘) zusammen, mit denen sie das Muzeum Sztuki in Łódź gründeten.[i] In der Zwischenkriegszeit widmete sich Stażewski der geometrischen Abstraktion. Inspiriert wurde er auch vom Neo-Plastizismus der holländischen Gruppe De Stijl.
In der schon mehrfach erwähnten Ausstellung der Konkreten Kunst wurde auch eine Arbeit von Stażewski – Geometrische Komposition, 1930, gezeigt, aber noch keines der Reliefs. In dieser neuen Werkgruppe erweitert Stażewski das unistische Bild, indem er die dritte Dimension einführt. Waren die ersten Reliefs noch aus Holz und weiß bemalt, so verwendet er in den späteren bereits Metall, wobei er die Zahl, der sich wiederholenden Elemente multipliziert.
[i] „Im Jahre 1929 verließen meine Eltern ‚Praesens‘ und gründeten zusammen mit Henryk Stażewski ‚a.r‘ (artyści rewolucyjni [revolutionäre Künstler] – awangarda rzeczywista (wirkliche Avantgarde]). Grund für ihren Weggang waren Meinungsunterschiede über die Ziele und Aufgaben der Kunst. Der Gruppe ‚a.r.‘ schlossen sich bald darauf Dichter der Krakauer Avantgarde an – Jan Brzękowski und Julian Przyboś. Ziel der Gruppe war – außer einer Integration verschiedener Bereiche der Kunst und der Verlagstätigkeit – die Gründung einer Internationalen Sammlung Moderner Kunst in Polen. Strzeminskis Bestrebungen, sie im Nationalmuseum in Warschau unterzubringen, scheiterten. Erst nach vielen Bemühungen gelang es ihm, die Unterstützung des Stadtrats von Łódź für die Initiative der Gruppe ‚a.r.‘ zu gewinnen. Deren Mitglieder begannen – auf Initiative meines Vaters – Kunstwerke für die künftige Sammlung zusammenzutragen. In Polen befaßten sich damit Katarzyna Kobro und Władysław Strzemiński, in Frankreich dagegen Jan Brzękowski, Stanisław Grabowski und Henryk Stażewski.“Nika Strzemińska „Władysław Strzemiński – Mensch und Künstler”, in: Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bonn (wie Anm. 10), S. 130-139, hier S. 133.

Im Gegensatz zur unistischen Idee des flachen Bildes bringt die Einführung der Reliefelemente ganz neue Effekte. Es entstehen das Spiel von Licht und Schatten und die Vibration, die durch die Bewegung des Betrachters noch verstärkt wird. Man kann hier schon von einer Kinetik im Bild oder genauer im Auge des Betrachters sprechen, die dann in den bewegten Reliefs ihre Vollendung findet.
Wie bei den ZERO-Protagonisten setzt sich die Wirkung des Bildobjekts im Raum fort. Bei einigen Reliefs von Stażewski kann man eine große Ähnlichkeit mit den Lichtreliefs von Mack feststellen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Künstler das damalige Werk des jeweils anderen kannten, ist jedoch sehr gering, da die Austauschmöglichkeiten für polnische Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg sehr begrenzt waren. Dennoch sind einige Entwicklungen in der Kunstszene rasanter verlaufen. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit der Struktur im Bild. Als Beispiel soll hier das Werk des Breslauer Künstlers Jerzy Rosołowicz (1928-1982) angeführt werden, dessen Bilder und optische Objekte sich auch in der Sammlung des Nationalmuseums in Wrocław befinden. Ende der 1950er-Jahre schuf Rosołowicz seine ersten Bilder mit strukturellem Charakter, für die er eine Mischung aus Farbe und Gips verwendete. In den 1960er-Jahren werden sie zu rhythmischen Kompositionen, die an Mikrofotografien organischer Formen erinnern und eine gewisse Anspielung auf die unistische Malerei darstellen. Rosołowicz interessierte sich aber mehr für Strzemińskis Theorie des Sehens. Seine strukturellen Bilder nannte er Neutronen, was seine Suche nach der neutralisierenden Wirkung der Kunst auf die Realität ausdrückte. Für Rosołowicz sollte die Kunst zu einer harmonischeren Beziehung zwischen der technischen Zivilisation, den kulturellen Produkten und der natürlichen Umwelt beitragen. Er war von den negativen Auswirkungen der modernen Welt auf die Natur überzeugt. In seinen theoretischen Texten schlug er die Idee der Kunst als „neutrale Handlung“ vor, die Ordnung und Frieden bringen würde.

In den nach 1967 entstandenen sphärischen Reliefs verwendet er optisches Glas, das mit polychromem Holz, Metall oder einer Glasplatte, wie in der Neutronicons-Serie, verschmolzen ist. Hier geht es wie bei den ZERO-Künstlern um die Wirkung des bewegten Lichts auf den Betrachter. Wie die Künstler von ZERO platziert er die Objekte im Raum. Meist schweben sie und sind von allen Seiten begehbar. Das Kunstwerk verliert seine zwei- und dreidimensionale Begrenzung und findet seine Fortsetzung im Blick des sich bewegenden Betrachters.
In Verbindung mit der Diskussion um die Rolle der Struktur und ihrer Verortung in der Kunst um die Mitte des 20. Jahrhunderts kommt es in der künstlerischen Praxis zu einer Ablösung des Tafelbildes vom Objekt hin zur Raumgestaltung. Dies geht einher mit der Verwendung neuer Materialien und Medien, aber auch mit der Zurücknahme des künstlerischen Duktus zugunsten der Schaffung eines interaktiven Kunstwerks. Erreicht wird dies durch die Reduktion der Komposition bis hin zu ihrer Auflösung zugunsten von Struktur und Monochromie.
Hauptthemen werden Licht und Bewegung.
Zum Thema Struktur


Endnotes
T Theater
Bewegung im Raum, zwischen Ausführen und Aufführen. ZERO und Theater
Barbara Büscher
Bemerkenswert erscheint mir, von heute aus gesehen, dass die Frage zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort gestellt wurde. Entwicklungen, die sich zunächst und vor allem im Feld der bildenden/visuellen Künste ereigneten, begannen, die Ideen von dem, was Theater ist/sein könnte, zu verschieben. Künstlerische Praktiken, die nichts mit dem Schauspiel des dramatischen Textes oder dem traditionellen Musiktheater zu tun hatten, wurden als theaterrelevant rezipiert und diskutiert.
Der Verbindung zwischen vielfältigen Auffassungen von dem, was Theater sein könnte, und den Veränderungen in den Künsten, die in den 1960er Jahren begannen und zu denen die ZERO-Künstler wesentlich beigetragen haben, möchte ich hier in Ausschnitten nachgehen.
Theater ist ein Haus, ein Gebäude, eine Raumordnung. Theater ist eine Institution, die unterschiedliche Konfigurationen annehmen kann, je nach historischem und kulturellem Kontext.[i] Theater ist eine Kunstform, deren zentrale Hervorbringung die Aufführung ist.
Aufführungen in dem erweiterten Verständnis heutiger Kunstwissenschaften oder Performance Studies sind Präsentationen, Ereignisse im zeitlichen Verlauf, Aktualisierungen verschiedener medialer Konstellationen. Auch Ausstellungen werden heute als Inszenierung/Aufführung[ii]untersucht.
Theater ist eine Konstellation von Akteur*innen (menschlichen und nicht-menschlichen)[iii] in Bewegung im Raum, zu sehen und zu hören. Theater ereignet sich, in einem definierten Zeitraum, in einem „shared space“.
Theater entwickelt sich zwischen „Ausführen und Aufführen“.
[i] Theater als Institution umfasst eine spezifische Infrastruktur und sich über lange Zeit herausgebildete Produktions- und Arbeitsweisen, deren Bedingungen aktuell in Frage gestellt werden. Dies nur als Hinweis: Im hier vorgestellten Zusammenhang werde ich diesen Aspekt nicht untersuchen können.
[ii] Siehe dazu u. a. Beatrice von Bismarck, Das Kuratorische, Leipzig 2021, S. 53-64.
[iii] Dieser Aspekt, der medientheoretisch anders formuliert in theaterwissenschaftlichen Untersuchungen seit den 1990er Jahren eine wichtige Rolle spielte – dass nämlich die apparativen, materialen etc. Determinanten der Aktionen und spielerischen Handlungen Anteil an ihnen haben –, wird heute neu formuliert als auch ökologische Auffassung des Zusammenhangs von verschiedenen Akteur*innen. Die von Bruno Latour u. a. ausgearbeitete Akteur-Netzwerk-Theorie, aber auch die mit dem Neuen Materialismus verbundenen Überlegungen spielen eine wichtige Rolle. Siehe z. B. Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a. M. 2000; Karen Barad, Agentialer Materialismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken, Berlin 2012.
Wenn man davon ausgeht, wie es die Kunstwissenschaftlerin Dorothea von Hantelmann tut, dass ein wichtiger Unterschied zwischen Ausstellen und Aufführen darin besteht, dass das zweite zu einem genau fixierten Zeitpunkt beginnt und endet und in einem von allen Akteur*innen geteilten Raum stattfindet[i], lässt sich zunächst darin eine Affinität der Abendausstellungen von ZERO, die von 1957 bis 1960 in Düsseldorf stattfanden, zu Theater als Veranstaltung feststellen. Verschiedene Autor*innen, die sich mit performativen Aspekten in den künstlerischen Arbeiten der ZERO-Künstler beschäftigen, setzen diese als einen Anfang. Einen Anfang zur Öffnung ins Performative, Theatrale. Thekla Zell spricht vom „ephemeren Charakter“ der Ausstellungen[ii]. Annette Urban sieht das Format als „richtungsweisend für die Verschiebung zur Aktion“.[iii]Explizit erläutert und präzisiert hat es die amerikanische Kunsthistorikerin Julia Robinson:
[i] Vgl. Dorothea von Hantelmann, „What is the New Ritual Space for the 21st Century?“, in: The Shed, New York 2018, https://theshed.org/program/series/2-a-prelude-to-the-shed/new-ritual-space-21st-century (15.08.2023).
[ii] Thekla Zell, Exposition Zero. Vom Atelier in die Avantgardegalerie. Zur Konstituierung und Etablierung der Zero-Bewegung in Deutschland am Beispiel der Abendausstellungen, der Galerie Schmela, des studio f, der Galerie nota und der d(a)to Galerie, Wien 2019, S. 80.
[iii] Annette Urban, „Projektionen von heute sind Verhältnisse von morgen. Projektionsräume und ihre durchlässigen Grenzen in der westdeutschen und polnischen Kunst zwischen 1959 und 1970/71“, in: Own Reality, (Veröffentlichungen des Forschungsprojektes Jedem seine Wirklichkeit. Der Begriff der Wirklichkeit in der Bildenden Kunst in Frankreich, Polen, der BRD und DDR der 1960er bis Ende der 1980er Jahre (2010-2015), Bd. 26, Paris 2016, S. 9, http://www.perspectivia.net/publikationen/ownreality/26/urban-de (15.08.2023).
Siehe dazu auch Joseph Ketner, Witness to the Phenomenon. Group Zero and the Development of New Media in Post-War European Art, London, New York, 2018, S. 143. Er zitiert wiederum dazu den amerikanischen Kunsttheoretiker Lawrence Alloway, der eine in den USA erschienene Publikation zu ZER0 einleitete.
„What did the ‚evening exhibitions‘ – for which a day and an hour were given – do at the time to the standard format of the art exhibit, which typically spans around a month? If the conditions for an exhibition and a performance, or simply an opening versus the run of an exhibition, collapse here to form the event, surely it changed the energy and even the urgency around what took place. And this may be one place to begin a genealogy of staging in Zero, that would extend to the staging of artworks in dramatic spaces, and the total installations that would ultimately develop. Here the event structure of the showing of painting paves the way for a dramatic reframing of the conditions of seeing and perceiving works of art.“[i]
[i] Julia Robinson, „0/60/10: Turn…slowly, extremely. Calibrating ZERO to Changing Time(s)“, in: Between the Viewer and the Work: Encounters in Space, hrsg. von Tiziana Caianiello, Barbara Könches, Heidelberg/Düsseldorf 2019, S. 27-37, hier S. 33-34.
Die Verknappung der Zeit auf einen markierten Zeitpunkt hin ist auch ein Mittel der Fokussierung von Aufmerksamkeit, die dazu führen kann (und soll), dass Besucher*innen sich nicht über einen längeren Zeitraum verstreuen, sondern konzentriert versammeln – so wie es unter anderem im Theater der Fall ist. Das Format verweist darauf, dass letztlich jede Ausstellung eine temporäre Veranstaltung ist, die zudem als Inszenierung im Raum verstanden werden kann. Eine Ansicht, die – wie erwähnt – erst sehr viel später theoretisch, zum Beispiel in den Curatorial Studies der letzten Jahre, aufgenommen wurde.
Ein zentraler Aspekt der ZERO-Arbeiten, der sich mit einer allgemein verstandenen Idee von Theater/Performance, wie ich sie zu Beginn eingeführt habe, trifft, ist die Fokussierung auf Bewegung im Raum, Bewegung in verschiedenen Räumen von unterschiedlicher Materialität, deren Dynamik und ihre Auslösung und Steuerung – sei es durch menschliche Aktionen oder mechanischen Antrieb. Aufführen als eine Handlung/Aktion in der Zeit wird so zum Bestandteil von Ausstellen. Der amerikanische Kunsthistoriker Michael Fried hat eine solche „Theatralisierung“ der Kunst für die Minimal Art (und darüber hinaus) 1966 vehement kritisiert und deren Situationsbezogenheit, welche die Betrachter*innen mit umfasst[i], als negative Verschiebung des Werkverständnisses beschrieben.
So verstanden beginnt die Nähe zu Konstellationen, die man als theatral bezeichnen kann, schon vor dem, was dann ausdrücklich als Performance, Happening, Demonstration aufgeführt wurde. Die raumfüllende Bewegung des Lichts, ebenso wie die Bewegung kinetischer Installationen ermöglichen und erfordern die Bewegung der Betrachter*innen und erweitern so deren Perspektiven, wie es Otto Piene (1928-2014) 1960 beschreibt.
[i] Vgl. Michael Fried, „Kunst und Objekthaftigkeit“, in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, hrsg. von Gregor Stemmrich, Dresden 1995, S. 334-374, hier S. 342.
„Das Wichtigste ist die umfassende Raumerfüllung gegenüber den bekannten Schaukünsten Theater und Film. Das Licht ist nicht an den Raumausschnitt Bühne oder die Fläche Leinwand am Ende eines langen Raumes, in dessen Dunkel der Betrachter sitzt, gebunden. Es kann die meisten Orte des Raumes erreichen. Dadurch gewinnt der Erlebende den Eindruck, der Mittelpunkt des Geschehens zu sein, […]. Es entsteht ein dynamisches Raumempfinden, in dem die Schwerkraft viel Macht verloren hat.“[i]
[i] Otto Piene, „Lichtballett“ (1960), in: ders., 10 Texte, München, Frankfurt a. M. 1961, S. 16-18, hier S. 16.
Hier wird etwas angedeutet, was in den weiteren Entwicklungen unter anderem des Expanded Cinema aber natürlich auch in den Arbeiten Pienes selbst, als immersives Projekt-Environment fortgeschrieben wird: dass nämlich die Gegenüberstellung von Betrachter*in und Zu-Betrachtendem – die sowohl im Theater als Raumordnung von Bühne und Zuschauer*innenraum wie im Museum als räumliche Distanzierung existiert – durchstrichen wird. Der Lichtraum, das „tanzende Licht […] in einer gewissen ‚choreographischen‘ Abfolge“[i] als Bewegung im Raum soll sich nun rund um die Betrachter*innen ausbreiten.
[i] Ebd.
Die Kuratorin Renate Wiehager fasst in diesem Sinne für die Ausstellung Mack, die 1960 in der Galerie Diogenes in Berlin stattfand, zusammen:
„Macks Untersuchungen zu Licht, Bewegung und Raum sowie der kalkulierten Einbeziehung des Betrachters erreichen mit der Konzeption des Galerieraums als eines einzigen, großen Lichtobjekt eine neue Dimension: […] Für den Betrachter werden ephemere, immaterielle Phänomene: die intensiven Lichtreflexe im Raum sowie die durch seine Bewegung im Raum sich permanent wandelnden Strukturen, zum eigentlichen ästhetisch-visuellen Ereignis. Im Souterrain […] veranstaltet Mack zur Eröffnung eine Aktion, von ihm selbst als ‚Demonstration ‘ bezeichnet, […].“[i]
[i] Renate Wiehager, „54321 ZERO – Countdown für eine neue Kunst in einer neuen Welt“, in: ZERO aus Deutschland 1957-1966. Und heute / ZERO out of Germany. 1957‒1966. And Today, hrsg. von ders., Ausst.-Kat. Galerie der Stadt Esslingen/Villa Merkel, Ostfildern-Ruit 2000, S. 8-14, hier S. 8.
Die Aktivierung von Installationen, in diesem Fall der Lichtinstallation Hommage à Georges de la Tour, 1960, für einen definierten Zeitraum,[i] von Mack (*1931) als Demonstration bezeichnet, bildet einen weiteren Schritt in Richtung auf das Theatrale/ Performative, lässt sich als Aufführung verstehen. Es gibt zu dieser Demonstration eine Beschreibung des Künstlers selbst.[ii]
[i] Diese ‚Demonstration‘ wird von Ketner als „dramatic multimedia performance“ bezeichnet und detailliert beschrieben (Ketner, wie Anm. 6, S. 150). Aus den Beschreibungen bei Ketner und Wiehager wird nicht ganz deutlich, ob es sich um eine Aktion in der Lichtinstallation mit dem Titel Hommage à Georges de la Tour handelt, oder ob es eine unabhängige, aber thematisch angelehnte Demonstration ist.
[ii] Vgl. Heinz Mack, „Kommentar zur ‚1. Hommage à Georges de la Tour‘ in der Galerie Diogenes, Berlin 1960“, in: MACK Lichtkunst, hrsg. von Burkhard Leismann, Ausst.-Kat. Kunst-Museum Ahlen, Köln 1994, S. 180-181.
Die ab 1959 von Otto Piene entwickelten Lichtballette, die schon im Namen ihre Referenz auf eine spezifische Form von Theater tragen, bewegen sich ebenfalls zwischen (licht)kinetischer Installation und deren temporärer Aktivierung als Vor- und Aufführung. Drei Formen werden unterschieden: das archaische, das chromatische und das mechanische Lichtballett.[i] 1959 führte Piene das archaische zunächst in seinem Atelier, dann in der Galerie Schmela in Düsseldorf auf. Das chromatische Lichtballett wurde 1960 in den Räumlichkeiten der Galerie Diogenes in Berlin und dann im studio f in Ulm gezeigt. Neben Piene waren drei bis fünf weitere Akteur*innen an den Projektionen beteiligt, die im gesamten Raum stattfanden und das Publikum umspielten.
Beeinflusst von Jean Tinguelys (1925-1991) bewegten und sich bewegenden Maschinen entstand ab 1960 das mechanische Lichtballett, in dem die menschlichen Akteur*innen durch maschinelle Konstruktionen ersetzt wurden, „die mit beweglichen Greifarmen und Rotoren versehen waren“.[ii]
Alle drei Varianten wurden als Ein Fest für das Licht im Oktober 1960 im Kontext der 9. Abendausstellung aufgeführt.[iii]
[i] Vgl. Chris Gerbing, „‚Mit 12 x 12 Scheinwerfern zum Mond‘. Die Universalität des Raums in den Lichtballetten und Sky Events von Otto Piene“, in: Zero-Studien. Aufsätze zur Düsseldorfer Gruppe Zero und ihrem Umkreis, hrsg. von Klaus Gereon Beuckers, (Karlsruher Schriften zur Kunstgeschichte, Bd. 2), Münster 1997, S. 83-111, hier S. 85.
[ii] Ebd.
[iii] Thekla Zell zitiert die erste Variante in diesem Zusammenhang als „Lichtballett mit Folien nach Jazz“ und die dritte Variante als „Vollelektronisches Lichtballett“ (Zell, wie Anm. 5, S.125). Annette Urban zitiert die erste als „Licht und Jazz, ensemble“ und die dritte als „Vollelektrisches Lichtballett“ (Urban, wie Anm. 6, S. 9).


Dass die Aufführungen des Lichtballetts von der Integration menschlicher Akteur*innen zur programmierten Steuerung der Mechanik wechselten, ändert nichts an ihrem Charakter als Vor- oder Aufführung. Beide Formen der Steuerung einer (inter)medialen Konstellation – als die man Theater auch verstehen kann – machen unterschiedliche Praktiken des Ineinander von Ausführen und Aufführen sichtbar. Das verbindet die Lichtballette nicht nur mit einem aktualisierten Verständnis von medialer Aufführung, sondern auch mit den im weiteren Verlauf der 1960er-Jahre deutlich hervortretenden Interesse von Künstler*innen an zeitgenössischen Technologien.[i]
[i] Vgl. Barbara Büscher, Live Electronics und Intermedia: die 1960er Jahre. Über den Zusammenhang von Performance und zeitgenössischen Technologien, kybernetischen Modellen und minimalistischen Kunst-Strategien, Leipzig 2002, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa-39497 (22.08.23).

