0 Grußworte
Als der Historiker Jürgen Osterhammel 2014 den Sigmund-Freud-Preis entgegennahm, war seine Dankesrede mit dem Titel Entscheidungen und Anfänge überschrieben. Er spielte damit auf die bewussten Setzungen von Tonlage und Erzählerperspektive beim Schreiben geisteswissenschaftlicher Texte an. „Auf jeden Fall“, so der Autor großer Publikationen zum 18. und 19. Jahrhundert, „verlangt das 20. Jahrhundert andere Darstellungsformen: stärker gebrochen und fraktal, hörbar einzelne Stimmen zur Geltung bringend“.
Auch die Herausgeber*innen und Autor*innen des ZERO-ABC entfalten die ZERO-Geschichte nicht linear. Sie folgen dem englischen Alphabet, und das ist gleichermaßen komplex wie einfach: Komplex, weil die Gliederung große Verzichtsentscheidungen aller Beteiligten bedeutete. Jeder Buchstabe wurde nur einmal vergeben, ohne dass das große Ganze aus dem Blick geraten durfte. In Ergebnis und Nutzung einfach für die Leser*innen, denen die zentralen Begriffe zu ZERO nun deutlich vor Augen stehen.
Mit dem ZERO-ABC liegt ein Forschungsinstrument für alle vor, die sich künftig für diese Kunstrichtung interessieren ‒ und für eine Zeit, der die Generation ZERO selbst, trotz allem, mit viel Optimismus begegnete. Wir haben dieses Unternehmen gerne durch Stiftungsmittel unterstützt und wünschen diesem wichtigen Buch viel Erfolg.
Dr. Angela Kühnen, Mitglied des Vorstands der Gerda Henkel Stiftung
„ZERO ist gut für dich“, so lautete das Motto, unter dem die drei Düsseldorfer Künstler Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker 1966 die Auflösung ihrer acht Jahre zuvor gegründeten Zusammenarbeit – Uecker stieß erst 1961 hinzu – mit einem großen „ZERO-Mitternachtsball“ im Bahnhof Rolandseck in Remagen begingen. Selbst das Ende ihres Miteinanderwirkens schien von Optimismus geprägt. Ausgehend vom Rheinland hatten die drei Künstler in den späten Fünfziger- und beginnenden Sechzigerjahren eine Bewegung angestoßen, die den oftmals düsteren Abstraktionen von Informel oder Tachismus, in denen die psychischen und physischen Verheerungen des Zweiten Weltkrieges nachhallten, Aufbruchstimmung und Leichtigkeit entgegensetzte. Fast wünscht man sich angesichts unserer krisengeschüttelten Zeit, diese Zuversicht möge auf uns überspringen und unsere von Krieg, Pandemie oder Umweltzerstörung sorgenzerfurchten Gesichter ein wenig aufhellen.
Aber die ZERO-Bewegung war nicht nur von spielerischer Freigeistigkeit und Zukunftshoffnung geprägt. Dieser im internationalen Kontext agierende Verbund, der, ähnlich dem Surrealismus, keinen eigenen Stil vorgab, sondern vielmehr einer Haltung entsprang, hatte ein intellektuelles Fundament und vertrat weitreichende Visionen. Neben den Kräften der Natur war es nicht zuletzt der technische Fortschritt, der den Optimismus der ZERO-Bewegung speiste und ihr eine hoffnungsvolle Zukunft verhieß.
Zwar schufen die ZERO-Künstler europaweit Netzwerke und knüpften Freundschaften – die wesentlichen Stationen ihrer acht Jahre währenden Zusammenarbeit spielten sich dennoch in unmittelbarer Nähe des Rheins ab: Ihren Anfang nahm die Bewegung in den Räumen des in Künstlergemeinschaft gemieteten Atelierhauses in Düsseldorf-Unterbilk, ihre letzte gemeinsame Ausstellung zeigten sie rund 70 Kilometer rheinaufwärts in den Städtischen Kunstsammlungen Bonn. Zu ihrem Finale veranstalteten sie im südlich von Bonn gelegenen Bahnhof Rolandeck den besagten Mitternachtsball, bei dem unter anderem in einer theatralisch anmutenden Inszenierung ein Wagen mit in Flammen gesetztem Stroh vom Bahnhof aus Richtung Rhein in Fahrt gesetzt wurde und in den Fluten versank.