Günther Uecker (*1930) war mit einer seiner ersten Aktionen – Weiße Zone[i] – an der Präsentation der dritten Ausgabe des ZERO Magazins 1961 beteiligt. Neben seinen Aktionen zur Benagelung[ii] von Alltagsgegenständen wie Möbel, Sintflut der Nägel, mit Bazon Brock (*1936), Galerie d Frankfurt, 1963, oder Klavier, Benagelung eines Klaviers, Pianohaus Kohl Gelsenkirchen, 1964, oder solchen, die das Nageleinschlagen als rhythmisierende Verstärkung, Telefonzeitnageln, mit S. D. Sauerbier (1942-2019), studio f Ulm, 1966, betrieben, sind es die gemeinsam mit S. D. Sauerbier entwickelten und realisierten Stücke wie Reise-Theater, 1962/1964, und Röhrentheater, 1966, die schon von der Bezeichnung her eine Referenz zu meinem Thema nahelegen.
Das Konzept zum nicht realisierten Reise-Theater, das Uecker 1962 aufschrieb und an dessen Planung er mit Sauerbier bis 1964 arbeitete, ist auch im eingangs erwähnten Heft von Theater heute als eines der Beispiele für Kunst-Stücke, die aus der bildenden Kunst ins Theater herüberragen und es herausfordern, abgedruckt. Es ist zunächst – das zeigt auch das Modell (oder die Bühnenskulptur)[iii] – eine räumliche Anordnung, deren Zentrum eine Drehscheibe bildet, auf der sich ein Teil der Akteur*innen, beziehungsweise Zuschauer*innen, befinden. Sie ermöglicht, das Verhältnis von Bewegungslosigkeit und Bewegung durch Licht/Schatten-Projektionen zu visualisieren, während gleichzeitig in einer Zitatmontage aus Reiseprospekten dieses Verhältnis auf das Reisen als Konsumieren konkretisiert wird.
[i] Dieser Titel steht unter einem entsprechenden Foto in Katrin Salwig, „Die Aktionen von Günther Uecker“, in: Günther Uecker – Die Aktionen, hrsg. von Klaus Gereon Beuckers, Petersberg 2004, S. 39-119, hier S. 47.
[ii] Salwig berichtet, dass Uecker diese Benagelungsaktionen vor Publikum bis in die 1970er-Jahre beibehielt und dass sie öfter als multimediale Vorführungen funktionierten. Als Beispiel nennt sie eine Vorführung im Hause Ruhnau in Essen 1968. (Salwig, wie Anm. 18, S. 53).
[iii] Abbildungen und Erläuterungen dazu finden sich in …zum Raum wird hier die Zeit. Günther Uecker. Bühnenskulpturen und optische Partituren, Ausst-Kat. Neues Museum Weimar, Kunstsammlungen zu Weimar, Weimar 2001, S. 114-121.


„Geplant ist die Aktualisierung der Intentionen einer Reisegesellschaft, die mit jener, die der Aufführung beiwohnt, darin übereinkommt, […] sich etwas bieten zu lassen: Die beiden kulturellen Organisationen, die Reiseveranstalter wie die Veranstalter dieser Aufführung, gleichen sich in ihren Intentionen, ebenso wie deren Opfer.“[i]
Die inkludierte kritische Reflexion des Theaters als Situation des Konsums umfasste auch die Praxis, das Konzept, den Plan der Aufführung als Teil des Stück-Textes zu lesen. Sauerbier hat dies als eines der Prinzipien ihrer Zusammenarbeit formuliert.[ii]
Das Röhrentheater, das Uecker ebenfalls mit Sauerbier gemeinsam als Teil des Programms Röhrenversammlung und Sprechtanz 1966 auf dem ersten Kunstmarkt im hessischen Büdingen und 1967 auch in Düsseldorf aufführte, setzte Mensch/Objekte in Bewegung.[iii]
[i] Günther Uecker, „Reise-Theater“ (1962), in: Ders., Schriften. Gedichte – Projektbeschreibungen – Reflexionen, hrsg. von Stephan von Wiese, St. Gallen 1979, S. 61-63.
[ii] „Nicht nur die Arbeitsmittel, das Material und das Instrumentarium, sondern auch die Planung und die Anweisungen selbst sollten zum Gegenstand der künstlerischen Arbeit gemacht werden. In etlichen Stücken haben wir sodann dieses Prinzip angewandt: zunächst wurde der Plan Material des Sprechparts […].“ S. D. Sauerbier, „Vom Theater. Zum Theater. Gemeinschaftsarbeiten mit/von Günther Uecker von/mit S. D. Sauerbier“, in: von Wiese (wie Anm. 21), S. 22-34, hier S. 23.
[iii] „(Wir führten) mehrere Stücke mit gleichförmigen stereometrischen Formen auf, nämlich Zylindern; bisweilen befanden sich Akteure in einer Röhre. […] In einem anderen Teil dieser Stückfolge war die kontinuierliche und lähmend-langsame Röhren-Bewegung durch den Saal zu beobachten – zur Wiedergabe von ebenso gleichförmigen wie durchdringendem Sinus-Ton.“ Sauerbier (wie Anm. 22, S. 25-26).
„Ist das schon Theater?“ fragen die – immerhin darauf aufmerksam gewordenen – Theaterkritiker, während die Künstler*innen selbst den Begriff Theater – teilweise polemisch, teilweise aber auch um ihn zu öffnen und neu zu besetzen – wie selbstverständlich zur Bezeichnung ihrer Aktivitäten benutzen. John Cage (1912-1992) zum Beispiel postulierte schon 1954: „Music is an oversimplification of the situation we actually are in. AN EAR ALONE IS NOT A BEING; music is one part of theatre. […] Theatre is all the various things going on at the same time“.[i] Und Dick Higgins (1938-1998), unter anderem Fluxus-Künstler und viel zitierter Intermedia-Theoretiker, schrieb 1964: „A theater is a place made for things to happen.“[ii]
[i] John Cage, „45’ for a Speaker“, in: Ders., Silence. Lectures and Writings, London 1968, S. 146-193, hier S. 149. [Versalien im Original].
[ii] Dick Higgins, Postface / Jefferson’s Birthday, New York, Nizza, Köln 1964, S. 7.
D. Sauerbier fasst die Verschiebung des Theaterbegriffs so zusammen: „Zurschaustellen, einfaches Hinstellen statt Darstellen! Das war die Losung der Zeit, ebenso die Organisation von vorgefundenem Material durch ‚kalte‘ Montage.“[i]
[i] Sauerbier (wie Anm. 22), S. 28. 1976 veröffentlichte S. D. Sauerbier seine theaterwissenschaftliche Dissertation unter dem Titel Gegen Darstellung. Ästhetische Handlungen und Demonstrationen. Die zur Schau gestellte Wirklichkeit in den zeitgenössischen Künsten, Köln 1976.
Andere Formen des Performativen, die die Rahmung eines markierten Kunstraumes – sei es als Theater oder als Galerie/Museum – verlassen, entfalten sich im Außenraum. Die Düsseldorfer ZERO-Künstler nennen sie Demonstration, so wie Mack es für den Innenraum tat. Die erste gemeinsam von den drei ZERO-Künstlern bestrittene Aktion fand 1961 im Rahmen von Zero Edition Exposition Demonstration auf der Straße vor der Galerie Schmela in Düsseldorf statt. Uecker malte eine „weiße Zone“ auf das Straßenpflaster, Jugendliche trugen lange, mit „ZERO“ oder einer Null beschriftete Gewänder und ließen Seifenblasen aufsteigen. Ein großer Heißluftballon aus durchsichtiger Folie stieg auf; diverse Musik drang aus der Galerie auf die Straße.[i] Diese performativen Elemente wurden in anderen „Demonstrationen“ wiederholt eingesetzt – so zur Ausstellungseröffnung in Arnheim 1961[ii] oder in der Galerie Diogenes 1963.[iii] Erweitert wurden sie für das Fest, das 1962 abends auf den Rheinwiesen in Düsseldorf stattfand und das explizit aus Anlass von Dreharbeiten zu einem Film über ZERO inszeniert wurde[iv]. Diese performativen Aktivitäten dienen der Gruppe auch dazu, in einem Spiel mit den Medien (Fernsehen und Zeitung) Aufmerksamkeit zu generieren, wie es in verschiedenen Untersuchungen betont worden ist.[v]
[i] Vgl. Tiziana Caianiello, „Ein ‚Klamauk‘ mit weitreichenden Folgen. Die feierliche Präsentation von ZERO 3“, in: 4321 ZERO, hrsg. von Dirk Pörschmann, Mattijs Visser, Düsseldorf 2012, S. 511-526, hier S. 514; Vgl. Salwig (wie Anm. 18), S. 47.
[ii] Caianiello (wie Anm. 27), S. 516/517.
[iii] Vgl. Thekla Zell, „Editionen. Expositionen. Demonstrationen 1957-1966“, in: Dirk Pörschmann, Mattjis Visser (Hrsg): 4321 ZERO, Düsseldorf 2012, S. 442-467, hier S. 459.
[iv] Es handelt sich um den Film 0 x 0 = Kunst. Maler ohne Farbe und Pinsel von Gerd Winkler, der am 27.6.1962 im Hessischen Rundfunk, HR, ausgestrahlt wurde. Vgl. Zell (wie Anm. 29), S. 455 und den Text von Gerd Winkler, „Wenn aus Avantgardisten Klassiker werden“, in: Wiehager (wie Anm. 11), S. 69-70.
[v] Vgl. Margriet Schavemaker, „Performing ZERO“, in: Zero. Countdown to Tomorrow, 1950s-60s, Ausst.-Kat. Solomon R. Guggenheim Museum, New York 2015, S. 44-55, hier S. 47; Vgl. Ulli Seegers, „Art for All: Lines of Tradition and Development of a Central Narrative of Art since ZERO“, in: Caianiello, Könches (wie Anm. 7), S. 39-52.
Der Auszug aus Galerien und Museen auf die Straße als erweitertem Aktionsraum war eines der Merkmale, die in den Künsten der 1960er-Jahre relevant wurde. Das Theater auf der Straßenannte Wolf Vostell schon 1958 eine Aktion in Paris. Auf der Straße als öffentlich zugänglichem Raum lassen sich Alltag und künstlerische Aktion für viele, auch unvorbereitet Adressierte verbinden. Etwas später, in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre, entwickelten sich auf den Straßen die politischen Protestaktionen. Peter Handke (*1942) wird sie 1968 als das wahre Straßentheater – gegen alles kunstorientierte Theater – bezeichnen.[i]
Ueckers Straßensperre aus Nägeln, die er 1968 als öffentliche Aktion in der Düsseldorfer Innenstadt errichtete, und ähnliche Aktionen[ii] lassen sich als Auseinandersetzung mit und als Andocken an die Aktionen der 68er-Bewegung verstehen, in diesem Sinne als Straßentheater.
In der US-amerikanischen Theater- und Performance-Theorie hatte sich zu dieser Zeit und vor allem aus der Beobachtung beider Entwicklungen – der Raum- und Aktionserweiterung, die aus den bildenden Künsten, aber auch der Musik, John Cage unter anderem, oder dem Tanz, Yvonne Rainer (*1934), Steve Paxton (1939-2024), aufbrach, wie aus den politischen Bewegungen der 1960er-Jahre – eine weitgehende Öffnung des Theaterverständnisses herausgebildet, die bis heute nachwirkt. So stellte Richard Schechner (*1934), der Mitbegründer der Performance Studies an der New York University, 1967 in seinen Six Axioms for Environmental Theater an den Anfang des ersten Axioms das folgende Diagramm:
[i] Peter Handke, „Für das Straßentheater und gegen die Straßentheater“ (1968), in: Deutsche Dramaturgie der Sechziger Jahre, hrsg. von Helmut Kreuzer, Tübingen 1974, S. 127-130.
[ii] Salwig (wie Anm. 18), S. 57-58.

Und erläuterte: „It is because I wish to include this entire range in my definition of theater that traditional distinctions between art and life no longer apply.“[i]
[i] Richard Schechner, „Six Axioms for Environmental Theatre (1967/1987)“, in: Environmental Theatre, hrsg. von ders., Montclair 1994, S. XX-Ii, hier S. XX.
Wenn Schavemaker in ihrer Analyse zusammenfassend feststellt, dass „performing ZERO was always a consciously cross-, multi-, and electromedia activity – and, at some points, an antimedia one“[i], so möchte ich diese Beobachtung am Beispiel von Otto Pienes verschiedenen Projektionsaufführungen mit dem Begriff des „Intermedia Theatre“ verbinden, wie ihn an prominenter historischer Stelle Gene Youngblood (1942-2021) in seinem 1970 veröffentlichten Buch Expanded Cinema verwendet.
Das, was sich in den frühen 1960er Jahren in den USA als spezifische Form des Expanded Cinema entwickelt, umfasst ja nicht nur eine de-konstruierende Auseinandersetzung mit dem Kino-Dispositiv, sondern ist in das zeitgenössische Experimentieren mit Computertechnik involviert und umfasst neue – auch narrative – Formen des Aufführens von Licht/Bild/Raum/Körper/Konstellationen.[ii] Youngbloods Buch ist ein ausgesprochen zeitnaher Versuch, einen Überblick über die Entwicklungen auf dem Hintergrund, vor allem der US-amerikanischen Entwicklungen, zu versuchen und dies auch mit einer emphatischen Haltung gegenüber Medien als Möglichkeiten der Bewusstseinserweiterung, wie sie unter anderem der Medientheoretiker Marshall MacLuhan (1911-1980) formuliert hatte[iii], zu verbinden.
[i] Schavemaker (wie Anm. 31), S. 54.
[ii] Vgl. Büscher (wie Anm. 17), S. 273-338.
[iii] Marshall McLuhan, Understanding Media: The Extensions of Men (1964), London, New York 2001.
„Thus in intermedia theatre, the traditional distinctions between what is genuinely ‚theatrical‘ as opposed to what is purely ‚cinematic‘ are no longer of concern. […] Whatever divisions may exist between the two media are not necessarily ‚bridged‘, but rather are orchestrated as harmonic opposites in an overall synesthetic experience.“[i]
[i] Gene Youngblood, Expanded Cinema, New York 1970, S. 365.
In seinem Abschnitt „Intermedia Theatre“ ist Aufführung als zentraler gemeinsamer Ausgangspunkt für Theater und Kino auch die Basis für das neue synästhetische Format Intermedia. In den Gesprächen mit Künstler*innen und der Vorstellung von Projekten, die den Hauptteil des Kapitels bilden, tritt neben die Aufführung als Präsentationsformat das Interesse an aktuellen technischen Entwicklungen und an der Aktivierung der Zuschauer*innen. Neben Arbeiten von Carolee Schneemann (1939-2019), Milton Cohen, John Cage und Ronald Nameth (*1942), Robert Whitman (1935-2024) werden auch Otto Pienes und Aldo Tambellinis (1930-2020) Kooperation im Black Gate Theatre New York sowie Vostells TV-De-Collagen (Electronic Happening Room, 1968) vorgestellt.[i] Fast alle diese Arbeiten verlassen die räumliche Trennung von Vorführung/Bühne und Zuschauer*innenraum und konstruieren eine die Rezipient*innen umgebende Szeno- und Audiographie, die von heute aus gesprochen, als immersives Environment verstanden werden kann.
Immaterialisierung durch Lichtbewegung, Aufhebung der traditionellen räumlichen Anordnung, um ein Eintauchen der Betrachter*innen zu ermöglichen: Piene kam mit seiner Dia-Performance The Proliferation of the Sun, die Anfang 1967[ii] im New Yorker Black Gate Theatre aufgeführt wurde, dieser seiner Idee von Theater näher.
[i] Youngblood (wie Anm. 38), S. 366-386.
[ii] Wegen der Jahreszahl der Uraufführung gibt es Verwirrung: alle Quellen, auch Babette Marie Werner in ihrem Text zur Rekonstruktion, sprechen davon, dass die erste Aufführung im März 1967 stattfand: Vgl. Babette Marie Werner, „Restaging The Proliferation of the Sun in 2014: The Digital Projections“, in: Light on/off. Restaging Zero, hrsg. von Tiziana Caianiello, Bonn 2018, S. 89-100. In der Publikation von Barbara Engelbach spricht dagegen Piene selbst von 1966 und sie übernimmt das dann in ihrem Text, vgl. Barbara Engelbach (Hrsg.), Die Sonne kommt näher. Otto Piene. Frühwerk, Siegen 2003.

„Der 60qm große Raum war mit Schaumgummi ausgelegt, damit die Besucher sich hinlegen konnten. 5 Diakarussell-Projektoren wurden von 5 Personen bedient, die durch ein von Piene besprochenes Tonband dirigiert wurden. Für jeden Projektor waren 2 Karussells mit bemalten Glasdias so zusammengestellt, dass die dominierenden Farben der Dias – sie zeigen auf leuchtendem Untergrund farbige Punkte, die in den Projektionen wie Planeten oder Sonnen aussehen – nach Regenbogenfarben wechselten. Die sachlichen Anweisungen vom Tonband gaben den Rhythmus des Bilderwechsels an, der sich langsam steigerte, bis am Ende der ersten Bilderfolge der Raum in gleißend weißes Licht getaucht war. Die Bilderfolge lief dann wieder zurück und endete mit dem abgedunkelten Raum.“[i]
[i] Engelbach (wie Anm. 40), S. 28.
Diese Beschreibung gibt eine Reihe von Basisinformationen, die in anderen Darstellungen – insbesondere in Bezug auf die 1967 in der Galerie art intermedia in Köln gezeigte Version – ergänzt wurden. Auch ein großer Ballon und verschiedene durchsichtige Stoffbahnen wurden als Projektionsflächen genutzt.[i]
Die räumliche Anordnung, die die Betrachter*innen einlud sich hinzulegen, sowie die Verteilung der Projektionen im gesamten Raum, implizierten das Eintauchen in den Bilderfluss der Projektionsperformance. Schon im weiter oben zitierten Text von 1960 hatte Piene einen „großen Raum von halbkugeliger Form“ als idealen Ort für das Lichtballett beschrieben, in denen „der Erlebende […] entspannt liegt“[ii].
[i] Vgl. Werner (wie Anm. 40), S. 97.; Vgl. Urban (wie Anm. 6), S. 17.
[ii] Piene (wie Anm. 9), S.16.
Ein derart immersives Environment, dass die frontale Ausrichtung sowohl von Theater, wie es in unseren Breiten praktiziert wird, wie von Kino durchstreicht, ist ein wesentliches Merkmal auch anderer Expanded Cinema-Experimente der 1960er-Jahre. Der vielfach zitierte Movie-Drome, den der experimentelle Filmemacher Stan Vanderbeek (1927-1984) 1965 in einen Silo einbaute,[i]gehört ebenso dazu wie das in Youngbloods Buch vorgestellte Space Theater, 1960, von Milton Cohen. In seinem Manifest schrieb Vanderbeek 1965:
„In einem halbkugelförmigen Kuppelraum werden Bilder aller Art gleichzeitig auf die gesamte Innenfläche projiziert… die Zuschauer legen sich am Außenrand des Raumes nieder, mit den Beinen zum Mittelpunkt, so dass sie fast die gesamte Leinwand im Blick haben. Tausende von Bildern würden auf die Leinwand projiziert werden […]… die Zuschauer nehmen das in sich auf, was sie auffassen wollen oder können …und sie ziehen daraus ihre Schlüsse.“[ii]
Die Idee einer kuppelförmigen Projektionsfläche, die als Architektur Buckminster Fullers zeitgleich popularisierte geodätische „Dome“-Konstruktionen evoziert, verändert den Raum des Theaters, des Kinos, einer Aufführung in ein neuartiges Interface zwischen Bild/Ton und Betrachter*in.
[i] Vgl. Gloria Sutton, The Experience Machine: Stan VanDerBeek’s Movie-Drome and Expanded Cinema, Cambridge (Massachusetts) 2015; Material und Abbildungen zu Movie Drome findet man in einer Broschüre unter: http://stanvanderbeek.com/_PDF/moviedrome_final.pdf (28.08.23).
[ii] Stan Vanderbeek, „‚Culture Intercom‘ und ‚Expanded Cinema‘ (1965), in: Avantgardistischer Film 1951-71: Theorie, hrsg. von Gottfried Schlemmer, München 1973, S. 57-60, hier S. 59.
Vorausgegangen waren der Arbeit von Piene zwei weitere, die in der Literatur als Performance oder Multimedia-Theater bezeichnet werden.[i] Und nicht zuletzt schloss sich 1968 die Kollaboration mit Aldo Tambellini zu Black Gate Cologne an, eine Kooperation mit dem Westdeutschen Rundfunk und zugleich eine höchst interessante Form von Intermedia-Theater, die im technisch aufgerüsteten neuen Studio des WDR als Live-Performance stattfand und aufgezeichnet wurde.[ii]
[i] Stephan von Wiese, Susanne Rennert (Hrsg.), Otto Piene. Retrospektive 1952-1996, Köln 1996, S. 185; Ketner (wie Anm. 6), S. 164-165.
[ii] „Black Gate Cologne is considered to be the first television show realized by visual artists. In a WDR studio (at the invitation of Werner Höfer and Wibke von Bonin), several cameras are used to record a live event with audience participation. The image and sound material is electronically condensed, with a 23-minute version broadcast on WDR on January 26, 1969.“ Ludwig Forum für international Kunst, Video Archive, https://videoarchiv-ludwigforum.de/in-context/ja/otto-piene-and-aldo-tambellini-black-gate-cologne-cologne/ (23.08.23).
1968 fand Otto Pienes erste Zusammenarbeit mit dem institutionalisierten Theater statt: Für die Uraufführung der Oper Die Geschichte von einem Feuer (Komposition: Dieter Schönbach; Libretto: Elisabeth Borchers) während der Kieler Woche erarbeitete er einen Teil der Szenografie, unter anderem vier Lichtskulpturen Titelsäule, Sleepwalker, Osramsatellit undSchwarzer Stern betitelt.[i] „Die Projektionen ihres Lichtballetts gehen mit den pneumatischen Gebilden und Aktionen und der Geräuschcollage eine dramatische Verbindung ein“, hieß es im Programmheft.[ii] 1969 wurde die so genannte Multimedia-Oper in überarbeiteter Form in Münster gezeigt. Nicht realisieren konnte Piene allerdings seine Idee, die Lichtskulpturen auch im Publikum zu platzieren und so die Trennung von Bühne und Zuschauerraum zu überbrücken.[iii] Engelbach verweist auf einen Textbeitrag Pienes im Münsteraner Programmheft, der sehr an den Text erinnert, der unter dem Titel Pneumatisches Theater 1968 in dem Band Bühne und bildende Kunst im 20. Jahrhundert[iv] erschien. Seine Kritik am institutionalisierten Theater ist umfassend und konzentriert sich auf dessen Raumordnung, unter anderem heißt es da: „Eine Möglichkeit, neue Bedingungen fürs Theater zu schaffen, ist, neue Theater zu bauen.“ Oder: „Das stationäre Theater, das als Ganzes, also innen und außen, völlig variabel und anpassungsfähig ist, ist ein weiteres Ziel. […] Das mobile Theater, das sich fortbewegt und gleichzeitig die Form ändert, wird ein weiterer Schritt sein. […] Warum das alles? In diesem Fall für Bewegung im Theater.“[v]
[i] Engelbach (wie Anm. 40), S. 48.
[ii] U.a. findet man im Internet-Archiv des SPIEGEL eine Rezension unter dem Titel „Licht und Lärm“ vom 23.6.1968, siehe: https://www.spiegel.de/kultur/licht-und-laerm-a-03ae5e43-0002-0001-0000-000046020924 (25.08.2023).
[iii] Engelbach (wie Anm. 40), S. 26.
[iv] Vgl. Henning Rischbieter (Hrsg.), Bühne und bildende Kunst im XX. Jahrhundert. Maler und Bildhauer arbeiten für das Theater, Velber 1968.
[v] Otto Piene, „Pneumatisches Theater“ (1967), in: Rischbieter (wie Anm. 51), S. 258-259, hier S. 259.
Die Verbindung zu Ideen und Projekten des Essener Architekten Werner Ruhnau (1922-2015), der unter anderem mit Yves Klein (1928-1962) zusammengearbeitet hatte, sind auffallend.[i]Und auch: Welch grundlegende Bedeutung für die Veränderung zu einem neuen Theater die räumliche Anordnung hat.
Für die Spielzeit 1968/69 dann fragte die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf die drei ZERO-Künstler an, gemeinsam mit dem Choreografen Erich Walter (1927-1983), jeweils einen Ballettabend zu gestalten. Sicherlich waren solche Kooperationsangebote auch von der Zusammenarbeit von Merce Cunnigham (1919-2009)/John Cage mit zeitgenössischen Künstlern beeinflusst[ii] – 1964 schon konnte man ihre Arbeit durch die Welttournee der Company in Performance kennenlernen.
[i] Vgl. Barbara Büscher, „Mobile Spielräume“, in: Raumverschiebung. Black Box – White Cube, hrsg. von Barbara Büscher, Verena E. Eitel, Beatrix v. Pilgrim, Hildesheim 2014, S. 43-60; Vgl. Claudia Blümle, Jan Lazardzig (Hrsg.), Ruinierte Öffentlichkeit. Zur Politik von Theater, Architektur und Kunst in den 1950er Jahren, Berlin, Zürich 2012.
[ii] Vgl. Barbara Büscher, „Gegenseitige Durchdringung und Nicht-Behinderung. Über das Verhältnis zweier Performance-Systeme“, in: MAPmedia archiv performance, Nr. 3, 2012 https://perfomap.de/map/3/kapitel1/Gegenseitige%20Durchdringung (28.08.2023).


„Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker arbeiten auf der Bühne mit dem Werkstoff Licht; durch die von ihnen benutzten Materialien lassen sie dessen Bewegungen sichtbar werden. Sie haben keine Hintergrundprospekte geschaffen, vor denen sich etwas abspielt, sondern sie erreichten, dass das Bühnenbild selbst mitwirkt, ja direkt mittanzt.“[i]
[i] John Matheson, „Vom Künstler und vom Theater“, in: Kunst und Bühne. Düsseldorfer Künstler als Bühnenbildner, Ausst.-Kat. Stadt-Sparkasse Düsseldorf, Düsseldorf 1981, o.S.
Ob und wie die Licht-Bewegungen, die dem Raum eine eigene Performance hinzufügten, tatsächlich in ein produktives Verhältnis zur Choreografie beziehungsweise der Tänzer*innen-Bewegung tritt, lässt sich aus dem zugänglichen Material nicht rekonstruieren. Im Katalogheft zur Ausstellung Kunst und Bühne. Düsseldorfer Künstler als Bühnenbildner[i] aus dem das obige Zitat stammt, wird bedauert, dass die „neoklassisch-konventionelle Bewegungssprache des Choreographen“ ein Hindernis auf dem Weg zu einer neuen „Bühnensynthese war“.[ii]
Heinz Mack und vor allem Günther Uecker haben auch weiterhin für das Theater/Musiktheater gearbeitet. Mack entwarf zum Beispiel 1973 für die Inszenierung von Wagners Tristan und Isoldedes Regisseurs Nikolaus Lehnhoff (1939-2015) im antiken Arenatheater von Orange, Frankreich, das Bühnenbild. Er schrieb in diesem Zusammenhang:
[i] Ebd.
[ii] Christiane Kluth, „Der Ballettabend oder Drei Lösungsvorschläge zur tänzerischen ‚Bühnensynthese‘, in: Stadt-Sparkasse Düsseldorf (wie Anm. 55), o.S.

„Das Bild im Bühnenbild hat mich eigentlich nie interessiert. In diesem Sinne faszinierte mich allein schon die leere Bühne […]. Die Erfahrungen, die ich hier machen konnte, erweiterten meine Erfahrungen außerhalb der Kunsthallen und Galerien: ich suchte auf der Bühne das räumliche Abenteuer, und diese Bühne sollte fast ausschließlich von Licht erhellt, erfüllt, gestaltet sein, das einzig und allein den Raum sichtbar und erlebbar macht, unterstützt durch die Choreographie der Bewegung.“[i]
[i] Heinz Mack (1974), in: Stadt-Sparkasse Düsseldorf (wie Anm. 55), o.S.
Auch Günther Uecker hat für eine Tristan und Isolde-Inszenierung 1981 in der Regie von Götz Friedrich (1930-2000), mit dem er mehrfach zusammenarbeitete, Bühnenbild und Kostüm realisiert. Uecker sieht den Fokus darin: „Das Bühnenbild ist hier nicht Illustration, sondern Instrument. Die Musik wird sichtbar gemacht, sie wird wahrnehmbar in den Zwischenräumen der optischen Strukturen.“[i]
Die grundlegende Raumanordnung des traditionellen westlichen Theaters bleibt allerdings unangetastet.
Theater ist ein Haus, eine Institution, eine Raumordnung.
Auf einer Oberfläche scheint es so, als würde der Gang durch die performativen, theatralen Praktiken der bildenden Künstler*innen der 1960er-Jahre in die ungerührt konservative Institution Theater führen. Wie hin und wieder angesprochen, ohne es hier weiter ausführen zu können, haben all diese Unternehmungen jedoch deutliche Verschiebungen in und zwischen den Künsten herbeigeführt, die zu vielfach aufgefächerten performativen und theatralen Formen und zu einer erweiterten Idee von Aufführungskünsten geführt hat. Dazu gehört auch dieses mein Verständnis:
Theater ist eine Konstellation von Akteur*innen (menschlichen und nicht-menschlichen) in Bewegung im Raum, zu sehen und zu hören.
Theater entwickelt sich zwischen Ausführen und Aufführen.
[i] Günther Uecker, „Verlassen wir die Opera als Ort der Pietät!“ (1977), in: Stephan von Wiese (wie Anm. 21), S. 160.
Mehr zu Theater



Endnotes
U Utopie
Strahlende Bilder gegen die bleierne Schwere oder die Frage, was ist Utopie?
Barbara Könches
Kaum jemand wird ihn heute noch kennen: Helmuth de Haas (1928-1970), Lyriker, Übersetzer und von 1955 an für einige Jahre Kulturkorrespondent für Die Welt. Ende der 1960er-Jahre sollte er die Kult-Zeitschrift Twen retten und kam dabei selbst zu Tode.[i] De Haas schrieb Essays, die bis heute einen lebendigen Eindruck in eine Zeit vermitteln, die als „bleiern“ abgestempelt, von den Nachgeborenen wenig beachtet wird. Als aufregender, revolutionärer, bunter, schillernder, aber auch moralischer, ehrlicher und aufrichtiger gelten die Jahre rund um die von San Francisco bis Berlin sich ausbreitende Bewegung der Hippie/Flower-Power/´68er-Generation. Doch legt sich einmal der aufgewühlte Staub, entdeckt man Wurzeln da, wo vorher nur Ödland vermutet worden war und auch die 1950er-Jahre haben Visionen und Träume zu bieten.
[i] Alexander Rost in dem Nachruf für de Haas: „Ein Magengeschwür war durchgekrochen. Eine Lungenentzündung kam hinzu“, in: ders., „Vier Feststellungen. Zum Tode des Journalisten Helmuth de Haas“, Die Zeit, 30. Oktober 1970, https://www.zeit.de/1970/44/vier-feststellungen, (12.02.2024). Über die Querelen in der Zeitschrift Twen berichtete Der Spiegel 48/1970, 22.11.1970, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-44302998.html (letzte Sichtung 01.01.2019).De Haas übersetzte auch den Text “Das Wahre wird Realität“ von Yves Klein für ZERO 3, s. Archiv der ZERO foundation, Nachlass von Otto Piene, mkp.ZERO.2.VI.2. Ein anderer Text von de Haas über Yves Klein wurde in ZERO 3 nicht veröffentlicht, da die Herausgeber entschieden hatten, nur Beiträge der beteiligten Künstler zu veröffentlichen, s. Archiv der ZERO foundation, Vorlass Heinz Mack, mkp.ZERO.1.I.785.

„Griff in die Stratosphäre“ betitelte Helmuth de Haas einen Text[i] über die Verfilmung von Kampf (sic) der Welten[ii], der im Januar 1954 in Deutschland zum ersten Mal zu sehen war. In 13 Zeilen fasste de Haas das dramaturgische Geschehen um einen feindlichen Angriff der Marsbewohner gegen den Planeten Erde zusammen. Bereits im ersten Satz charakterisiert er die Romanvorlage von Herbert George Wells (1866-1946) als „utopisch“, um wenig später einzugrenzen, dass außer den „Drucktastenfinger[n] und schwache, lichtscheue Marsaugen“ die Geschehnisse „uns vertraut“ seien: „Angriff aus der Luft, zerstörte Städte, Evakuierung …“.[iii]
[i] Helmuth de Haas, „Griff in die Stratosphäre“, in: ders. Das geteilte Atelier. Essays, Düsseldorf 1955, S. 163-169.
[ii] Kampf der Welten (USA 1953, R: Byron Haskin). Bekannt wurden Film und Roman in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Krieg der Welten.
[iii] De Haas (wie Anm. 2), S. 163.

Sehr schnell machte de Haas klar, dass entgegen der filmischen Fiktion in der Realität nicht die Erde angegriffen werde, sondern im Gegenteil die Menschheit sich startklar mache, das Weltall zu erkunden oder zu erobern. Fast möchte man meinen, den Ton Paul Virilios (1932-2018) avant la lettre zu hören[i], wenn de Haas konstatiert: „Wir treiben auf eine Geschwindigkeit zu, die eines Tages dem absoluten Ruhepunkt identisch sein wird.“[ii] Bald kommt de Haas in seinem Essay auf den französischen Piloten und Dichter Antoine de Saint-Exupéry (1900-1944) zu sprechen, den er in einen weitreichenden Bezug setzt:
[i] Vgl. Paul Virilio, „Ästhetik des Verschwindens“, Berlin 1986. Paul Virilio, „Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung“, Frankfurt am Main 1991. Paul Virilio, „Rasender Stillstand“, Frankfurt am Main 2002.
[ii] de Haas (wie Anm. 2), S. 165.

„Der hektische, fallgrubenreiche, unverläßliche Zeitgeist scheint sich mit den Stratosphärenfliegern und ihren Auftraggebern einer Gruppe von Menschen bemächtigt zu haben, von Menschen, wie es sie immer schon gab, auf das Äußerste, Unerreichbare gespannte Wesen und Existenzen, deren körperlich-geistiges Dasein ein einziger Griffel werden kann, mit dem die Epoche einen neuen Absatz schreibt.“[i]
[i] de Haas (wie Anm. 2), S. 168.
Den tiefen Eindruck, den die Lektüre der literarischen Werke des Berufsfliegers auf de Haas ausübte[i], darf man als paradigmatisch für die Zeit des Nachkriegs-Deutschland ansehen[ii], dessen Kommentatoren sich durchaus bewusst waren, dass etwas Neues bereits begonnen hatte[iii].
Ein solcher „Griffel“ zu sein, diejenigen zu sein, die sich in ihrer körperlich-geistigen Existenz in eine neue Zeit einschreiben, einzeichnen, einfügen wollten, waren junge Künstler wie Heinz Mack (*1931) und Otto Piene (1928-2014). Das rein subjektive Psychogramm einer isolierten Seelenlandschaft, das bislang von den Malern des Informel thematisiert wurde[iv], erschien ihnen ebenso unangemessen wie das äußerliche Flanieren entlang der „Bilder, der alten Welt … mit schweren Rahmen armiert“, die den Beschauer ins Bild zwängen, wie Otto Piene es 1961 im legendären Magazin ZERO 3 formulierte.[v]
[i] Auch heutzutage schlägt Saint-Exupéry Künstler*innen aus aller Welt, wie die indonesische Künstlerin Tintin Wulia, wieder in seinen Bann, vgl: https://www.guggenheim.org/blogs/map/art-and-geography (letzte Sichtung 12.02.2024).
[ii] Der nach dem Krieg von Leipzig nach Düsseldorf übersiedelte Karl Rauch Verlag erwarb die deutsche Lizenz für einige der Schriften des Piloten, darunter sein bis heute populärstes Buch, Der kleine Prinz. In einer Spiegel-Umfrage 1952 werden sowohl Der kleine Prinz wie auch Stadt in der Wüste desselben Autors als Bestseller genannt. N.N., „Die Bestseller des Jahres“, in: Der Spiegel, (30. Juli 1952, Nr. 31), Hamburg 1952, S. 32.
[iii] Vgl. unter anderem N.N., „Wohnbirne unterm Himmel“, in Der Spiegel, (5. Januar 1950, Nr. 1), Hamburg, S. 35-36. Der Artikel beginnt: „Was in der Physik jetzt geschieht, wird unser Leben vollkommen umgestalten. Atomenergie und Großrakete sind bedeutungsvoller als Besatzungsstatut und Friedensverträge.“
[iv] So empfanden die ZERO-Künstler das Informel, vgl. Sylvia Martin, „ZERO, Azimut und ihr Verhältnis zum Informel“, in: Impulse – Informel und Zero in der Sammlung Ingrid und Willi Kemp, Ausst.-Kat. Ratingen, Bönen (Westfalen) 2006, S. 19-24.
[v] Otto Piene, „Wege zum Paradies“, (Wiederabdruck) in: Dirk Pörschmann/Mattijs Visser (Hg.), 4 3 2 1 ZERO, Düsseldorf 2012, o. S.
Piene träumte davon, „den Himmel mit farbigen Zeichen und künstlichen und provozierenden Feuersbrünsten zu illuminieren.“[i] Und er betonte in diesem programmatischen Text zwei Dinge: Zum einen die unauflösliche Einheit von Körper und Geist und zum zweiten die Zielsetzung seiner Himmelskunst, die dem Lob der Freiheit dienen sollte. Der damals 33-Jährige, der nach dem Kunststudium an der Staatlichen Akademie in Düsseldorf von 1953-1957 an der Universität zu Köln Philosophie studiert hatte – wie auch Heinz Mack –, betonte am Ende seines Textes über die „Wege zum Paradies“, dass er in und mit seiner Kunst etwas Reales anzubieten habe, nämlich die Erweiterung des Raumes, die Expansion der freien Kunst. Utopien, so hält er dagegen, kämen aus der Literatur, man könnte auch sagen, sie entsprechen dem geschriebenen Wort.
[i] Piene (wie Anm. 12), o. S.
[ii] Piene (wie Anm. 12), o. S.
„Utopien“, so Piene, „die eine reale Basis haben, sind keine Utopien. Meine Utopien haben eine solide Grundlage: Licht und Rauch und 12 Scheinwerfer! Ich habe etwas Reales anzubieten.“[ii]

Ebenso stößt man bei Heinz Mack bereits 1959 in seiner als „endgültig“ charakterisierten Fassung des Sahara-Projekts[i] auf das eindeutige Bekenntnis zur Realität, die es durch wagemutige Projekte um eine „ungesehene künstlerische Wirklichkeit“ zu erweitern gelte.[ii]
[i] Abgebildet als Faksimile, in: Wieland Schmied (Hg.), Utopie und Wirklichkeit im Werk von Heinz Mack, Köln 1988, S. 16.
[ii] Schmied (wie Anm. 15), S. 21.
Ebenfalls in ZERO 3 betont Günther Uecker (*1930) den Prioritätsanspruch der Realität, in der es darauf ankäme, die Freiheit zu erringen:
ZERO war die erste Kunst, die das Museum verlassen hat, um mit Licht, Luft, Feuer und Wasser zu arbeiten, anstatt mit Pinsel und Palette zu malen. Dadurch konnten und wollten die Künstler, die sich lose um Ausstellungsprojekte und Publikationen zu einer Art Netzwerk verbunden hatten,[i] den Raum erkunden und den/die Betrachter*in für die natürlichen Elemente sensibilisieren, um eine Umwelt im Sinne Jakob von Uexkülls (1864-1944), um den „blauen Planeten“[ii], zu begreifen.
Das künstlerische Unterfangen war kein utopisches Projekt,[iii] sondern eines das sich an dem Ideal eines fliegenden Poeten à la Saint-Exupéry orientierte, zumal da viele der künstlerischen Pläne realisiert worden sind. Heute, da Ökologie einen so wichtigen Stellenwert einnimmt, darf man die Kunst ZEROs als eine dies Antizipierende beschreiben.
[i] Vgl. „Z wie ZERO. Protokoll eines Workshops“ in dieser Publikation.
[ii] Vgl. Florian Hildebrand, „Blaue Kugel am Horizont, in: Deutschlandfunk Kultur, 15.08.2009, https://www.deutschlandfunkkultur.de/blaue-kugel-am-horizont.984.de.html?dram:article_id=153476 (letzte Sichtung 12.02.2024).
[iii] Ich kann der These von Dirk Pörschmann, ZERO sei ein utopisches Projekt gewesen, nicht folgen. Vgl. Dirk Pörschmann, „Ins Gelingen verliebt: Utopia ZERO“, einzusehen: http://briefeanfraublog.de/wp-content/uploads/2017/10/2014_Poerschmann_Ins_Gelingen_verliebt.pdf, S. 1-10, hier S. 9, (letzte Sichtung 19.2.2024), abgedruckt in Dirk Pörschmann/Margriet Schavemaker (Hg.), Zero. Die internationale Kunstbewegung der 50er und 60er Jahre, Köln 2015, S. 225-233. Formulierungen dieser Art finden sich dann auch an anderer Stelle wie bei Jill Michelle Holaday, Die Gruppe Zero: Working Through Wartime Trauma, Unveröffentlichte Dissertation, Iowa 2018, S. 129, S. 239.
Wann und warum wurde ZERO in der Fachliteratur als eine utopische Kunst bezeichnet? Dies herauszufinden, bleibt ebenso Aufgabe für die kommenden Jahre, wie das Missverständnis auszuräumen, dass die ZERO-Zielvorstellungen „der gesellschaftlichen Realität kurz vor den Studentenunruhen nicht mehr entsprach“, wie es in einer Veröffentlichung über die Kultur der Gegenwart heißt.[i]
[i] Ralf Schnell (Hg.), Metzler Lexikon. Kultur der Gegenwart, Stuttgart/Weimar 2000, S. 554.
Was ist mit „Utopie“ gemeint?

Was ist mit „Utopie“ gemeint? Utopie, so liest man in jedem Lexikon, benennt den Nicht-Ort, den Noch-Nicht-Ort, den Ort-außerhalb oder den zukünftigen-Ort. Wenn man bedenkt, dass der Begriff 1516 mit dem Roman Über die beste Staatsordnung und die neue Insel Utopia von Thomas Morus geprägt wurde, wird deutlich, dass die Begriffskonnotation von Ort/Raum bzw. von Nicht-Ort, also Utopie, 1950 gänzlich eine andere gewesen sein muss als die ursprüngliche oder die eines zukünftigen utopischen Raumes.
Um die Mitte des 20. Jahrhunderts galt das Fernsehen als mögliche Schwelle zwischen Realität und Utopie. Längst stand es in den „amerikanischen Wohnungen und Snack Bars, in Hotelzimmern und werbungsbewegten Schaufenstern“, wie Helmuth de Haas[i] schrieb und im Weiteren ausführte, dass es zur „Typologie des Fernsehwitzes“ gehöre, dass das „auf dem Bildschirm ablaufende Geschehen“ ins Zimmer schwille oder „das Geschehen auf der Leinwand“ den Zuschauer „‚in den Apparat hinein‘“ locke.[ii] Nichts davon ist geschehen und im Jahr 2024 erscheint das einst utopische Medium als weit abgeschlagen, das dort aufgestellt wird, wo sein Stammpublikum sitzt: im Altersheim. De Haas „Gegenmittel“ jedoch, bleibt aktuell:
[i] Helmuth de Haas, „Utopie und Fernsehwitze“, in: ders. Das geteilte Atelier. Essays, Düsseldorf 1955, S. 169-173, hier S. 171.
[ii] Hellmuth de Haas 1955 (wie Anm. 22), S. 172.

Dort in der Poetik der Realität treffen die künstlerischen Vorstellungen einer Generation aufeinander, die den zu weit abgelegenen, idealisierten Räumen zutiefst misstraute[i].
In dem Interview „Die Einnagelung ins Bewußtsein“ erklärte Günther Uecker 1970 seinem Gesprächspartner Rolf-Gunter Dienst:
[i] Es ist die typische ZERO-Generation der zwischen 1925 und 1935 Geborenen, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder und Heranwachsende miterlebten, teilweise als sogenannte Flakhelfer am Krieg teilnehmen mussten.
„So, wie sich Situationen in meinen Reliefs modellhaft darstellen, so stellt sich durch Einwirkungen in den tatsächlichen Raum nach meiner Meinung etwas realer dar. Die Imaginationsfreiheit ist nicht fixiert. Sie ist offener in der natürlichen Bewegung jedes Menschen und abzuleiten aus seinen Umwelterfahrungen oder auch umgekehrt. Hier werden Erfahrungen von meinen Objekten und von den Zuständen, die ich meine, durch das Bewußtsein auf die Umwelt übertragen, man findet die Umwelt anders und bewußter vor.“[i]
[i] Zit. nach Günther Uecker. Schriften, hrsg. von Stephan von Wiese, St. Gallen 1979, S. 126-134, hier S. 127.