Die ZERO-Avantgarde hat das Rheinland durch und durch geprägt. Ihren Zeugnissen –den Lichtstelen von Heinz Mack, den kinetischen Installationen von Otto Piene oder den Nagelbildern und -objekten von Günther Uecker – begegnen wir hier nicht nur in Museen und Galerien, sondern ebenso in Parks, Opernhäusern oder an Kaufhausfassaden. Dabei wirkt die ZERO-Kunst selbst Jahrzehnte nach ihrer Entstehung kein bisschen angestaubt und versetzt uns mit ihrer spielerischen Leichtigkeit und Experimentierfreude noch immer in Staunen.
Dieses kulturelle Erbe, dessen nachhaltige Bedeutung weit über die deutsche Kunstgeschichtsschreibung hinausreicht, zu sichern und zu erforschen, zählt zu den Kernaufgaben des Landschaftsverbands Rheinland. Es ist uns daher eine große Freude, dass dieses von der ZERO foundation initiierte und unter Beteiligung internationaler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entstandene ZERO-ABC mit Unterstützung der LVR-Kulturförderung realisiert werden konnte. Dabei ermöglichen es der interdisziplinäre Ansatz sowie das von den ZERO-Künstlern Mack, Piene und Uecker mit Gründung der ZERO-Stiftung in Düsseldorf zur Verfügung gestellte Archivmaterial und nicht zuletzt der an zentralen Begrifflichkeiten orientierte, interdisziplinäre Ansatz, die Avantgardebewegung mit einem frischen Blick und aus neuen Perspektiven zu betrachten.
Anne Henk-Hollstein, Vorsitzende der Landschaftsversammlung
Ulrike Lubek, Direktorin des Landschaftsverbandes Rheinland
Den Freunden der ZERO foundation Düsseldorf e.V. ist es ein Hauptanliegen den ZERO-Gedanken – die radikale Erneuerung der Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg – lebendig zu halten und zu fördern. Mit großer Freude unterstützen wir daher das Forschungsprojekt ZERO-ABC.
Unsere regelmäßigen Zuwendungen führten in der Vergangenheit bereits zur Realisierung des Bandes The Artist as Curator, der großen ZERO-Retrospektive Zero – Die internationale Kunstbewegung der 50er und 60er Jahre im Berliner Gropius-Bau 2015 und trugen vor allem zur Restaurierung und Ausstattung des ZERO-Hauses bei.
Finanziell unterstützten die Freunde der ZERO foundation zuletzt zudem das anlässlich des fünfzehnjährigen Jubiläums verwirklichte Projekt ZERO-Kunst und Mode, die Ausstellungen Otto Piene. Stars im Nationalmuseum Breslau, Mack im ZKM Karlsruhe sowie die Ankäufe zweier Werke Günther Ueckers – Sintflut (Die Engel fliegen), 1963 und Sintflut Manifest – Überflutung der Welt TRANSGRESSION, 1963 – und eines weißen Monochroms (Ohne Titel), 1961, von Hermann Bartels.
Mit dem ZERO-ABC wird nicht nur das Archiv der ZERO Foundation lebendig und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht, sondern es wird durch die Beiträge dieser Publikation auch deutlich, wie aktuell und relevant die ZERO-Themen, wie beispielsweise Licht, Feuer, Natur, Kinetik auch heute sind und wie wohltuend ihre konsequente, positive und optimistische Zukunftshaltung auch für uns ist. Es ist daher erfreulich, dass die vorliegende Publikation durch eine deutsche und eine englischsprachige Webseite gleichen Namens ergänzt wird. Wir wünschen der Publikation und der Webseite eine breite Leserschaft und sind gespannt auf die Diskussion.