Auch Otto Piene ist weit davon entfernt, utopische Träume zu skizzieren, wenn er 1969 in der Zeitschrift artscanada folgende Forderung aufstellt:
„As the world expands so does art, it has to. If it doesn´t it will go under, and when art goes under the world will cease to live, because art is the force that binds body, brains and soul. […] We, the artists with serious concerns, have to face reality, wake up, move out of the art world and embrace the void.”[i]
[i] Otto Piene, “Sky Art – A Notebook for a Book”, in: artscanada, Toronto, Juni 1969, S. 12–22, hier S. 14.
Auch Heinz Macks Traum von der Kunst in einer weiten Wüsten-Landschaft blieb keine Schimäre. „Plötzlich sagte der Aufnahmeleiter, Hans Emmerling: Da Mack so viel von seinem Vorhaben in der Sahara zu berichten habe, solle man dorthin fahren und da den Film fertigstellen“, so erzählen es Robert Fleck und Antonia Lehmann-Tolkmitt in ihrem Buch Heinz Mack. Ein Künstler des 21. Jahrhunderts[i] und kommen zur Schlussfolgerung:
[i] S. Robert Fleck, Antonia Lehmann-Tolkmitt, Heinz Mack. Ein Künstler des 21. Jahrhunderts, München 2019, S. 58. Auch Fleck und Lehmann-Tolkmitt halten am Begriff der Utopie fest.
„Der Umstand, dass die Stelen unterschiedlicher Art nur für die Dauer der Aufnahmen in der tunesischen Sandwüste aufgestellt waren, verweist auf einen weiteren Aspekt des Sahara-Projekts. Es handelt sich um eines der ersten medial gedachten Kunstwerke in der europäischen Avantgardekunst der 1960er- und 1970er-Jahre. […] Auf der anderen Seite der Kamera stand in diesem Fall, medientheoretisch gesprochen, nicht der Künstler, sondern das Publikum der frühen Mediengesellschaft“[i],
[i] Fleck, Antonia Lehmann-Tolkmitt (wie Anm. 27), S. 61.
deren überzeugendstes Instrument das Fernsehen war.

Somit schließt sich der Kreis der Argumentation und deutlich wird, dass die Düsseldorfer ZERO-Kunst weniger auf dem programmatischen Sockel einer philosophischen Utopie nistete als auf einem für die damalige Zeit vorrausschauenden medientheoretischen Fundament. Die Inspiration hierzu gaben die Inszenierungen Yves Kleins wie Aerostatic Sculpture, 1957, in der Pariser Galerie Iris Clert[i] und bald folgten die ZERO-Künstler mit eigenen Aktionen wie ZERO: Edition, Exposition, Demonstration, 1961, vor der Galerie Schmela und bewiesen wie meisterlich sie mit Öffentlichkeit – realer wie medialer – umgehen konnten.[ii] Nicht zuletzt die Herausgabe der Magazine ZERO 1-3 zeigt deutlich, dass den Künstlern die Stärke, die Möglichkeiten und der Einfluss von Medien bewusst war, die sie bis 1966 zusammen, nach der Auflösung von ZERO jeder individuell einzusetzen wussten.
Joe Ketner (1955-2018) untersuchte diese Beziehung ausführlich in seinem Buch Witness to Phenomenon mit dem Ergebnis:
[i] S. https://www.yvesklein.com/en/ressources/index?s[]=6&sb=_created&sd=desc&p[]=1954-1957#/en/ressources/view/artwork/645/aerostatic-sculpture (zuletzt 12.02.2024).
[ii] Vgl. Klaus Gereon Beuckers, Christine Korte-Beuckers, for any instrument. Die Anfänge der Aktionskunst in den 1950/60er Jahren im Rheinland, München 2021. Vgl. „X = 0 X 0 = Kunst” in dieser Publikation.
„The visual experience that they created manifest in a variety of forms and new media, including monochrome painting, kinetic art, assemblage, performance, technology, and environmental installations. […] In the course of a long decade they introduced some fundamental changes to the visual arts, incorporating nontraditional materials and new technologies that divorced the artistic enterprise form that mark, the touch and individual expression. […] ZERO and new tendency artists introduced a host of new media and ideas into art.”[i]
[i] S. Joseph D. Ketner II, Witness to Phenomenon. Group ZERO and the Development of New Media in Postwar European Art, New York 2018 (International Texts in Critical Media Aesthetics, Vol. 12), S. 261-262.
Als Resümee lässt sich festhalten, dass es weniger der Gedanke an utopische Bilder war, der die ZERO-Künstler prägte, als der Gedanke an offene Räume, topografische wie topische, soziale wie politische, die von der traditionellen Kunst noch nicht besetzt waren. Die Kunst am Himmel, die Kunst aus Feuer, die Kunst im Licht boten ebensolche Räume, die es zu entdecken und zu nutzen galt. Es waren die sogenannten Utopien auf solider Grundlage, die Verteidigung offener Räume als Möglichkeit für Freiheit und damit für Demokratie.





Endnotes
V Volt
Antriebsenergie für ZERO
Romina Dümler Rebecca Welkens Nicole Reds Martina Kerkhoff
Elektrischer Strom, dessen Spannung in der Maßeinheit Volt angegeben wird, ist die unerlässliche Antriebsenergie für viele Werke der ZERO-Künstler*innen. Sie strebten nach einer Verbindung von Kunst, Mensch und Technik, was sich in ihren Arbeiten aus den späten 1950er und 1960er Jahren und insbesondere in den verwendeten Materialien widerspiegelt. Glühlampen und elektrisch betriebene Motoren zeugen beispielsweise in den Lichtballetten von Otto Piene (1928–2014) oder den beleuchteten Chronotopi von Nanda Vigo (1936–2020) von der Auseinandersetzung der Künstler*innen mit Technik. Ebenso machen sie den Stellenwert von Technik für das jeweilige Oeuvre sichtbar, handelt es sich bei den genannten Beispielen doch auch um Schlüsselwerke, denen langjährige Beschäftigungen mit den zeitgenössischen technischen Möglichkeiten und ihrer Nutzbarmachung für die eigene Kunst vorausgingen.
Heute stellen die lichtkinetischen Werke, die aus den 1950er und 1960er Jahren stammen, für die Konservator*innen eine besondere Herausforderung dar, weil die technischen Geräte und Leuchtmittel im Laufe der vergangenen 70 Jahre mittlerweile Abnutzungserscheinungen aufweisen oder zum Teil schlichtweg nicht mehr funktionieren.[i] Die intendierte Wirkung, die sich aus den spezifischen Funktionen der elektrischen Werke ergibt, lässt sich heute kaum mehr reproduzieren, wenn bestimmende Faktoren wie die richtigen Glühlampen nicht mehr hergestellt werden.
[i] Im Rahmen der Ausstellung Zero ist gut für Dich: Mack, Piene, Uecker in Bonn, 1966/2016 fand am 8. Dezember 2016 das Symposium Light On / Off: Reconstruction and Presentation of Light Installations im LVR-Landesmuseum in Bonn statt. Im Zuge des Symposiums wurde 2018 ein Begleitband zur Tagung veröffentlich. ZERO foundation (Hrsg.), Light on / off. Restaging ZERO, Düsseldorf, Bonn 2018.
Das Interview mit den Restauratorinnen Nicole Reds und Martina Kerkhoff gibt Einblicke, wie kinetische Kunstwerke durch die Kombination von Fachwissen, handwerklichem Geschick und Archivrecherche im Sinne der Künstler*innen erhalten werden können. An Objekten von Günther Uecker (*1930) und Heinz Mack (*1931) erläutern sie aktuelle restauratorische Vorgehensweisen für elektrisch betriebene Arbeiten. Damit wird ein wichtiger Aspekt der ZERO-Kunst sichtbar, der sonst im Verborgenen bleibt.
ZERO foundation: Stellt euch bitte kurz vor. Was sind eure Aufgaben? Und wie definiert sich eure Zusammenarbeit?
Nicole Reds und Martina Kerkhoff: Die Bewahrung von Kunst- und Kulturgut für zukünftige Generationen ist das Hauptanliegen unserer Tätigkeit als Restauratorinnen. Daran arbeiten wir gemeinsam in dem 2010 von Martina Kerkhoff und Diana Vogel gegründeten Restaurierungsatelier Kerkhoff & Vogel in Bochum.
Zu unseren Aufgabenbereichen gehören neben der Konservierung und Restaurierung von Gemälden, Skulpturen und zeitgenössischer Kunst unter anderem auch die Durchführung kunsttechnologischer Untersuchungen, die Betreuung von Ausstellungen und Kunsttransporten sowie die Betreuung von Depots und Sammlungen.
Um den Kunstwerken bei der Restaurierung in ihrer Authentizität möglichst gerecht zu werden, erfolgt die Entwicklung der Restaurierungskonzepte immer unter Einbeziehung der bestehenden restaurierungsethischen Grundprinzipien. Dazu gehört zum Beispiel nur minimalinvasiv einzugreifen und möglichst eine Reversibilität der umgesetzten Maßnahmen zu gewährleisten. Als Grundlage dienen dabei sorgfältige Analysen und die Abwägung verschiedener Handlungsoptionen. Gerade bei zeitgenössischen, kinetischen Kunstwerken können diese sehr komplex sein, da oftmals nicht nur die Erhaltung der Originalsubstanz relevant ist. Für die Bewahrung ihrer Werkbedeutung können auch weitere Faktoren wie Funktionalität oder die ursprüngliche künstlerische Intention entscheidend sein.
Zf: Vor kurzem habt ihr ein wichtiges Restaurierungsprojekt abgeschlossen, denn die Kunsthalle Recklinghausen präsentierte ihre Sammlung neu – darunter zwei ZERO-Werke: Hommage à Broadway von Günther Uecker, 1965, und Lichtdynamo von Heinz Mack, 1963. Wie kam es dazu?


NR, MK: Zu unseren regelmäßigen Auftraggeber*innen zählen auch einige der RuhrKunstMuseen, darunter die Kunsthalle Recklinghausen. Der 2021 ans Museum gewechselte neue Direktor Nico Anklam veranlasste als eine seiner ersten Amtshandlungen die gemeinsame Sichtung des Außendepots, bei welcher einige kinetische Kunstwerke zutage traten, die nicht ausstellungsfähig und restaurierungsbedürftig waren. Darunter befanden sich auch die von euch genannten Werke. Daraufhin untersuchten wir sie genauer und analysierten ihren Erhaltungszustand. Auf dieser Grundlage erfolgte die Entwicklung der Restaurierungskonzepte mit dem Ziel, die Objekte wieder in einen ausstellungsfähigen Zustand zu versetzen.
Zf: Was sind die Besonderheiten der beiden Werke?
NR, MK: Sowohl bei Hommage à Broadway als auch beim Lichtdynamo handelt es sich um es Objektkästen mit einer runden Rotorscheibe im Inneren. Sie haben gemeinsam, dass die Bewegung dieses Rotors ein integraler Bestandteil ihrer Werkidentität ist. Erst die Drehung des Rotors ermöglicht die künstlerisch intendierten optischen Effekte.




Bei dem Lichtdynamo von Heinz Mack ist die Rotorscheibe mit vertikal aufstehenden Lamellen strukturiert und mit verschiedenen Materialien silbern gestaltet. Der Kasten selbst ist mit einer gewellten Scheibe verglast. Sofern sich der Rotor dreht, erzeugen die Lamellen zusammen mit der davorliegenden Scheibe eine Interferenz – also eine optische Überlagerung. Das führt zu fließenden Bewegungen und dem Eindruck von Wasser oder flüssigem Glas. Außerdem scheint es, als würden sich die Strukturen in verschiedene Richtungen bewegen, obwohl sich tatsächlich die gesamte Scheibe in eine Richtung dreht.
Das Objekt Hommage à Broadway von Günther Uecker beinhaltet eine hölzerne, mit Leinwand bezogene Rotorscheibe, die mit zahlreichen Nägeln beschlagen und gebrochen weiß gefasst ist. Sie wird seitlich angestrahlt, sodass die Nägel in einem starken Streiflicht erscheinen. Durch die Rotation der Scheibe ergibt sich ein stetiges Wechselspiel aus Licht und Schatten und eine komplexe, sich verändernde kinetische Struktur.
Dabei wird die visualisierte Bewegung bei beiden Objekten durch einen rückseitig angebrachten Elektromotor initialisiert. Im Unterschied zu Macks Lichtreliefs, die das externe Licht reflektieren, enthält das lichtkinetische Nagelobjekt von Uecker außerdem mehrere innenliegende Lichtquellen. Durch diese Lichtquellen hat Uecker die Lichtsituation des Werkes genau definiert und von äußeren Gegebenheiten weitgehend unabhängig gestaltet. Um die authentische Erfahrbarkeit des Kunstwerks wieder zu ermöglichen, war uns daher für die Restaurierung auch die Beibehaltung der ursprünglich intendierten Beleuchtungssituation besonders wichtig.
Zf: Welche Herausforderungen ergaben sich bei der Restaurierung der kinetischen ZERO-Werke?
NR, MK: Bei der Übernahme ins Restaurierungsatelier befanden sich beide Objekte in einem instabilen und nicht intakten Zustand, was auch der Anlass für ihre Untersuchung und konservatorische Bearbeitung war. Keines der elektrischen Elemente hat funktioniert, weder die Motoreinheiten noch die enthaltenen Leuchtmittel. Darüber hinaus gab es zahlreiche weitere Schäden wie festsitzende Verschmutzungen, Schimmelpilzbefall, Bestoßungen an den Objektkästen, gelöste Elemente und korrodierte Metallteile.
Eine besondere Herausforderung war bei dem Werk Hommage à Broadway zudem, die Beleuchtungssituation entsprechend der künstlerischen Intention zu rekonstruieren.
Es lagen einige Indizien für einen Umbau der Elektrik vor, bei der die Positionen der Leuchtmittel in den Ecken des Objektkastens in der Vergangenheit verändert worden sind. Allerdings war nicht dokumentiert, durch wen, warum oder zu welchem Zeitpunkt dies stattgefunden hat. Um entscheiden zu können, ob die vorhandene Konstruktion erhaltenswert ist oder ein Rückbau zu einem früheren Zustand eine authentischere Rezeption ermöglicht, stellte sich die dringende Frage, ob Günther Uecker selbst den Umbau vorgenommen hatte beziehungsweise ob dieser von ihm autorisiert worden war oder nicht. Dies hielten wir grundsätzlich für denkbar, da es zu seiner künstlerischen Praxis gehörte, gemeinsam mit Heinz Mack und Otto Piene die kinetischen Lichtobjekte in unterschiedlichen Ausstellungen je nach räumlicher Gegebenheit variabel zusammenzustellen und zu arrangieren. Wie Marcel Hardung, der Sohn des Künstlers, uns mitteilte, wurden in diesem Zuge durchaus noch technische Elemente an den Werken verändert.
Eine weitere Fragestellung ergab sich aus dem Umstand, dass neue, handelsübliche Glühlampen in die Fassungen eingeschraubt waren. Das passt zu der Erfahrung, dass Leuchtmittel in ausgestellten Kunstwerken häufig ausgetauscht werden, wenn sie nicht mehr funktionstüchtig sind. Wird dies nicht dokumentiert, geht aber die Information darüber verloren, welche Leuchtmittel ursprünglich verwendet worden sind. Das ist jedoch sehr relevant für die Erscheinung des Objekts, da es große optische Unterschiede zwischen verschiedenen Leuchtmitteln geben kann, zum Beispiel bei der Helligkeit, der Lichtfarbe, dem Abstrahlwinkel und vielen weiteren spezifischen Kenngrößen.
Als weitere Herausforderung kam hinzu, dass eine historische Natriumdampflampe[i] in dem Objektkasten verbaut war, die in der Vergangenheit über einen zwischengeschalteten veralteten Hochspannungstransformator betrieben worden war. Ihr Betrieb hätte ein erhebliches Sicherheitsrisiko dargestellt, sowohl für das Objekt, da die Lampe extrem heiß wird, als auch für Ausstellungsbesucher*innen, da sie für die Atemwege giftiges Quecksilber enthält und die Gefahr, dass der Lampenkolben zerspringt, recht groß ist. Es stellte sich also auch die Frage, wie wir mit den Sicherheitsbedenken umgehen wollen, und ob es rein technisch gesehen überhaupt möglich ist, eine Natriumdampflampe wieder im Objekt in Betrieb zu nehmen.
[i] Anders als Leuchtstofflampen benötigen Natriumdampflampen keinen fluoreszierenden Leuchtstoff, sondern die Gasentladung von Natriumdampf erzeugt sichtbares Licht. Sie zeichnen sich durch große Helligkeit von kontrastreichem gelb-orangem Licht aus und werden heute überwiegend im Außenbereich genutzt.
Zf: Wie wichtig sind Hintergrundinformationen und tiefgehende Recherche in Archiven für den Prozess der Restaurierung?
NR, MK: Neben den kunsttechnologischen Untersuchungen der Objekte ist eine tiefgehende Recherche oftmals unerlässlich, um ein angemessenes Restaurierungskonzept entwickeln zu können. Gerade bei den beschriebenen Fragestellungen benötigten wir tiefere Einsichten bezüglich der ursprünglichen Präsentation und Ausstellungsgeschichte. Dazu kann die Einbeziehung von Archiven einen wichtigen Beitrag leisten. Archive können viele Informationen liefern, nicht nur über die Künstler*innen, ihre Absichten und die Entstehungszeit der Werke. Sie können auch Dokumentationen von früheren Restaurierungsmaßnahmen enthalten oder technische Unterlagen, die Aufschluss über verwendete Materialien und Techniken geben.
Auch Hinweise an den Objekten selbst beispielsweise in Form von Ausstellungsaufklebern können bei weiterer Verfolgung zu wertvollen Erkenntnissen führen.
Im Falle von Günther Ueckers Hommage à Broadway haben wir dank eines solchen Aufklebers eine historische Aufnahme in einem Ausstellungskatalog gefunden, die entscheidende Hinweise zu einer früheren Beleuchtungssituation und Position der Leuchtmittel geliefert hat.
Darüber hinaus hat sich die Praxis etabliert, Künstler*innen selbst in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen, sofern dies möglich ist. Auch die Befragung von Personen aus dem künstlerischen Umfeld oder von Zeitzeug*innen eröffnet die Möglichkeit, an besonders wertvolle Hintergrundinformationen zu gelangen. So teilte Günter Thorn uns seine Kenntnisse darüber mit, welche speziellen Strahler Günther Uecker in dem Objektkasten ursprünglich als Leuchtmittel verwendet hat und stellte darüber hinaus den gewinnbringenden Kontakt zum Sohn des Künstlers her. Außerdem setzte er gemeinsam mit Hans Ulrich Faust (verstorben 2023) unter anderem den notwendigen Umbau der elektrotechnischen Installation an Ueckers Lichtkasten um.
Zf: Gerade ZERO-Kunst arbeitet mit Licht – auch mit elektrischen Lichtquellen. Inwiefern ist das Thema Nachhaltigkeit für euch in eurem Arbeitsprozess relevant oder kann man Werke der 1950er und 1960er nicht nachhaltig restaurieren?
NR, MK: Wir legen grundsätzlich viel Wert darauf, durch die Verfolgung eines nachhaltigen Ansatzes den ökologischen Fußabdruck in der Restaurierung zu minimieren. Für lichtkinetische ZERO-Kunstwerke kann das zum Beispiel bedeuten, dass LED-Lichtquellen mit einem niedrigeren Energieverbrauch eingesetzt werden, die weniger Wärme erzeugen und eine längere Lebensdauer haben als ältere Technologien. Eine solche Entscheidung muss sorgfältig abgewogen werden, da unter restaurierungsethischen Gesichtspunkten zumeist die Reparatur technischer Geräte oder Leuchtmittel gegenüber ihrem Ersatz priorisiert wird. Hinzu kommt, dass es nicht immer möglich ist, die künstlerisch intendierte Lichtwirkung mittels LED-Technologie zu simulieren. So werden die originalen Halogenstrahler aus Ueckers Lichtkasten heute nicht mehr produziert, die Lichtwirkung ließ sich aber erfreulicherweise mittels LED-Variante zufriedenstellend nachempfinden, wie Marcel Hardung und Günter Thorn bei einem direkten Vergleich beider Leuchtmittel vor Ort bestätigt haben. Für die defekte Natriumdampflampe, die letztendlich wegen der gefährlichen Substanz Quecksilber vorerst nicht wieder in Betrieb genommen wurde, hätte es hingegen keinen adäquaten LED-Ersatz gegeben. Wie komplex diese Entscheidungsprozesse sind und welche Möglichkeiten und Herausforderungen bei der Restaurierung von Lichtinstallationen der Künstlergruppe ZERO auftreten können, beleuchtet die 2018 von der ZERO foundation herausgegebene Publikation Light on / off. Restaging ZERO sehr anschaulich.[i]
[i] Siehe Anm. 1.
Eine weitere Möglichkeit, den Energieverbrauch von elektrisch betriebenen Kunstwerken zu reduzieren, ist die Implementierung von Betriebseinschränkungen während ihrer Ausstellung. Hierfür können Handlungsempfehlungen entwickelt werden, die mithilfe von Zeitschaltuhren, Bewegungssensoren oder Fußschaltern umgesetzt werden. Gleichzeitig führen diese Maßnahmen zu einer verringerten Beanspruchung der elektrischen Bauteile, auch der Leuchtmittel, und wirken sich somit positiv auf die Erhaltung der Kunstwerke aus.
Zf: Liebe Nicole Reds, liebe Martina Kerkhoff – wir danken herzlich für diese wertvollen Einblicke!

Mehr zu Volt


Endnotes
W Frauen
„Frauen in der ZERO-Gruppe? Die gab es nicht.“ – Ein weit verbreiteter und hartnäckiger Irrglaube
Barbara Könches
Das Vorurteil, dass die ZERO-Bewegung nur aus Männern bestand, ist so alt wie langlebig und falsch. Es gab Künstlerinnen, Galeristinnen, Journalistinnen, die sich in der und für die ZERO-Kunst engagierten. Wenngleich es wenige waren, so sind deren Beiträge nicht weniger wert. Dieser Essay widmet sich den Frauen im ZERO-Kreis, weil sie häufig in den kunsthistorischen Darstellungen und Einführungen nicht genannt oder peripher behandelt wurden oder es selbst vorzogen, nicht in den Vordergrund zu treten.
Wer nun zu ZERO gehörte und wer nicht, ist eine andere, ebenso generelle wie umstrittene Frage. Dennoch lohnt es sich beispielsweise die von Thekla Zell für den Ausstellungskatalog ZERO. Die internationale Kunstbewegung der 50er und 60er Jahre[i] zusammengestellte Chronologie durchzugehen und die Beteiligungen der einzelnen Künstlerinnen zu zählen. Am häufigsten, nämlich 16-mal, war Yayoi Kusama (*1929) in ZERO-Ausstellungen vertreten. Nanda Vigo (1936-2020) zeigte 14-mal ihre Arbeiten in diesem Umfeld, Dadamaino (1930-2004) 10-mal, Grazia Varisco (*1937) 9-mal, Martha Boto (1925-2004) 5-mal. Manche Künstlerinnen wie Marianne Aue (1934-2016), Hanne Brenken (1923-2019), Vera Molnar (1924-2023), Rotraut (*1938) oder Lygia Clark (1920-1988) waren nur 1-mal an einer im Umfeld von ZERO präsentierten Schau vertreten. Die von Zell aufgeführten insgesamt 119 Expositionen sind 80-mal ohne Beteiligung von Frauen durchgeführt worden beziehungsweise im Umkehrschluss haben lediglich in 39 Ausstellungen auch Künstlerinnen ihre Werke gezeigt. Das heißt an rund 33% Prozent der Präsentationen haben Frauen teilgenommen.
Die Gründe hierfür sind vielfältig. Man findet sie sicherlich im historischen Zeitkontext einer patriarchischen Gesellschaftsstruktur der 1950er- und 1960er-Jahre. In einem Metier wie der Kunst, in dem es keine festen Gehälter, keine Anstellungen und Verträge gibt und das von stabilen Netzwerken mit Galerist*innen oder Kurator*innen abhängt, war es für Frauen zusätzlich schwer.
Es kann und soll in dem vorliegenden Text nicht darum gehen, eine Benachteiligung a posteriori auszugleichen, moralisch zu beurteilen oder die „männliche Dominanz“ zu bewerten. Vielmehr soll versucht werden, die Geschichte in Form von Geschichten zu verstehen. Gleichzeitig werden mit jeder Schilderung auch die Lücken und die blinden Flecken deutlicher.
[i] Thekla Zell, „Wanderzirkus ZERO. Dokumentation der Ausstellungen, Aktionen, Publikationen 1958-1966“, in: ZERO. Die internationale Kunstbewegung der 50er und 60er Jahre, hrsg. von Dirk Pörschmann, Margriet Schavemaker, Ausst.-Kat. Martin-Gropius-Bau Berlin, Köln 2015, S. 19-178. Zell beginnt die Chronologie mit der 7. Abendausstellung bzw. der Herausgabe von ZERO 1.
Als Heinz Mack (*1931) und Otto Piene (1928-2014) 1957 begannen, in ihrem Düsseldorfer Atelier in der Gladbacher Straße 69 Ausstellungen zu organisieren, waren sie beide Mitglieder in der Gruppe 53, „einem Kreis vor allem junger ideenreicher Künstler[*innen], aus dem viele der späteren Avantgarde zuzurechnen sind, die sich hier kurzfristig zu einer auf die Zukunft gerichteten Initiative zusammenfanden“[i]. In den ersten Abendausstellungen stimmten Programm- wie Künstler*innenauswahl mit der durch das Informel bestimmten Gruppe 53 überein. Erst mit der 4. Abendausstellung, die Piene selbst als die entscheidende auffasste[ii], wandten er und Mack sich vom Informel ab und begaben sich künstlerisch wie auch theoretisch auf den Weg hin zu „ZERO“, dessen „Geburtsstunde“ mit der 7. Abendausstellung und mit der gleichnamigen Publikation zusammenfiel.
Zuvor, in der 2. Abendausstellung, waren zwei Künstlerinnen aus der Gruppe 53 beteiligt: Herta Junghanns-Grulich (1912-1990) und Anneliese Külzer-Winter (1921-1965).[iii]
[i] Marie-Luise Otten, „Auf dem Weg zur Avantgarde – Künstler der ‚Gruppe 53‘“, in: Auf dem Weg zur Avantgarde – Künstler der Gruppe 53, hrsg. von Marie-Luise Otten, Ausst.-Kat. Museum der Stadt Ratingen, Heidelberg 2003, S. 9-21, hier S. 9.
[ii] Vgl. Otto Piene, handschriftlicher Text, Groton, MA, 2.1.1998, Piene Archiv CAVS.
[iii] Des Weiteren: Fritz Bierhoff, Claus Fischer, Fathwinter, Albert Fürst, Herbert Götzinger, Rolf Sackenheim.


Die heute fast vergessene Herta Junghanns-Grulich malte ihr letztes gegenständliches Bild bereits 1941[i], um von da an mit Pigmenten und Chemikalien zu experimentierten, in der Absicht, Bewegung sichtbar zu machen. Sie war fasziniert von chemischen und biologischen Prozessen[ii], die sie in ihren Arbeiten thematisierte wie zum Beispiel Am Rande der Strömung, vor 1961; Blaues Bild II. Photosynthese, vor 1976, oder Horizontal-dynamisch, 1950/55. Betrachtet man diese Bilder, so erkennt man breite, mit dem Rakel plan gezogene Farbbahnen und in der formalen Behandlung der reinen Farboberfläche durchaus eine Verwandtschaft zu den damaligen Bildern von Heinz Mack und Otto Piene.
[i] Marie-Luise Otten (wie Anm. 2), S. 210-211.
[ii] Sie besuchte mit ihrem Mann Georg Grulich u. a. die Vorträge der Kant Gesellschaft und des Naturwissenschaftlichen Vereins, s. Georg Grulich an Herta Junghanns-Grulich, Düsseldorf, im Mai 1991, Archiv Herta Junghanns-Grulich, Düsseldorf.


Wenngleich Junghanns-Grulich mit Rakel und Spachtel die Farbe auf- beziehungsweise abträgt und damit Anklänge an das Informel wachruft, so unterscheiden sich ihre Arbeiten durch eine klare Helligkeit und indem sie starke Lichtakzente setzt. Während des Zweiten Weltkriegs musste die Künstlerin auf Farben und Leinwände verzichten und sie begann, aus Wollresten Stoffbilder zu weben. Offensichtlich beeinflusste die dem Weben zugrunde liegende Struktur ihr zukünftiges künstlerisches Schaffen. Und eben diese Struktur fügte sich perfekt in das langsam entstehende stilistische Spektrum der ZERO-Kunst. Mack und Piene müssen ihre Werke geschätzt haben, jedenfalls wurde sie auch zur Beteiligung an der 7. Abendausstellung eingeladen[i], und darüber hinaus besuchte Piene das Atelier der Künstlerin mit seinen Schülerinnen der Modeschule.[ii]
[i] Listen der einzuladenden Künstler*innen, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.IV.67, mkp.ZERO.2.IV.68.
[ii] Vgl. Georg Grulich (wie Anm. 6).


Bei der legendären 7. Abendausstellung mit dem Titel Das rote Bild waren insgesamt 42 Künstler und 3 Künstlerinnen vertreten, neben Herta Junghanns-Grulich noch Hanne Brenken und Hal (Hannelore) Busse (1926-2018). Bei den beiden zuerst Genannten schweigt das Archiv der ZERO foundation über die Umstände der Einladung.[i]
Anders hingegen verhält es sich im Fall von Hal Busse. Am 9. März 1958 schreibt Otto Piene an die sehr „geehrte Frau Busse!“, dass er über „Herrn Seitz, der Sie grüssen lässt“, ihre Adresse bekommen habe.[ii]
[i] Was sicherlich damit zusammenhing, dass die Künstler*innen alle in Düsseldorf lebten.
[ii] Vgl. Fritz Seitz an Otto Piene, Stuttgart, 6.03.1958, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.853. Mit dem Künstler, Grafik-Designer und Autor Fritz Seitz (1926-2017) standen Mack und Piene in den frühen ZERO-Jahren in regem Austausch.
„Ich möchte Sie einladen, sich an der Mitte April stattfindenden Abendausstellung ‚Das rote Bild‘ zu beteiligen. Die Ausstellung wird von ca. 30 Malern mit je einem Bild bestritten werden (u.a. Brüning, Geiger, Kaufmann, Mathieu, Mack, Piene, Thieler, Wind, Yves).“[iii]
[iii] Karte von Otto Piene an Hal Busse, o. O., 9.03.58, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.809.
Und bereits zwei weitere Tage später antwortet Piene diplomatisch:
„Ein mittleres Formar [Format] wird vielleicht am geeignetsten sein (etwa 100 mal 100). Wenn Sie zwei rote Bilder verfügbar haben, können Sie auch für den Eventualfall zwei Bilder schicken.“[i]
[i] Karte von Otto Piene an Hal Busse, Düsseldorf, 12.03.58, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.811.
Was die Künstlerin auch tat![i]
[i] Vgl. Karte von Hal Busse an Otto Piene, Stuttgart, 21.03.58, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.812_1. Petra Gördüren vermutet, dass Busse drei Bilder gezeigt habe, da sie auf das Einladungsschreiben von Piene notierte: „1. rotes Bild 2 (sic) Nagelreliefs“ (Archiv Hal Busse, Hamburg). Es ist davon auszugehen, dass es sich um Ordnungszahlen handelt und bei der Zahl Zwei der Punkt fehlt. Angesichts der Räumlichkeiten in der Gladbacher Straße 69 und der 45 ausstellenden Künstler*innen ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Busse drei Arbeiten ausstellen konnte. S. dazu Petra Gördüren, „‚Bin ich dann heute gegenständlich und morgen nicht?‘ Hal Busses künstlerischer Werdegang zwischen Figuration und Abstraktion“, in: Hal Busse. Das Frühwerk 1950-70, hrsg. von ders., Dorothea Schöne, Ausst.-Kat. Kunsthaus Dahlem, Berlin 2019, S. 12-41, hier S. 28, 39. Der im NL Piene erhaltene Frachtbrief teilt mit, dass „1 Kiste Bilder“ im Versicherungswert von 515 DM von Hal Busse am 14. April 1958 verschickt wurde. Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.III.170.

Hal Busse sah die 7. Abendausstellung zu ihrem Bedauern nicht selbst, „Düsseldorf ist leider etwas weit“[i] von Stuttgart, wo Busse mit ihrem Mann Klaus Bendixen (1924-2003) lebte.
Welches aber waren ihre zwei Beiträge für die Ausstellung Das Rote Bild in der Düsseldorfer Gladbacher Straße 69?
Hal Busse schrieb auf eine Abbildung eines ihrer Werke: „In der Ausstellung ‚IM MATERIAL‘ eine Korrektur zum roten Nagelrelief im Katalog“.[ii] Unterhalb der Reproduktion: „Dieses Bild hing mit dem roten Relief 1958 in Düsseldorf. Ausstellung ‚das rote Bild‘, Düsseldorf 1958 Eröffnung, zusammen mit dem Nagelrelief ausgestellt, das sich im Besitz der Galerie der Stadt Stuttgart befindet. Bitte um Änderung der Jahreszahl 1959 in 1958.“[iii]
[i] Brief von Hal Busse an Otto Piene, nicht datiert, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.814.
[ii] Archiv Hal Busse, Hamburg. Vgl. Barbara Heuss-Czisch, Angelika Weissbecher (Hrsg.), Im Material: Objekte und Assemblagen der 60er Jahre in Stuttgart, Ausst.-Kat. Württembergischer Kunstverein, Stuttgart 1986.
[iii] Wie Frederik Schikowski nachweisen konnte, datierte Busse Werke nachträglich – auch zu ihrem Nachteil. Ders., „Hal Busses ‚Montagen‘. Ein kaum bekannter Beitrag zur frühen konkret-konstruktiven Kunst der Bundesrepublik“, in: Gördüren, Schöne (wie Anm. 14), S. 42-57.

Busse bat darum, beide Arbeiten schnell zurückzubekommen, da sie diese auf einer „Kollektivausstellung“ Mitte Mai in Stuttgart zeigen wollte.[i] Ein persönliches Zusammentreffen hat zu dieser Zeit offenbar weder mit Piene noch mit Mack stattgefunden. Vielmehr lässt Hal Busse Heinz Mack grüßen und fügt hinzu: „H. Mack hat uns hier einmal aufgesucht und nicht angetroffen.“[ii]
Im Juni des Jahres verspricht Piene sich bei einem Abstecher nach Schwaben zu melden.[iii] Der Kontakt wird wortwörtlich herzlicher. Im Juli berichtet Busse, dass sie aus Venedig zurückgekehrt sei, „wo einiges [schwer lesbares Adjektiv] interessant (sic) ist, innerhalb der Biennale. […] Ihr gelbes Bild ist mir in allerbester Erinnerung auch noch nach diesem internationalen Kunstmarkt, der auf jeden Fall […] instruktiv und anregend ist, viel mehr als die Künstlerbundausstellung.“[iv] Die erwähnte Künstlerbundausstellung fand vom 17. Mai bis zum 13. Juli 1958 in den Grugahallen in Essen statt. Hal Busse und Klaus Bendixen stellten je ein Werk aus, Heinz Mack und Otto Piene waren mit je zwei Werken vertreten,[v] letzterer mit dem Rasterbild Gelbhellhell, 1958. Dieses Bild dürfte Busse in ihrem Brief gemeint haben. Vielleicht erkannte sie in den Arbeiten Pienes eine Seelenverwandtschaft, denn im gleichen Jahr entstand ihre große Arbeit Bild 58, gelb, 1958. Gut möglich, dass Pienes gelbes Raster-Bild die Stuttgarter Künstlerin zu ihrer Arbeit anregte. Doch wenngleich oberflächlich gesehen, sich eine Ähnlichkeit in Form von gelben Punkten einstellt, so basieren die Werke auf gänzlich anderen stilistischen Voraussetzungen: bei Piene aus den Experimenten mit Sieben und Rasterfolien, bei Busse aus einer zutiefst malerischen Haltung, die auf den flirrenden Lichtern des Impressionismus fußt.[vi]
[i] Vgl. Hal Busse an Otto Piene, o. O., o. D., Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.814. Weder im Ausst.-Kat. Gördüren, Schöne (wie Anm. 14) noch im Ausst.-Kat. Farben, die blühen – Die Malerin Hal Busse, hrsg. von Marc Gundel, Städtische Museen Heilbronn, Heilbronn 2006, ist eine Gruppenausstellung in Stuttgart 1958 aufgeführt. Jedoch hatte sie in diesem Jahr eine Einzelausstellung Hal Busse. Bilder und Montagen in der Stuttgarter Galerie Behr.
[ii] Brief von Hal Busse an Otto Piene, Stuttgart, 9.5.58, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.815.
[iii] Vgl. Karte von Otto Piene an Hal Busse, Düsseldorf, 17.06.58, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.814.
[iv] Karte von Hal Busse an Otto Piene, Stuttgart, 3.07.58, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.818.
[v] Vgl. Deutscher Künstlerbund, Achte Ausstellung, mit Sonderausstellung Handzeichnungen, Ausst.-Kat., Essen, 17.05.-13.07.1958, ohne Seitenangaben. Darin verzeichnet: Otto Piene, Gelbhellgelb, 1958, 78 x 96 cm, Öl.
[vi] Vgl. Barbara Könches, „Klatschmohnfelder in der Zone Null. Hal Busse und die Gruppe ZERO“, in: Hal Busse. Eine Wiederentdeckung, hrsg. von Ute Eggeling, Michael Beck, Düsseldorf 2023, S.42-45, hier S. 43-44.


Die Düsseldorfer und die Stuttgarter Szene wurden allerdings nicht nur durch die Empfehlung Fritz Seitz´ miteinander in Kontakt gebracht, sondern ebenfalls durch die Künstler Peter Brüning (1929-1970)[i] und Klaus Jürgen-Fischer (1930-2017)[ii], die beide in Stuttgart an der Kunstakademie bei Willi Baumeister (1889-1955) studiert hatten und Studienkollegen von Klaus Bendixen waren.
Jürgen-Fischer, der zu Beginn in den Freundeskreis der ZERO-Künstler gehörte, organisierte 1959 die Ausstellung Stringenz – Nuove tendenze tedesche in der Galleria Pagani del Grattacielo in Mailand, zu der er neben Hal Busse, Oskar Holweck (1924-2007), Norbert Kricke (1922-1984), Heinz Mack, Almir Mavignier (1925-2018), Günther Sellung (*1925), Hans-Peter Vorberg einlud sowie eigene Werke zeigte.[iii]
In der von Udo Kultermann (1927-2013), dem damaligen Direktor des Städtischen Museum Leverkusen Schloß Morsbroich, 1961 kuratierten Ausstellung 30 junge Deutsche[iv] treffen die Arbeiten der ZERO-Künstler Mack, Piene, Uecker (*1930), Hermann Goepfert (1926-1982), Oskar Holweck und Uli Pohl (1935) erneut mit denen von Hal Busse zusammen.
Erst zwei Jahre später kam es über die Gesellschaft zur Aktivierung von Kunst und Wissenschaft e. V. zu einer erneuten Einladung zur Ausstellungsbeteiligung bei ZERO in der Berliner Galerie Diogenes, die jedoch Hal Busse zu spät erreicht haben dürfte, als dass sie daran hätte teilnehmen können.[v]
[i] Peter Brüning gehörte ebenso wie Mack und Piene der Gruppe 53 an und war in den Abendausstellungen 1, 4, 7 vertreten.
[ii] Klaus Jürgen-Fischer, Schulfreund von Heinz Mack, Künstler, Kunstkritiker der Zeitschrift Das Kunstwerk, Ägis Verlag, Baden-Baden. Er lud zur 6. Abendausstellung, seine Einzelausstellung, in die Gladbacher Str. 69 ein.
[iii] Klaus Jürgen-Fischer an Heinz Mack, Baden-Baden, 25.09.1959, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.62. Vgl. Jürgen-Fischer an Mack, Baden-Baden, 19.11.1959, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.159.
[iv] Vgl. Udo Kultermann, 30 junge Deutsche / Architektur – Plastik – Malerei – Graphik, Ausst.-Kat., Städtisches Museum Leverkusen Schloß Morsbroich, 5.5.-11.6.1991, o. O., o. J., Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.VII.250.
[v] Im Hal Busse Archiv, Hamburg, befindet sich ein Schreiben vom 20.3.1963 mit der sehr kurzfristigen Einladung zur Ausstellung, die am 30.03.1963 eröffnet wurde. Das Schreiben wurde allerdings zunächst an die Anschrift in Stuttgart, Hölderlinstraße, geschickt, wo Busse bereits seit 1961 nicht mehr lebte. Auf dem Schreiben wurde vermerkt „nachgeschickt nach Hamburg, dort inzwischen Anschrift gewechselt, nachgeschickt …“. Angesichts dessen, dass ihr maximal 9 Tage bei zutreffender Anschrift geblieben wären, und angesichts des „Irrläufers“ erscheint eine Ausstellungsbeteiligung unwahrscheinlich. In den Ausstellungskatalogen Gördüren, Schöne (wie Anm. 14) und Gundel (wie Anm. 18) wird die Ausstellung aufgeführt. Sie selbst erwähnt die Ausstellung in einem handschriftlichen Lebenslauf nicht, vgl. Archiv Hal Busse, Hamburg.
Dennoch gelang es Hal Busse – völlig unbemerkt – Teil der ZERO-Publikationen zu werden. Am Ende von ZERO 3, dem dritten und legendären ZERO-Magazin, wird über sieben Seiten entlang ein Bilderatlas aus 25 Bildrastern ausgebreitet. Eine dieser viereckigen Kacheln ist mit einem Foto von Hal Busses Nagelrelief (gelb – blau – rot), um 1958, ausgefüllt, das sich neben Abbildungen von Kunstwerken wie zum Beispiel von „Piene, Constant, Takis, Moldow“ oder aus den Bereichen der „Physik, Landwirtschaft“ und „Architektur“[i] einreiht.
[i] „ZERO 3“ (1961), in: ZERO 4 3 2 1, hrsg. von Dirk Pörschmann, Mattijs Visser, Düsseldorf 2012, o. S. Im Heft wurde kein einziges Werk einer Künstlerin aufgenommen, doch als Fotografinnen waren Frauen vertreten, so fotografierte Hilla Wobeser, die später als Hilla Becher weltberühmt wurde, die Werke von Günther Uecker. Vera Spoerrri und Martha Rocher fotografierten Werke von Jean Tinguely.
Dank der Freundschaft zum Schauspieler und Galeristen Günter Meisner (1926-1994) erhielten Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker die Gelegenheit die bereits erwähnte ZERO-Ausstellung in Berlin kuratieren zu können. Mit der hohen internationalen Beteiligung von 44 Künstler*innen[i] erinnert die Berliner Aktivität an die 7. Abendausstellung. Doch während in der Ausstellung Das rote Bild drei Künstlerinnen beteiligt waren, hat sich diese Anzahl fünf Jahre später auf zwei verringert: Rango Heusser-Bohne (1932-2021) und Dadamaino.[ii]
Die in Mailand lebende Edoarda Emilia Maino, genannt Dadamaino, war den Düsseldorfer ZERO-Künstlern durch ihre italienischen Freunde wohl bekannt. „Bis zur Schließung der Galerie [Azimut] im Juli 1960 organisieren Castellani und Manzoni in freundschaftlicher Kooperation mit ihrem spiritus rector Lucio Fontana und der jungen Künstlerin Dadamaino, einen dichten Zyklus von insgesamt zwölf Ausstellungen,“[iii] so Renate Damsch-Wiehager.
[i] Es waren neben deutschen Künstler*innen auch Kolleg*innen aus Italien, Belgien, Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz eingeladen.
[ii] Eine mögliche Beteiligung von Hal Busse (s. Anm. 28) sehe ich als unwahrscheinlich an. Die Ausstellung lief vom 30.03.-30.04.1963 in der Galerie Diogenes, Bleibtreustraße 7, West-Berlin. Meisner betrieb die Galerie im Namen der Gesellschaft zur Aktivierung von Kunst und Wissenschaft e.V..
[iii] Renate Damsch-Wiehager, „Eine Linie von unendlicher Länge“, in: ZERO Italien. Azimut/Azimuth 1959/60 in Mailand. Und heute, Ausst.-Kat. von ders., Galerie der Stadt Esslingen, Villa Merkel, 3.12.1995-25.02.1996, Ostfildern bei Stuttgart 1996, S. 8-11, hier S. 11.

Dadamaino war die einzige Künstlerin, für die Manzoni (1933-1963) je einen Text schrieb, welcher in der euphorischen Aussage mündete: „Ihre [Dadamainos] Bilder sind Banner einer neuen Welt, sind eine neue Bedeutung: sie begnügen sich nicht damit, etwas anderes zu sagen, sie sagen neue Dinge.“[i] Und welche „neuen Dinge“ sie sagte, erklärte rund 30 Jahre später Gillo Dorfles (1910-2018), Philosoph, Kritiker und Maler:
[i] Piero Manzoni, „Dadamaino“, in: Galerie der Stadt Esslingen (s. Anm. 32).
„So können wir alle Arbeiten dieser Zeit dem großen Fluß der programmierten oder kinetischen Kunst zurechnen, auch wenn wir uns der ständigen Teilnahme der Künstlerin an Problemen und Aktivitäten verwandter Gruppen bewußt sind […]. Worin unterscheiden sich dennoch diese Objekte […]. Zweifellos in ihrer auffallenden Raffiniertheit, und dadurch, daß sie stets neben dem Wahrnehmungshaften auch den ästhetischen Wert mit einbeziehen.“[i]
[i] Gillo Dorfles, „Dadamaino“, in: Galerie der Stadt Esslingen (s. Anm. 32), S. 86-87, hier S. 86.

Wann begegneten sich die Düsseldorfer ZERO-Künstler und Dadamaino zum ersten Mal persönlich? In einem kurzen Nebensatz erwähnt Heinz Mack in einem Schreiben vom Dezember 1962, dass die Künstlerin vor mehr als einem Jahr in Düsseldorf gewesen sei.[i] Ein intensiver Briefverkehr zwischen Mailand und Düsseldorf setzt jedoch erst ab dem 20. September 1962 ein, mit einem Schreiben von Dadamaino an Otto Piene.[ii] Bereits drei Wochen später meldet sich Dadamaino wieder bei Piene und schlägt ihm vor, in der Galerie des Architekten Cadario, in der auch Fontana (1899-1968) ausstellt, eine Präsentation zu machen. Cadario werde ein Buch über die „Nouvelles Tendances“ herausgeben, welches Umbro Apollonio (1911-1981) verfasse.[iii] Mit der nächsten Nachricht wendet sich die italienische Künstlerin an alle drei Düsseldorfer „ZEROisten“ und bittet um Fotos von Kunstwerken, Künstlerportraits und Biografien, die sie Nobuya Abe (1913-1971) zukommen lassen möchte. Abe sei im Begriff, einen großen Artikel über die Neuen Tendenzen zu schreiben, der in einer japanischen Zeitschrift veröffentlicht werden soll und – so kündigt Dadamaino an – auch zu einer Ausstellung in Tokio führen könne.[iv]
Am 9. Februar 1963 unterrichtet Dadamaino Piene und die anderen Kollegen über das plötzliche Ableben von Piero Manzoni.[v] Quasi parallel steht Heinz Mack mit der Künstlerin in Verbindung und teilt ihr mit, dass für März 1963 eine Ausstellung in Berlin geplant sei und die Düsseldorfer ZERO-Künstler glücklich wären, wenn sie sich daran mit einem Werk beteiligen würde.[vi] Er fordert sie auch auf:
[i] „When you had been here more than a year ago, […]“, Heinz Mack an Dadamaino, 27.12.1962, Archivio Dadamaino, Somma Lombardo, Italien. Dementsprechend hätte eine Begegnung Mitte 1961 stattgefunden.
[ii] Im Archiv der ZERO foundation und im Archivio Dadamaino befinden sich insgesamt 67 Korrespondenzen Dadamaino/Piene, 41 Korrespondenzen Dadamaino/Mack.
[iii] Vgl. Dadamaino an Otto Piene, Mailand, 10.10.1962, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.2809.
[iv] Vgl. Dadamaino an Otto Piene, Heinz Mack und Günther Uecker, Mailand, 12.12.1962, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.1436.
[v] Vgl. Dadamaino an Otto Piene, Mailand, 9.02.1963, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.1356. Vgl. die Beileidsbekundung von Otto Piene an Dadamaino, Düsseldorf, 2.03.1963, Archivio Dadamaino, Somma Lombardo, Italien.
[vi] Vgl. Heinz Mack an Dadamaino, Düsseldorf, 11.02.1963, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.149.
Schnell antwortet Dadamaino und macht ihre Vorschläge für Berlin: „Getulio, Toni Costa, Bruno Munari, Enzo Mari.“[i] Im gleichen Brief lässt sie Mack wissen, dass sie Cadario eines seiner Reliefs gezeigt habe, und er großes Interesse habe. „Alors si vous voulez, je pouvrai m´interesser aussi pour une votre exposition [à la galerie Cadario].“[ii]
Es ist offensichtlich: Dadamaino gehörte zum engsten ZERO-Kreis, denn sie organisierte Ausstellungen[iii], vermittelte Kontakte untereinander – wie zum Beispiel zwischen Otto Piene und Gillo Dorfles[iv] –, oder sie kümmerte sich persönlich um Sammler*innen[v]. „[…] l´esprit de Zéro sera toujours vivant si des artistes comme vous s´engager avec cette verve!“[vi], bestätigte ihr Piene.
Bis in den Sommer 1964 intensivierte sich die Zusammenarbeit zwischen den Düsseldorfern und der Mailänder Künstlerin. Im März meldete sich die Klagenfurter Galeristin Heide Hildebrand, um eine gemeinsame Ausstellung von Dadamaino, Mack, Piene, Uecker und Nanda Vigo zu organisieren. Nachdem Hildebrand zunächst angekündigt hatte, dass die Einladungskarten von Dadamaino und Nanda Vigo angefertigt würden, teilte sie Ende August mit, dass Dadamaino nun doch nicht an der Ausstellung teilnähme.[vii]
Noch wenige Wochen zuvor, im Juni 1964, waren Vigo und Dadamaino als Teil der Gruppenausstellung in die New Vision Centre Gallery und in der Programmgestaltung des ICA (Institut of Contemporary Arts) in London involviert.[viii] „If the NVC-gallery will write you, –please, give an answer in a positive sense. I wrote to London, that you can organize the Italian part and we hope, you will be so nice, to do so“[ix], teilte Mack am 2. April Dadamaino und Nanda Vigo mit.
[i] Dadamaino an Mack, Mailand, 15.02.1963, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.150. An der Ausstellung nehmen schließlich die von Dadamaino vorgeschlagenen Getulio Alviani (1939-2018) und Bruno Munari (1907-1998) teil.
[ii] Ebd.
[iii] Vgl. Dadamaino an Piene, Mailand, 7.12.1962, (Ausstellung Neue Tendenzen in der Galerie Cadario), Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.2811. Piene an Dadamaino, Düsseldorf, 1.5.1963 (Ausstellung in Madrid) und Archivio Dadamaino, Somma Lombardo, Italien. Otto Piene an Dadamaino, Düsseldorf, 9.11.1962, (Einzelausstellung Piene bei Cadario, Mailand) Archivio Dadamaino, Somma Lombardo. Dadamaino an Mack, Mailand, 15.02.1963, (Einzelausstellung Heinz Mack bei Cadario, Mailand) Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.150 und mkp.ZERO.1.I.147, mkp.ZERO.1.I.152, mkp.ZERO.1.I.153, mkp.ZERO.1.I.154.
[iv] Vgl. Dadamaino an Otto Piene, Mailand, 16.04.1963, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.2812. Im selben Brief informiert Dadamaino, dass sie in Kontakt mit Luis Gonzales Robles, Commissaire der Venedig Biennale für Spanien, stehe, der eine Ausstellung über die Neuen Tendenzen in einem Museum in Madrid zu machen beabsichtige.
[v] Vgl. Dadamaino an Piene, Mailand, 7.10.1963, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.1788, mkp.ZERO.2.I.1790. Vgl. Heinz Mack an Dadamaino, Düsseldorf, 27.12.1962, Archivio Dadamaino, Somma Lombardo, Italien. Otto Piene an Dadamaino, Düsseldorf, 13.10.1963, Archivio Dadamaino,Somma Lombardo, Italien.
[vi] Piene an Dadamaino, Düsseldorf, 13.10.1963, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.1789.
[vii] Vgl. Heide Hildebrand, Galerie Wulfengasse, an Heinz Mack, Klagenfurt, 5.03.1964, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv Nr. mkp.ZERO.1.I.442, vgl. mkp.ZERO.1.I.443, mkp.ZERO.1.I.450, mkp.ZERO.1.I.451.
[viii] Vgl. Mack an Kenneth Coutts-Smith, Düsseldorf, 30.03.1964, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.865. Obgleich Mack die italienischen Künstler*innen nicht erwähnt („[…] there are some German, French and the Dutch artists, who belong to us“) listet er auf der Rückseite neben den jeweiligen Ansprechpartnern Goepfert, Soto und Peeters auch Dadamaino auf.
[ix] Heinz Mack an Dadamaino und Nanda Vigo, o. O., 2.04.1964, Archivio Dadamaino, Somma Lombardo, Italien.

Am 1. September eröffnete dann die Ausstellung Vigo, Mack, Piene, Uecker in der Galerie Wulfengasse 14 von Heide Hildebrand in Klagenfurt und gleichzeitig verlor sich der Kontakt von Mack und Piene zu Dadamaino.

„Congratulazionissime“[i], übermittelt sie am 31. Oktober 1964 in einem kurzen, letzten Telegramm an Heinz Mack. Wozu sie gratulierte? Vielleicht zur Eröffnung der Ausstellung ZERO [Group ZERO] im Institute of Contemporary Art, University of Pennsylvania, Philadelphia, an der viele befreundete ZERO-Künstler*innen wie Enrico Castellani (1930-2017), Piero Dorazio (1927-2005), Lucio Fontana, Hermann Goepfert, Yves Klein (1928-1962), Piero Manzoni, Almir Mavignier, Mack, Piene, Uecker, auch Nanda Vigo und Yayoi Kusama teilnahmen, aber Dadamaino nicht.
[i] Dadamaino an Heinz Mack, Telegramm, 31.10.1964, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.155.
Mittlerweile, so stellt es sich anhand der Briefe im ZERO-Archiv dar, hat Nanda Vigo den Part der „Organisation ZERO in Mailand“ übernommen.[i]
Mack, Piene und Uecker kannten die Künstlerin und Architektin bereits seit Ende 1959 über Piero Manzoni, der seiner Lebensgefährtin Nanda das künstlerische Schaffen verboten hatte. „Piero me dit: ‚nous ne sommes pas la famille Curie. L´artiste, c´est moi, toi, tu restes à la maison. Évidemment je refusai et lui, il refusa de m´épouser. Il était à la fois noble, bourgeois et révolutionnaire. Nous allions partout ensemble, je l´accompagnais à toutes ses expositions.“[ii] So trat die selbstbewusste Vigo zu Beginn der Freundschaft als Diskutantin und Mitstreiterin für die Sache der neuen Avantgarde in Erscheinung, doch nicht als eigenständige Künstlerin. Das gelang ihr dann durch die Casa Pellegrini, das sogenannte ZERO-Haus, welches die Architektin in Mailand ganz in Weiß, mit vielen Spiegeln und blankpolierten Flächen konzipiert hatte – eine Wohnumgebung, die dem hellen, reflektierenden Licht gewidmet war.
Ihr Auftraggeber, so berichtete Nanda Vigo 1963 Heinz Mack, habe eine Arbeit von ihm im Studio von Fontana gesehen, und daher bitte sie ihn um Beteiligung. Fontana und Castellani hätten bereits Arbeiten beigesteuert, so Vigo weiter.[iii] Ob ihr Ansinnen Erfolg hatte, geht aus den Unterlagen nicht hervor.
[i] Barbara Könches, „Make Your Glass Jump! Nanda Vigo and ZERO“, in: Nanda Vigo. Alfabeto Cosmogonico, hrsg. von Alberto Fiz, Associazione Culturale Archivio Nanda Vigo, Ausst.-Kat., Museo Comunale d´Arte Moderna Ascona, Perguia 2023 S. 62-69; Vgl. „O-Ton. Interview mit Allegra Ravizza“, in: ZERO-Heft, Nr. 14, 2023, hrsg. von der ZERO foundation, S. 4-17.
[ii] Paola Nicita, „Nanda Vigo. Le rôle d´une artiste de la Mitteleuropa“, unveröffentlichtes Manuskript im Archiv der ZERO foundation, Düsseldorf. Paola Nicita zitiert aus ihrem Gespräch mit Nanda Vigo in Mailand im Februar 2014.
[iii] Vgl. Brief von Nanda Vigo an Heinz Mack, Mailand, 6.10.1963, Archiv der ZERO foundation, VL Heinz Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.825.

Im Sommer laden Mack, Piene und Uecker – wie schon erwähnt – Nanda Vigo ebenso wie Dadamaino dazu ein, sich an der Ausstellung in der New Vision Centre Gallery in London zu beteiligen.[i] Dort waren es schließlich 23 ZERO-Künstler und 2 Künstlerinnen, die ihre Arbeiten zeigten. Der Sunday Telegraph vom 28. Juni 1964 charakterisierte das Neue der ZERO-Kunst: „In spite of the talk of ‚Dynamo‘ the achievement of the Group Zero (et. al.) is finally one of rare calm and serenity.“[ii] Eine solche ruhige Bewegung, ein kontinuierliches Fließen ergab sich, wenn das Licht auf eine der Mack´schen Lichtstelen traf oder wenn es seine Schatten entlang der rotierenden Nägel von Günther Uecker in den Raum warf. Auch Nanda Vigos Cronotopilebten von dem Kontrast ihrer statischen Ruhe einerseits und der durch das Vorbeischreiten, das Passieren sich ergebenden Lichtvibrationen andererseits. Teils fiel das Licht von außen in den schmalen, eleganten Metallkubus, teils integrierte Vigo elektrisches Licht, das matt durch die schimmernden Scheiben oder klar und kräftig durch das unbehandelte Glas leuchtete.
[i] Vgl. Brief von Nanda Vigo an Heinz Mack, Mailand, undatiert, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.815.
[ii] Zeitungsausschnitt, The Sunday Telegraph, 28.06.1964, VL Mack, mkp.ZERO.1.II.41.

Wie so oft innerhalb der ZERO-Kunst ergeben sich stilistische Verwandtschaften von zweien oder dreien der Künstler*innen untereinander, doch gleichzeitig herrscht eine stilistische Differenz zu anderen. Bei Vigo eröffnen sich Parallelen zu Arbeiten von Mack oder Christian Megert (*1936) und doch bleibt ihr Oeuvre wie das der Kolleg*innen unverwechselbar.
Die Mailänder Künstlerin war häufig zu Gast in Düsseldorf, besuchte von dort aus ihre Freunde wie Jan Schoonhoven (1914-1994) in den Niederlanden oder Jef Verheyen (1932-1994) in Belgien und machte auf der Rückfahrt Halt, um Megert in Bern zu besuchen. Ebenso wie Dadamaino übernahm sie die Rolle der Vermittlerin. Sie stellte Kontakte zu wichtigen Personen aus der Kunstwelt[i], zu Autoren[ii] und zur Presse her wie zum Beispiel zur bekannten Architektur-Zeitschrift Domus[iii].
[i] Vgl. Brief von Nanda Vigo an Otto Piene, Mailand, 2.03.1965, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.2392. „Also I meeting the editor Schweiviller, and I find him well intended to publish a Zero book […].“
[ii] Vgl. Brief von Nanda Vigo an Heinz Mack, Mailand, 22.011965, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.819. „[…] Morucchio write us a good article for Aujourd´Hui.“
[iii] Vgl. Brief von Nanda Vigo an Otto Piene, Mailand, 2.02.1966, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.2166..Brief von Nanda Vigo an Heinz Mack, Mailand, undatiert, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.813.

Schließlich kuratierte und organisierte sie selbst die umfassende Ausstellung ZERO avantgarde 1965, die am 27. März 1965 im Atelier von Lucio Fontana eröffnet wurde und anschließend in Galerien in Venedig, Turin, Rom und Brescia zu sehen war.
Zwischen Nanda Vigo und den Düsseldorfern galt die stille Übereinkunft des Gebens und Nehmens so lange, bis Vigo das Gefühl hatte, dass ein Ungleichgewicht entstanden sei:
„I send you for the middle October a photographer of New York that you have known in Schmela gallery, he is working now for domus, and now we are macking [sic] a photo service about the artists haus [dt. im Original], so I give him your address, naturlich [dt. im Original], and also I want that he take photos also of your project in Africa, O.K.?
I hope that you are glad to have another service on domus, but don’t forget me for collective exhibitions, I think that in the last time, you forget me too much, please remember Stockholm show for me […].“[i]
[i] Brief von Nanda Vigo an Heinz Mack, Mailand, 5.10.1965, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.821.
Erst spät, ab Anfang 1965, intensivierte sich der Briefverkehr zwischen Nanda Vigo und Otto Piene. Nach und nach ersetzte Piene nun Mack als Ansprechpartner für ihre künstlerischen und kuratorischen Ideen.
Am 31. Januar 1967 – ZERO fand mit der Ausstellung ZERO in Bonn in der damaligen westdeutschen Hauptstadt seinen Abschluss – sandte Nanda Vigo einen ausführlichen Brief an Piene, aus dem deutlich wird, dass es Spannungen zwischen Vigo und Mack gab.[i] Piene antwortete am 15. Februar 1967 mit einem 12-seitigen, handgeschriebenen Brief.
[i] Vgl. Brief von Nanda Vigo an Otto Piene, Mailand, 31.01.1967, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.2611.
Einfühlsam legte er Nanda Vigo nahe, dass ZERO beendet sei – auch für sie:
Das Archiv der ZERO foundation legt durch die vielen engagierten Briefe sehr gut Zeugnis davon ab, dass die Düsseldorfer ZERO-Kerngruppe sehr wohl Künstlerinnen zu den Ausstellungen einlud, doch die geringe Anzahl beweist auch, wie klein ihr Anteil in der Künstlerschaft war. Gleichzeitig zeigen uns die Briefwechsel insbesondere mit Dadamaino und Nanda Vigo, wie intensiv diese beiden Künstlerinnen mit dazu beitrugen, ZERO in Mailand zu unterstützen, zu etablieren, zu festigen.
Yayoi Kusama, die am häufigsten bei ZERO-Ausstellungen beteiligt war, hat nie eine Ausstellung selbst kuratiert und stand nicht in brieflichem Kontakt zu den Düsseldorfern. Ihr Werk ist ohne Frage einzigartig und stilprägend, doch weicht sie durch die Betonung des Physischen und der Thematisierung des Psychischen stark vom künstlerischen Fundament der niederländischen, belgischen oder italienischen ZERO-Kreise ab.
Als Mitglied der Gruppo T aus Mailand war Grazia Varisco in vielen Ausstellungen mit ihren Werken vertreten, die wegen ihres Interesses an Kinetik und Kognitionswissenschaft sehr gut ins ZERO-Spektrum passten, aber sie wollte unter dem Gesichtspunkt der Künstlerinnen hier nicht eigens hervorgehoben werden.[i] Ein Standpunkt, den man akzeptieren und zugleich bedauern kann, denn für sie wie für alle hier genannten Künstlerinnen gilt: Ihr Werk ist von hoher Qualität – ganz unabhängig vom Geschlecht. Dies ist die Voraussetzung dafür, eine herausragende Kunst zu schaffen.
Nicht zuletzt sei daran erinnert, dass der Erfolg der ZERO-Kunst auch durch mutige Galeristinnen wie Iris Clert oder durch Kunstkritikerinnen wie Hannelore Schubert oder Anna Klapheck gelang. Kurz: Weitere Geschichten harren darauf, erzählt zu werden.
[i] So bekundete sie mündlich gegenüber der Autorin im Januar 2023 in Mailand.
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Endnotes
X X = 0 x 0 = Kunst
Barbara Könches
Der Publizist und Filmemacher Gerhard Winkler (1929-1978) stellte 1962 folgende Formel auf: 0 x 0 = Kunst[i]. Jede*r Mathematiker*in wird zusammenzucken, sieht er die Gleichung und versteht sofort, dass das Produkt aus einem Faktor mit 0 immer Nichts sein muss. Im Untertitel fügte Winkler an: „Maler ohne Farbe und Pinsel“ und verlor auch noch das restliche wohlgesonnene Publikum.
[i] 0 x 0 = Kunst. Maler ohne Farbe und Pinsel, Film von Gerd Winkler, Kamera: Franz Rath, Schnitt: Jana Rojewska, Ton: Rudolf Vogel, Musik: Gerhard Wimberger. Produktion des Hessischen Rundfunks, 1962, Länge: 33:19 Minuten

Ein Maler ohne Farbe und Pinsel – wie soll das denn gehen?, frugen sich die Zuschauer*innen am 27. Juni 1962 bei der Erstausstrahlung des 33-minütigen Fernsehfilms in der ARD[i]. Es waren nicht wenige, die damals zur besten Sendezeit um 21 Uhr den Bericht über die ZERO-Künstler Günther Uecker (*1930), Heinz Mack (*1931) und Otto Piene (1928-2014), Piero Manzoni (1933-1963), Bernard Aubertin (1934-2015), Daniel Spoerri (*1930) und andere anguckten. Dies geschah zu einer Zeit, in der das Fernsehgerät noch in schrankartige Möbel „verpackt“ war und als das allerneueste Medium galt.
Winkler war mit seinem Kamerateam an drei Orte gereist, um die neue Avantgarde der Kunst zu treffen: nach Paris in die Künstlerateliers, nach Amsterdam in die Ausstellung Nul [Nul 62] im Stedelijk Museum und an die Rheinwiesen nach Düsseldorf, wo die Filmdokumentation mit einer eigens für das Fernsehteam des Hessischen Rundfunks organisierten Kunstaktion begann. In Anlehnung an die 1961 vor der Galerie Schmela zu sehende Demonstration, eine Open-Air Kunstveranstaltung, welche die Düsseldorfer ZERO-Kerngruppe Piene, Uecker, Mack anlässlich der Vorstellung ihrer Publikation ZERO 3 initiiert hatte, bestaunten nun die am Rheinufer vorbeiziehenden Flaneure Mädchen in schwarzen Kartons gekleidet, auf denen eine große Null zu lesen war. Bunte Ballons flogen in den von schweren Scheinwerfern erleuchteten Nachthimmel, Aluminiumstreifen blitzten auf. Uecker malte einen großen weißen Kreis auf das dunkelgrüne Gras der Uferbänke. Die Kunst ins Freie zu bringen; mit Licht, Bewegung und Aktionen ein unvorbereitetes Publikum für ZERO zu begeistern, waren sicherlich nicht die einzigen Beweggründe für das Event, zu dem selbstverständlich auch die Düsseldorfer Kunstszene gekommen war. Man erkennt Gotthard Graubner (1930-2013), Konrad Fischer (1939-1996), Alfred (1918-1980) und Monika Schmela[ii] (1919-2003) in der Zuschauermenge.
[i] ARD ist die Abkürzung für Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland. Die ARD bildete sich 1950 in der Bundesrepublik Deutschland als Zusammenschluss von sechs Landesrundfunkanstalten und wird bis heute aus Rundfunkbeiträgen finanziert.
[ii] Monika Schmela, geborene Wilhelmine Magdalena Even, nannte sich selbst seit 1955 Monika, s. Lena Brüning, Die Galerie Schmela. Amerikanisch-deutscher Kunsttransfer und die Entwicklung des internationalen Kunstmarkts in den 1960er Jahren. Berlin 2022, S. 81, 91.




Danach nimmt die Kamera den Betrachter mit ins Stedelijk Museum nach Amsterdam, wo Hermann de Vries den staunenden Besucher*innen seine Skulpturen erklärt und Piero Manzoni gestapelte Dosen mit „Künstlerscheisse“ präsentiert. Während die Düsseldorfer die Kunst ins Freie tragen, bringt Manzoni die Ruhe im Museum aus dem Lot und bemalt eine 1335 Meter lange „Berührungszone“ – oder wie der Kommentator schalkhaft anmerkt – „auch Linie genannt“. Bernard Aubertin entflammt ein mit Streichhölzern gespicktes Relief in der ehrwürdigen Ausstellunghalle – eine „typische ZERO-Situation“ und alles andere als eine geläufige Museumspraxis –, um „alle verstaubten Museen dieser Welt in Brand zu stecken“[i]. Denn in einer ZERO-Schau stehe der Besucher im Mittelpunkt, was sich dadurch ausdrücke, dass man Objekte anfassen dürfe oder – wie im Lichtraum[ii] – darin eintauchen könne, wie der Sprecher erläutert. Diese Kunst der Zukunft finde man auch in Galerien wie der Galerie dato in Frankfurt am Main, so der Filmkommentator weiter, die den Künstler Hermann Goepfert (1926-1982) hervorgebracht habe, der mit dem Optophonium[iii] Licht in Klänge verwandle.
Düsseldorf, „diese sehr moderne Stadt“ – so erklärt der Sprecher während der Kamerafahrt über die verregnete Königsallee –, „ist vor allem eine Kunstmetropole und dann erst der Schreibtisch des Ruhrgebietes“.
Szenenwechsel: Im Hinterhof eines Backsteingebäudes schaut man Günther Uecker in weißen Malerhosen gekleidet dabei zu, wie er mit Pfeil und Bogen auf eine weiße Leinwand schießt. Ob es eine Zen-Übung oder eine Kunstperformance sei, wisse man nicht, doch sicher sei das Ergebnis dieser Übung ein einheitlich monochromes Werk, erfährt der Zuschauer. Im Anschluss zeigt der Film den Künstler bei der Herstellung eines Nagelbildes, das durch die entsprechende Belichtung zum Träger von Strukturphänomenen wird. „Die weiß gespritzten Nagelbilder verweisen auf die antifaschistische Haltung, die nahezu allen Malern am Standort null zu eigen ist“, so die erklärende Stimme aus dem Off.
[i] Zitat aus dem Film 0 x 0 ist Kunst (Anm. 1).
[ii] Der Salon de lumière war eine gemeinschaftliche Lichtinstallation von Mack, Piene und Uecker in der Ausstellung Nul [Nul 62] im Stedelijk Museum, Amsterdam.
[iii] Hermann Goepfert, Optophonium I, 1961-62, Wvz.220, s. Beate Kemfert, Hermann Goepfert (1926-1982). Nachkriegskunst in Frankfurt am Main, 1999 (Studien zur Frankfurter Geschichte 43), S. 288.




Kunstvoll arrangiert Winkler zu den Bildern prägnante Töne wie Morsezeichen oder minimalistische helle Klangadaptionen, die Bewegungen und Lichtspiel multimedial unterstreichen.
Man hört, wie der Kommentator sein Publikum weiter unterrichtet: „ZERO ist eine Sprache des Sehens und Spürens. Eine unterkühlte Bildsprache der Schwarz-Weiß-Wirkung. In den Arbeiten von Heinz Mack wird das Licht zum Medium.“ Passend zu den Worten sieht man den Künstler, wie er Aluminium-Scheiben so formt, dass sie Vibrationen und Bewegungen verursachen. Nicht unerwähnt bleibt hier, das große, damals bereits von Mack konzipierte Sahara-Projekt[i].
Anschließend geht es ins Atelier von Otto Piene, wo die Fernsehenden jedoch zunächst nicht auf den Künstler treffen, sondern dessen Kinder Claudia und Herbert werden gefilmt, während sie Papier durchlöchern und mit einer dahinter gehaltenen Taschenlampe dem Material ein Lichtspiel entlocken. Die erfinderische Gabe der Kinder, so erläutert der Sprecher, schüfen die Inspiration für das „mechanische Lichtballett“ von Piene. „Die Ergebnisse sind ungemalte Bilder.“ Anschließend präsentiert der Künstler selbst vor laufender Fernsehkamera die Entstehung einer Rauchzeichnung. „Ich mache das Dunkle zu einem Volumen der Kraft. Bewegt vom Atem wie mein Körper bediene ich mich des Rauchs, damit die Dunkelheit fliegen kann“, wird der Maler ohne Pinsel zitiert.
Abschließend begleiten die Zuschauer*innen das Fernsehteam nach Paris, wo die ZERO-Künstler, wie der Kommentator anmerkt, nicht wie in Deutschland miteinander arbeiten, sondern vielmehr miteinander ausstellten.
[i] Vgl. Sophia Sotke, Mack Sahra. From ZERO to Land Art, München 2022.




Der erste Besuch in der französischen Metropole führt in das Atelier von Jesús Rafael Soto (1923-2005), der „seine Gitarre mehr liebt als alle Schätze des Louvre“ und seine Bilder dem Klang des Instruments „abgelauscht“ habe[i].
François Dufrêne (1930-1982), der heute viel eher der künstlerischen Richtung des Nouveau Réalisme[ii] zugeordnet wird, gilt Gerhard Winkler als „ZERO-Klassiker“ und daher portraitiert er ihn bei dem für seine Decollagen notwendigen Stibitzen von Plakaten. Das bürgerliche Wohnzimmer diene dem Künstler als Atelier, wo er durch das Collagieren von Plakatteilen die schönsten Farbwirkungen erreiche, so die Erklärung.
Die nächste Filmsequenz stellt Daniel Spoerri vor, „einem Handlanger des Zufalls“, dem man beim Anfertigen eines Fallenbildes zuschauen darf. „Das Vertikale wird Horizontal“, hört man von einem Aufnahmegerät aus dem Hintergrund, „Beispiel die Reste eines Frühstücks werden auf dem Tisch befestigt und mit dem Tisch an der Wand aufgehängt.“[iii] Während vom Tonband lautes Gelächter erschallt, betritt in der Filmdokumentation Robert Filliou (1926-1987) das Atelier von Spoerri. Er sei der glücklichste Künstler und Galerist von Paris, denn – legt der Kommentator dar – er trage gut zwei Dutzend Kunstwerke ständig bei sich in seiner Mütze, die man je für rund 11 DM kaufen könne. Spoerri hingegen bringe es auf 1000 bis 2000 DM, doch so viel bliebe ihm nicht, denn Management und Verkauf besorge nicht er, sondern eine renommierte Galerie in Mailand.[iv]
Nun führt der Weg in das mit Kisten und Kästen, mit Krimskrams und Trödel vollgestellte Atelier von Jean Tinguely (1925-1991), der mit seinen motorbewegten Objekten einen wichtigen Einfluss auf die ZERO-Künstler ausübe. Er sei aber viel unterwegs von Kopenhagen bis nach Amerika, denn seine Kunst erfreue sich großer Beliebtheit, und man zahle bis zu 3000 DM für seine klingenden Skulpturen. Offensichtlich war Tinguely auch während der Zeit des Paris-Besuchs von Winkler nicht vor Ort, denn er taucht in der Dokumentation persönlich nicht auf. Dafür ist Harry Kramer (1925-1997) anzutreffen, der seine fragilen Drahtskulpturen eines „Welttheaters“ zu jazzigen Saxophontönen umtanzt.
Obgleich Kramer[v] wie auch Dufrêne eher selten zum ZERO-Kreis gezählt werden, beweist der Bericht von Gerd Winkler, dass die Definition dieser Kunstrichtung stets eine offene war, die auch in der Auffassung des Betrachters liegt.
[i] Zitat aus dem Film 0 x 0 ist Kunst (Anm. 1).
[ii] Vgl. ZERO und Nouveau Réalisme. Die Befragung der Wirklichkeit, hrsg. von Dirk Pörschmann und Matthijs Visser, Ausst.-Kat. Stiftung Ahlers Pro Arte, Hannover 2013.
[iii] Zitat aus dem Film 0 x 0 ist Kunst (Anm. 1).
[iv] Gemeint ist die Galerie von Arturo Schwarz (1924-2021).
[v] Harry Kramer stellte gemeinsam mit ZERO-Künstlern in folgenden Ausstellungen aus: Bewogen Beweging, 1961, Stedelijk Museum, Amsterdam; Europäische Avantgarde, 1963, Galerie d in der Schwanenhalle des Römers, Frankfurt am Main; documenta III, Sektion Licht und Bewegung, 1964, Fridericianum Kassel; Licht und Bewegung/Kinetische Kunst, 1965, Kunsthalle Bern, Bern (anschließend in der Staatlichen Kunsthalle, Baden-Baden,1965, und als Ausstellung des Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen in der Kunsthalle Düsseldorf, 1966); Lumiere, Mouvement et Optique,1965 Palais des Beaux-Arts, Brüssel.



„Zero heißt auch das letzte Kommando beim Abschuss amerikanischer Weltraumraketen“, hört das Fernsehpublikum und sieht, wie der Flugkörper startet. Hektische Bilder aus den Medien werden dem mahnenden Schlusswort unterlegt, das daran erinnert, in einer „wertzerfallenden Welt“ die Kunst nicht zu vergessen. Damit endet die Kunstreportage.
Mit dem arithmetischen Zeichen X für die Multiplikation verband Gerd Winkler zwei Nullen, aus denen nicht nur ein bemerkenswerter Filmbeitrag über die Kunst-Avantgarde gleichen Namens hervorging, sondern der bis heute als vorbildhaft für die Kunstvermittlung anzusehen ist.
In der Frankfurter Rundschau konnte man nach der Erstausstrahlung lesen: „Ein informativer Film, der die arrogante Position des witzelnden Kommentators verläßt (sic). Ein Film über eine künstlerische Tendenz dieser Tage, der eine Ausnahme darstellt, weil sein Urteil nicht von vornherein schon fixiert ist. […] Filme dieser Art sollte es jedenfalls mehr geben.“[i]
Ein wortgewaltige Fernsehredakteur der Neu-Ulmer Zeitung brachte die Stärke des Films in folgenden Sätzen zum Ausdruck: „‚0 x 0 = Kunst‘. Ein heißes Eisen. Nur zu leicht verführt es den Schmied dazu, es entweder zur Abkühlung in den Bottich von Spott und Hohn zu tauchen, oder es bis zur Weißglut weiterzuschmieden. Winkler vermied sowohl die Glossierung als auch die Glorifizierung. Er hielt gleichen Abstand zu den Leuten, die diese Handlanger des Zufalls ins Irrenhaus einweisen möchten, und zu der an Selbstüberschätzung krankenden Avantgarde. Er unterzog sich der journalistischen Aufgabe, über eine Erscheinung unserer Zeit zu informieren.“[ii]
[i] Ed. jel. [Kürzel], „0 x 0 ist Kunst“, in: Frankfurter Rundschau, Seite 7, ohne Datum, Archiv der ZERO foundation, Vorlass Mack, mkp.ZERO.1.II.13.
[ii] Helmut Alt, „Fernsehen – nah gesehen: Die Stunde Null“, in: Neu-Ulmer Zeitung, 6.07.1962, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Piene, mkp.ZERO.2.II.15.









Endnotes
Y Y wie Yves
Barbara Könches
„Wenn im Text vom Künstler Yves Klein die Rede ist, heißt er meistens nur ‚Yves‘. Dies erklärt sich nicht nur aus der Freundschaft des Verfassers mit dem Künstler, sondern aus dessen bewußter Betonung des Vornamens als ausreichender Benennung. Er wünschte es so, und jedermann nannte ihn Yves.“[i] So schrieb Paul Wember (1913-1987), „Leiter des Kaiser-Wilhelm-Museums in Krefeld“ und „ab 1957 und bis zu Kleins Tod 1962 ihm freundschaftliche verbunden“, im Vorwort des ersten Werkverzeichnis Yves Klein, das im Verlag M. DuMont Schauberg in Köln 1969 erschien. Angeregt hatte die Publikation Rotraut Klein (*1938), die – wie Wember betonte – maßgeblich im Verlauf von sechs Jahren dazu beigetragen hatte, den „Überblick über sein [Kleins] Oeuvre“ zusammenzutragen.[ii]
[i] Paul Wember, Yves Klein. Werkverzeichnis. Biographie. Bibliographie. Ausstellungsverzeichnis. Bearbeitet von Gisela Fiedler. Köln 1969, S. 7.
[ii] Wember (wie Anm. 1), ebd.
Wember war der erste und einzige Museumsdirektor zu Yves´ Lebzeiten (1928-1962), der ihm 1961 eine Einzelausstellung in einem deutschen Museum ausrichtete. Damals eine sehr mutige Tat, denn Yves Klein, seine Person wie seine Kunst waren lange Jahre höchst umstritten, was man sich heute nicht mehr vorstellen kann.
In der angesehenen deutschen Wochenzeitschrift Die Zeit veröffentlichte Jürgen Claus (1935-2023), selbst Künstler und Kunsttheoretiker, eine Rezension über Wembers Werkverzeichnis, das sehr aufwendig ausgestattet war, und wer es erwerben wollte, musste den damals stolzen Preis von 180 Mark aufwenden. „Ich würde das Buch gern meinen Freunden empfehlen“, bedauerte Claus, „[…] nur kann sich leider keiner meiner Freunde das Buch kaufen […].[i]“ Dennoch trübte der hohe Preis den Blick des Kritikers nicht, im Gegenteil kündigte er zu Beginn seines Aufsatzes an, er habe „nicht die Absicht, den beiden Verrissen des Yves Klein, die bislang in der ZEIT erschienen, einen weiteren Verriß beizugesellen.“[ii] Vielmehr wägte Jürgen Claus die Verdienste Kleins ab und resümierte mit salomonischem Urteil: „Akzeptiert man die expandierende Funktion der Kunst, dann kann man auch, meine ich, den mystisch-spekulativen Grundton des Franzosen zumindest in Kauf nehmen, wenn man ihn schon nicht billigen will. Zieht man ihn ab, so bleiben genug Herausforderungen, Bilder, Gedanken, Plastiken, Skizzen, an die man sich halten kann.“[iii]
[i] Jürgen Claus, „Herausforderung des Yves Klein. Eine erste Monographie über den umstrittenen französischen Künstler“, in: Die Zeit, Nr. 25, 20. Juni 1969 (https://www.zeit.de/1969/25/herausforderung-des-yves-klein, zuletzt 2.03.2024).
[ii] Claus (wie Anm. 3), ebd.
[iii] Claus (wie Anm. 3), ebd.

Der erste „Verriß“ in eben dieser Wochenzeitung erschien am 17. August 1962, also kurz nach dem Tod von Yves am 6. Juni 1962, unter der Überschrift „Der erste Meister, der vom Himmel fiel“[i] und sein Autor war ausgerechnet Klaus Jürgen-Fischer (1930-2017), der nicht nur selber Künstler und im Verlag seines Vaters Kunstredakteur[ii] war, sondern derjenige, der bei der für die ZERO-Kunst so entscheidenden 7. Abendausstellung Das rote Bild im Atelier Gladbacher Straße 69 die Eröffnungsrede gehalten hatte. Und wenn auch nicht ganz so prominent wie Yves Klein, so war Klaus J. Fischer, wie er sich in dem die Ausstellung begleitenden Magazin ZERO 1nannte, doch mit einer Antwort auf die Frage „Wohin geht die Farbe?“ vertreten.[iii]
Jürgen Claus wählte den Begriff des „Verriß“ nicht von ungefähr, denn Jürgen-Fischers Text war und ist persönlich beleidigend, fern ab einer kritischen Beurteilung und tatsächlich so verleumdend, dass man ihn bis heute an keiner Stelle zitieren möchte.
[i] Klaus Jürgen-Fischer, „Der erste Meister, der vom Himmel fiel“, in: Die Zeit, Nr. 33, 17.08.1962 (https://www.zeit.de/1962/33/der-erste-meister-der-vom-himmel-fiel, zuletzt 2.03.2024).
[ii] In der Kunstzeitschrift Das Kunstwerk, Baden-Baden, die im Verlag Agis in Baden-Baden erschien.
[iii] Vgl. ZERO 1, hrsg. von Otto Piene, Heinz Mack, Düsseldorf 1958, S. 20.
Wieviel verletzender müssen die Worte auf einen Freund gewirkt haben?
Otto Piene (1928-2014) war ein solcher Freund und nicht nur das, er entschloss sich augenblicklich gegen die infame Berichterstattung zu intervenieren. Noch am selben Tag tippte Piene einen Brief „an die Redaktion der ‚Zeit‘ Hamburg Pressehaus“[i] in seine Schreibmaschine:
[i] Otto Piene an die Zeit bzw. Doktor Leonhardt, Düsseldorf, 17.08.1962, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Otto Piene, mkp.ZERO.2.I.1359.
„Nach meiner Kenntnis der Person des Yves Klein – menschlich und künstlerisch – darf ich Ihnen versichern, [dass] die Ausführungen in Ihrer Zeitung böswillig, unwahr, unmoralisch sind.“ Piene erklärte weiter, dass Jürgen-Fischer „schon zu Lebzeiten Yves Kleins immer wieder versucht[e], ihn zu verunglimpfen“. „Dass Sie [die Zeit-Redaktion bzw. Rudolf Walter Leonhardt als Feuilletonchef] dem Stänker Jürgen-Fischer Gelegenheit dazu geben, ist mir völlig unverständlich und zeugt, ganz gelinde gesagt, von wenig Takt.“
„Yves Klein ist auf sehr unfaire Weise durch Ihr ‚Deutsches Wochenblatt‘ verhöhnt worden und kann sich nicht wehren. Bitte lassen Sie ihm Gerechtigkeit widerfahren, indem Sie der Herabwürdigung eine Würdigung folgen lassen.“ (Otto Piene)
Sich einfach zu beschweren, wäre das Eine gewesen, doch Piene möchte Gerechtigkeit für seinen verstorbenen Freund. Er bittet darum, dass man ihm oder einem anderen Gelegenheit böte, „eine positive Würdigung Kleins […] folgen zu lassen. „Um der geistigen Sauberkeit willen [,] würde ich sie völlig unpolemisch halten und auf den Fischer-Artikel nicht eingehen, denn es wäre dem Verstorbenen kein Dienst erwiesen, ein öffentliches Gezänk zu veranstalten.“
Umgehend kam ein Brief aus der Feuilleton-Redaktion der Zeit zurück. Dr. Leonhardt (1921-2003) bedankte sich bei Piene für seine offene Stellungnahme und sandte ihm anbei einen anonymen Brief zu. Da „der zu feige [sei], seinen Namen zu nennen […],“[i] müsse Piene wohl doch die Sache „mit Herrn Jürgen-Fischer selber diskutieren.“ Und Leonhardt fügte noch eilig hinzu: „Dessen Artikel entspricht im übrigen durchaus den Überzeugungen der ZEIT-Redaktion.“[ii]
Es dauert keine zwei Tage, bis Otto Piene erneut ein Schreiben an „Herrn Dr. Leonhardt“ verfasst und ihm den Brief des „Schlaumeiers aus Trier“ zurückschickte. Im Anschluss erklärte er dem Feuilletonleiter, worum es ihm und seinen Freunden, „von denen manche auch die Freunde von Yves Klein waren“, ging: „Yves Klein ist auf sehr unfaire Weise durch Ihr ‚Deutsches Wochenblatt‘ verhöhnt worden und kann sich nicht wehren. Bitte lassen Sie ihm Gerechtigkeit widerfahren, indem Sie der Herabwürdigung eine Würdigung folgen lassen.“[iii]
Trotz der Bemühungen Pienes unterließ man es in der Hamburger Redaktion eine zweite Meinung über den Künstler, der sich Yves nannte, einzuholen.
[i] R.W. Leonhardt an Otto Piene, Hamburg, 20.08.1962, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Otto Piene, mkp.ZERO.2.I.1360.
[ii] Leonhardt (wie Anm. 10).
[iii] Otto Piene an R. W. Leonhardt, Düsseldorf, 22.08.1962, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Otto Piene, mkp.ZERO.2.I.1361.
Yves Klein musste viel Kritik einstecken, wie Paul Wember in seiner Werkmonografie im Kapitel „Urteile und Begegnungen“ nicht verhehlt mitzuteilen.[i] „Neben schlechten Beurteilungen, Verdrehungen, Herabsetzungen, Nichtverstehen hatte Yves unter den Künstlern, Kritikern und Kunstinteressierten viele echte Freunde, die ihn schätzen, sich über seine Arbeiten freuten und seine Aktionen echt bewunderten“, berichtete Wember und führte im Anschluss zahlreiche Freunde namentlich auf, so auch Norbert Kricke (1922-1984), der „als erster deutscher Künstler Yves in Paris in seiner Bedeutung richtig gesehen“ habe.[ii] Für eine „Reihe anderer deutscher Künstler, die früh mit ihm befreundet waren, […] besonders für die Zero-Gruppe, für Mack, Piene und Uecker“ sei Yves eine Art Anreger und Inspirator gewesen. In vielen Gesprächen und Erinnerungen haben alle drei – Mack, Piene und Uecker – sowohl in der ZERO-Zeit wie auch später – die Bedeutung Yves Kleins und ihre je individuelle tiefe Freundschaft häufig betont. Nicht zuletzt zeugt die prominente Rolle, die Yves Klein in den ZERO 1– und ZERO 3[iii]-Magazinen zukommt, von der Wertschätzung, Hochachtung und Freundschaft zwischen Heinz, Otto, Günther und Yves.
[i] Wember (wie Anm. 1), S. 54.
[ii] Wember (wie Anm. 1), S. 57.
[iii] Für dieses Vertrauen zeugt auch, dass Yves Klein in einem sechsseitigen handgeschriebenen Brief genaue Anweisungen an Otto Piene weitergibt, wie die Seiten in ZERO 3 zu verbrennen seien: „– Please Piene make it in a lovely way – I know it is may be a delicate WORK – but do it – I am sure you will not let me down with this“, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Otto Piene, mkp.ZERO.2.I.2095, S. 3-4. Offensichtlich hatte Piene alles richtig gemacht, denn es existiert kein weiterer Brief in der Sache. Yves Klein scheint sich auch nicht daran gestört zu haben, dass die Anthropometrie Nummer 113, bei Wember Ant 113 betitelt, und in ZERO 3 mit der Überschrift „Yves Klein Le Monochrome. Vers L´Anthropophagie universelle“ bezeichnet, in der Publikation falsch herum abgebildet wurde.

Mehr zu Yves


Endnotes
Z ZERO
Protokoll eines Workshops
Barbara Könches
Am 1. und 2. September 2023 trafen sich die Autor*innen des „ZERO-ABC“ mit ZERO-Kennern und -Fans, um den interdisziplinären Vorträgen zuzuhören, neue Ansätze der Forschung zu verhandeln und in zwei Workshop-Einheiten der Frage nachzugehen: Wie definiert man ZERO? Als eine Kunstrichtung, als eine Bewegung, Idee oder Initiative? Als „Dachmarke“ oder als ein internationales Netzwerk? Oder muss die Frage schlussendlich offenbleiben?
Während einer abschließenden Diskussion im großen Plenum wurden sehr anregende und kluge Gedanken, Analysen und Vorschläge ausgetauscht, die wir als Veranstalter sicher auf unseren Computer gespeichert wähnten. Erst das Transkript offenbarte, dass die Audiodatei nahezu nutzlos war. In völlig wirren Sätzen tauchten Begriffe wie „Terroristen“, „Polizei“ und „Mord“ auf. Was immer die künstliche Intelligenz herausgehört haben mag, zu keinem Zeitpunkt hat uns das Thema ZERO in die Abgründe der Kriminalität geführt. So bleibt es am Ende doch beim Do-it-yourself-Verfahren. Wenngleich auch ich große Schwierigkeiten hatte, die Beiträge akustisch zu verstehen, so konnte ich doch durch Stichworte und Erinnerung ein Protokoll herstellen, das inhaltlich den Workshop widerspiegelt, allerdings nicht wortwörtlich und nicht in der Zuordnung der Personen.
Dieser Bericht ist als „Dokufiktion“ zu verstehen, dessen Protagonisten die Tagungsteilnehmer*innen sind. Jede der vielen Wortmeldungen hat einen wichtigen Baustein zu diesem Gedankengebäude beigetragen.

Stühle werden zurechtgerückt, Gemurmel im Raum.
Sprecher*in 1: Ich glaube, wir sind wieder vollständig. Ich heiße Sie ganz herzlich willkommen zu unserer letzten größeren Abschlussdiskussion. Sie haben in den letzten zwei Tagen sehr viel über ZERO gehört, über die Kunst und die Künstler*innen, über die Bewegung und die Zeitumstände. Doch die Frage nach einer Wesensbestimmung von ZERO ist unbeantwortet geblieben. Was ist ZERO?

Sprecher*in 2: Warum stellen ausgerechnet Sie als ZERO foundation uns diese Frage?
Gelächter
Sprecher*in 1: Weil ein Ziel dieser Tagung darin besteht, den Versuch einer Antwort zu wagen. Denn so viel ist sicher, bislang existiert keine einheitliche Definition.
Otto Piene hat davon gesprochen, dass ZERO viel weniger eine feste Gruppe sei als vielmehr eine Menge von Künstler*innen, die einen Standpunkt oder eine Idee miteinander teilen. Heinz Mack fertigte zu Beginn der 1970er-Jahre, also nachdem die Künstler sich längst nicht mehr in diesem Umfeld bewegten, Diagramme an, die etwas über Herkunft und Zugehörigkeit erzählen – Astrit Schmidt-Burckhardt hat das Thema ausführlich vorgestellt.

Verschiedentlich hat man versucht, die an ZERO-Ausstellungen beteiligten Künstler*innen aufzulisten beziehungsweise zu zählen, also eine quantitative Herangehensweise, gegen die an sich nichts spricht bis auf den Einwand, dass eine Unsicherheit im Begriff der ZERO-Ausstellung liegt. Welche Ausstellungen gehören oder gehörten in diese Kategorie – sicherlich nicht nur die, welche „ZERO“ im Titel trugen.
Auch die verschiedenen Ansätze der Netzwerktheorie könnten Methoden zur Hand geben. Erschwert werden solche Ansätze jedoch durch die historische Entwicklung der „ZERO-Gruppe“, die als zunächst homogen erscheinende Menge sich bald in unterschiedliche künstlerische Richtungen aufsplitterte wie in die Nouveaux Réalistes, dessen Kopf Pierre Restany war, oder in die Groupe de Recherche d´Art Visuel (GRAV), beide in Paris, oder in die Gruppo Enne in Padua und die Gruppo T in Mailand. Hatte sich zum Ende der 1950er-Jahre ein offenes Handlungsfeld entwickelt, an dem Künstler*innen mit unterschiedlichen (Kriegs-)Erfahrungen, mit individuellen künstlerischen Ansätzen und aus verschiedenen Ländern wie Italien, Belgien, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden oder der Schweiz beteiligt waren, so differenzierte sich zu Beginn der 1960er-Jahre die Bewegung in einzelne lokale Gruppen.
Sprecher*in 3: Man muss sich auf jeden Fall auf die Zusammenarbeit in den entscheidenden ZERO-Jahren konzentrieren, denn es entsteht ein falsches Bild, wenn man Aktivitäten als genuin ZERO charakterisiert, die später stattfanden.
Sprecher*in 4: Die Erkenntnis kann aber auch sein, dass ZERO undefinierbar ist oder bleibt, weil ZERO sich selbst nicht definiert hat.
Sprecher*in 2: Vielleicht sollte man sich auf die künstlerischen Manifeste konzentrieren, die Statements aus der Zeit lesen und auswerten.
Sprecher*in 5: Wir dürfen auch den damaligen Zeitgeist nicht aus den Augen verlieren.
Sprecher*in 6: Betrachten wir ZERO aus der Sicht ihrer Konstitution, so stellt sich die Frage nach der Zugehörigkeit, also der Inklusion und damit natürlich auch der Exklusion. Wer gehörte denn dazu und wer wurde ausgeschlossen oder besaß ZERO einen osmotischen Charakter: Manche nahmen an gewissen Ausstellungen teil, an anderen nicht, doch der Kreis war nie ein exklusiver. Man beteiligte sich an ZERO, wenn es ins Konzept passte. Insofern hat Piene Recht, wenn er behauptet, ZERO bestand aus einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Es existierte kein Manifest, aber man teilte Grundsätze. Mit diesen Grundsätzen könnte man ZERO versuchen zu definieren. ZERO war keine autonome Gemeinschaft, sondern sie suchten Anschluss an den Zeitgeist.
Sprecher*in 7: Wir sollten auch bedenken, dass es Künstler*innen gab, die sich in ihrer Arbeit an den Gedanken von ZERO anlehnten, die aber menschlich nicht unbedingt in diesen Kreis gehörten oder gehören wollten. Insofern ist die Gemeinschaft der Gleichgesinnten kritisch zu reflektieren. Es gab Animositäten, so dass einige aufgenommen wurden, andere nicht. Und 1963 ist es mit der Gemeinsamkeit ja auch durch den von Piene ausgerufenen Idealismus schon wieder vorbei. Ich würde sagen, ZERO ist ein offenes Netzwerk, wo Informationen fließen.

Sprecher*in 8: Als ich die Einladung zu dieser Tagung bekam, fragte ich mich, was bedeutet ZERO, diese Null, die man doch vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs sehen muss, so simpel das zunächst klingt. Das bedeutete doch zuerst, dass man sich abgrenzte von Zeitgenossen, um einen Neuanfang zu machen, den man machen musste. Das war bei den Musiker*innen auch nicht anders, sogar noch stärker. Man grenzte sich also stark ab von der Tradition und dadurch definierte sich die Gruppe, die alles anders machen wollte.
Der andere Punkt ist die Betrachtung des Einzelnen als Individuum wie als Teil einer Gruppe. In der bildenden Kunst bedeutete das zwischen den Einzel- und den Gruppenausstellungen seine Identität zu finden. Wie viele und welche Kompromisse konnte und wollte man schließen?
Und schließlich unterschied sich auch die Entwicklung in den europäischen Ländern, zumindest in der Musik. In Frankreich musste man sich nicht politisch von den Vätern und Müttern absetzten, sondern es handelte sich hier um einen normalen Generationskonflikt.
Man muss bei unseren Überlegungen verschiedene einzelne Erzählstränge aufbrechen, um die nicht überwundenen National- und Generationskonflikte zu sehen und die Trennungen deutlich zu machen, die man überwinden will. Dann sieht man, wie groß die Vielfalt ist, und was an Gemeinsamen bleibt.
Sprecher*in 1: Aber die ZERO-Leute haben sich bewusst über nationale Grenzen hinweggesetzt. Die Kollegen aus den Niederlanden beispielsweise nannten sich ab 1961 in Anlehnung an ZERO Nul-Group. Einig waren sich die Künstler darin, dass sie nationale Grenzen nicht akzeptierten, nicht berücksichtigen wollten. Ich glaube, das taten sie aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus und Faschismus heraus. Sie wollten über die Grenzen und Nationen hinweg denken. Und doch gab es Gegenden, in denen sie sich wohler fühlten als in anderen. Mack erzählte einmal, dass er sich Ende der 1950er-Jahre in Mailand sehr wohl fühlte, und man kann sich vorstellen, dass man als Deutscher in Italien vielleicht weniger Ressentiments zu spüren bekam als in Frankreich.
Vielleicht waren sich die ZERO-Leute viel eher einig in der Abwehr dessen, was sie nicht mehr erleben wollten. Es ist ein häufig zu beobachtendes Phänomen, dass man sich eher darauf einigen kann, was man nicht möchte, als darauf ein gemeinsames Ziel zu formulieren.
Sprecher*in 7: Lassen Sie uns die Frage nach der Kunst etwas genauer betrachten. Wie wir im Beitrag über das Theater bzw. die Performance von Barbara Büscher gehört haben, gab es schon früh die Verbindung von bildender und performativer Kunst bei ZERO.
Sprecher*in 3: Dazu passt auch der Vortrag von Marco Meneguzzo, der dargelegt hat, wie die ZERO-Kunst durch das Licht neue Räume kreierte, also ein neues Denken von Raum initiierte. Das ist ein Charakteristikum, auf das man immer wieder stößt.
Sprecher*in 8: Wie kommt das jetzt mit dem politischen Aspekt zusammen? Wir waren uns einig, dass 1945 eine Rolle spielte. Zusätzlich wäre die Frage nach dem Einfluss von Kunst und Musik aus den Vereinigten Staaten zu stellen.
Sprecher*in 9: Ebenso erstaunlich ist es, dass es so kurz nach dem Krieg keine Rolle spielte, ob die Künstler*innen aus Frankreich oder Italien kamen, und dass sie alle wieder in Deutschland ausstellten.
Sprecher*in 2: Es gab auch andere künstlerische Neuanfänge in Europa wie die der Situationisten in Paris, die sich sehr viel stärker politisch äußerten. Die Stunde Null wurde in der Literatur ausgehend von Adorno als Unmöglichkeit aufgefasst, weiterhin Gedichte zu schreiben. Die Maler haben gesagt, dass sie nicht länger figurativ malen wollen. Andererseits bestand bei manchen Deutschen das Bedürfnis, jetzt gerade künstlerisch tätig werden zu müssen. ZERO machte seinen Neuanfang, indem es die Freiheit feierte. Man wollte die determinierten Räume verlassen und raus in die Natur gehen. Kunst, Natur und Technik sollten zusammenkommen.
Sprecher*in 7: Ich betrachte ZERO als Künstlerinitiative mit offenem oder halboffenem Netzwerk, vielleicht wäre auch der Begriff „Wettbewerb“ angebracht. Damals stellte sich das sicherlich anders dar als aus der heutigen Betrachtung, die ich als einen „Düsseldorfer Kosmos“ bezeichnen möchte.
Sprecher*in 10: Wichtig waren die Abendausstellungen. Hierzu haben sich die Künstler*innen zusammengefunden, wie das Künstler nach meinen Erfahrungen immer sehr gut und effizient tun. Wie gesagt, es war die Zeit der vielen Initiativen in den 1960er-Jahren in Europa. Man war unter Gleichgesinnten gut vernetzt und das Netz entwickelte sich in alle möglichen Richtungen. Doch man erachtete es nicht mehr als notwendig, ein gemeinsames Manifest oder ähnliches zu verfassen. Das heißt doch, dass die Künstler als einzelne Personen mit unterschiedlichen Dingen befasst waren und somit eine Auflösung 1966 nur konsequent war. Sozusagen im Moment des größten Erfolgs mit Ausstellungen in Amerika und Europa sahen sie für sich keinen Sinn mehr, die Gruppenaktivitäten fortzuführen. Und in der Tat trafen in der Düsseldorfer ZERO-Gruppe drei sehr unterschiedliche Charaktere aufeinander.
Diese kalte und emotionslose ZERO-Kunst, die auf keiner Tradition aufbaute und dadurch nicht kontaminiert war, traf in Frankreich oder in Amerika sicherlich auf Erstaunen.
Bei allen Überlegungen haben wir aber eines bisher übersehen: den Marketing-Effekt des „Wanderzirkus“ ZERO, mit dem eine „Marke“ geschaffen wurde, die bis heute existiert.

Sprecher*in 7: Die zunächst untergegangen ist, doch ZERO hat überlebt: als Kunst, als Marke und mit ihren Plakaten.
Sprecher*in 10: Die Marke ZERO hat überlebt und das ist entscheidend.
Sprecher*in 4: Ich würde gerne nochmal auf zwei Themen zurückkommen. Das erste ist die Idee der Ideologisierung. Die ersten Avantgarden im 19. Jahrhundert gingen alle mit einem Ismus-Begriff einher, der im Grunde ein kunstpolitischer Terminus ist. Bei ZERO findet sich jetzt nicht mehr eine Assoziation oder eine Gruppierung oder eine Tendenz, sondern es ist ein fester Zusammenschluss, im Grunde eine ästhetische Partei, so dass es eben nicht mehr diese politische Ideologisierung qua Label war.
Das Schöne für mich ist einfach, dass die Zero foundation drei Typologien bedienen kann, die funktionieren. Und das eine ist das Schaubild, das andere ist die Planung und das dritte ist das Netzwerk. Und alle drei Typologien sind eben in den vorgestellten drei Schaubildern enthalten. Topografische Verteilung der verschiedenen imaginären Dimensionen, Kontextualisierung und Planung.
Sprecher*in 2: Aber ist es legitim, diese im Nachhinein angefertigten Schaubilder heranzuziehen bei der Frage danach, was ZERO war? Für mich spielt es eine entscheidende Rolle aus welcher Autor*innenperspektive ein Diagramm oder eine Definition formuliert wird. Aus der damaligen Gruppe heraus ergaben sich sicherlich andere Antworten als aus unserer heutigen Sicht. Aber vielleicht ist das auch nur eine leichte Verschiebung.
Sprecher*in 8: Darf ich dazu noch eine Frage stellen, die mich immer beschäftigt hat in der Musik? Also was entscheiden die Künstler, was entscheiden die anderen? Wie können wir Inhalte von Vermarktungsstrategien abgrenzen? Wie können wir das Verhältnis von Inhalt und Distribution beschreiben?

Sprecher*in 5: Ich sehe das anders, gute Kunst wurde immer zu ihrer Zeit abgelehnt und hat sich erst im Nachhinein durchgesetzt.
Sprecher*in 8: Welche Akteure haben dazu beigetragen?
Sprecher*in 5: Das könnte man vielleicht als ein großes Netzwerk beschreiben.
Sprecher*in 2: Wollen wir uns das Erfahrungsfeld dieser zwischen 1926 und 1936 geborenen Künstler*innen nochmal anschauen, die bei Kriegsende etwas zwischen 10 bis 18 Jahre alt waren; ein Alter, an das man bewusste Erinnerung hat. Vergleicht man die ZERO-Jahrgänge mit den nach 1937 geborenen – mit Künstlern wie Sigmar Polke – so werden schnell Unterschiede im Umgang mit Politik oder politischen Themen deutlich.
Sprecher*in 7: Ich meine, das Erleben dieses kollektiven Kriegstraumas ist schon wichtig, das wird oft unterschätzt.

Sprecher*in 11: Ja, aber man sollte auch bedenken, dass es Länder gab, wo man sich ungleich stärker als Opfer des Krieges fühlte, und das musste man dort auch verarbeiten. Daher habe ich mich immer gewundert, dass ZERO so mit offenen Händen in anderen Ländern empfangen wurde. Ich meine, dass dies ein Zeichen dafür war, dass in dieser Zeit alle nach vorne blicken wollten und vielleicht dadurch auch nationale Blickwinkel aufgegeben haben. Was sicherlich für die Nachbarn hinter dem Eisernen Vorhang nicht leicht war.
Sprecher*in 1: Da war es doch leichter in Deutschland eine Publikation mit dem Titel „ZERO“ herauszugeben – hier ein wohlklingendes Wort aber im Ausland immer schnell mit der Null assoziiert. Übrigens manchmal auch für eine ZERO foundation kein leichtes Unterfangen, sich immer als „Null-Stiftung“ vorstellen zu müssen.
Gelächter.
Sprecher*in 1: Aber sicherlich diente das Branding „ZERO-Kunst“ über die künstlerischen Belange hinaus auch der Vermarktung. Ansonsten wären die Jahrzehnte anhaltendenden Diskussionen, wer dazu gehörte oder nicht, uninteressant gewesen. Es ging beim „Wanderzirkus“ ZERO auch um Marketing, aber nicht nur.
Sprecher*in 2: Ich glaube, wir haben viele Gedanken zusammenbekommen. Kann aber sein, dass wir etwas Entscheidendes vergessen haben. Jeder denkt bitte noch mal darüber nach, ob alle wichtigen Stichwörter, Gedanken, Ideen oder Vorschläge angesprochen worden sind.

Sprecher*in 12: Hier sind die Ergebnisse der gestrigen Gruppenarbeiten. Darauf befinden sich noch ein paar Begriffe, die genannt sein sollten wie „Hinwendung zum Kosmos“ und davon ausgehend eine Makro- und eine Mikrostruktur.
Ein anderer Begriff, der in der Diskussion noch nicht gefallen ist, heißt „Expedition“: ZERO als Expedition. Über „ZERO als Dachmarke“ haben wir schon gesprochen. Und immer wieder stoßen wir auf das Netzwerk, einmal als „Wanderzirkus“ betitelt ein anderes Mal als künstlerische Initiative.
Sprecher*in 7: Häufig wird ZERO als Bewegung beschrieben.
Sprecher*in 2: Mir gefällt der Ausdruck gut, denn darin lässt sich eine Doppeldeutigkeit lesen, die Assoziationen mit einer geistigen und zugleich physisch realen Bewegung. Die Bewegung als Unruhe, Veränderung, Metamorphose.
Sprecher*in 1: Und dabei wird es wohl bleiben, denn wir haben jetzt viele Meinungen ausgetauscht und spannende Diskussionen geführt, doch ich fürchte, wir bleiben eine Definition von ZERO schuldig. Eine Frage nach ZERO gebiert tausend neue wie die Häupter der Hydra.
Ihnen herzlichen Dank für Ihre Gedanken und Vorschläge, dem Organisationsteam Dank für die allzeit gute Bewirtung während der Tagung. Kommen Sie gut nach Hause.

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