Dr. Detlef Hunsdiek, Vorsitzender der Freunde der ZERO foundation
Mit den zwei Büchern ZERO 4321 und The Artist as Curator hat die ZERO foundation bereits zwei wichtige wissenschaftliche Publikationen – neben zahlreichen Ausstellungskatalogen – herausgegeben, die aus der in der Stiftung seit 2008 betriebenen Forschungen und Recherchen resultierten.
Mit dem dritten Band dieser wissenschaftlichen Reihe, dem ZERO-ABC, verlässt die Stiftung die Ebene der chronologischen Darstellung und fragt nach den interdisziplinären Aspekten. Wie bereits in den vorangegangenen Veröffentlichungen wird die ZERO foundation dabei von namhaften internationalen Wissenschaftlern unterstützt, diesmal allerdings nicht nur aus der Kunstgeschichte, sondern auch von Experten aus der Musik, dem Theater/Performance, der Literatur, der Kulturpolitik, dem Kunsthandel und natürlich der Kunstwissenschaft.
Ein Archiv öffnet sich, so der Untertitel des ZERO-ABCs, durch den die Richtung der Untersuchung empfohlen, doch nicht vorgegeben ist. Die Dokumente aus der Zeit 1957/58 bis 1966, die Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker der Stiftung zum Geschenk machten, ermöglichen eine historisch fundierte Analyse. Daneben sind es auch Gespräche, Gedanken und Dokumente aus anderen Archiven, die das ABC zu einem authentischen Wissensspeicher machen. Aus den Vorträgen bzw. Texten entsteht ein lebendiges Bild der ZERO-Kunst der 1950er/60er-Jahre entlang der charakteristischen Begriffe wie dem A für das Atelier, dem B für die Bücher, dem K für die Kinetik oder dem L für das Licht.
Auf den Wahlplakaten in Deutschland wurde 1957 angeraten: „Keine Experimente“. Wir sind froh, dass die ZERO-Künstler von dieser Empfehlung keinen Gebrauch machten, sondern sich aufmachten, in europaweiter Freundschaft eine Kunst zu schaffen, deren Wirkung bis heute anhält und uns unvermindert neugierig hält. Auch die ZERO foundation wagt gerne das Experiment und ermöglicht neue Begegnungen in ungewöhnlichen Formaten. Herzlichen Dank an das ZERO-Team, zuvorderst Barbara Könches, die uns dieses Erleben mit ihrem Engagement für und im Namen von ZERO schenken!
Weiterhin gilt unser Dank den Autoren der Publikation, ebenso denen, die mit finanzieller und ideeller Unterstützung dieses herausfordernde Projekt ermöglichten: der Kunststiftung NRW (Prof. Dr. Dr. Thomas Sternberg, Dr. Andrea Firmenich), der Gerda Henkel Stiftung (Dr. Angela Kühnen), dem Landschaftsverband Rheinland (Anne Henk-Hollstein, Ulrike Lubek), den Freunden der ZERO foundation (Dr. Detlef Hunsdiek) und der Galerie Vervoordt (Boris Vervoordt).
(Auszug aus der Begrüßung zum Workshop am 1. September 2023 im ZERO-Haus)
Dr. Friderike Bagel, Vorstandsvorsitzende der ZERO foundation (2008-2023)
Endnotes
1 Einleitung
Barbara Könches
„Raymond Bellour: Wo stehen Sie persönlich innerhalb dieser Veränderung, die gleichsam die anspruchsvollsten Werke des Wissens in ein romanhaftes Abenteuer verwickeln?
Michel Foucault: Im Unterschied zu den sogenannten Strukturalisten interessiere ich mich nicht so sehr für die formalen Möglichkeiten, die ein System wie die Sprache bietet. Ganz persönlich lässt mir die Existenz von Diskursen keine Ruhe, die da sind, weil gesprochen worden ist; diese Ereignisse haben einst im Rahmen ihrer ursprünglichen Situation funktioniert; sie haben Spuren hinterlassen, bestehen weiter fort und üben durch dieses Fortbestehen innerhalb der Geschichte eine Reihe manifester oder verborgener Funktionen aus.
Raymond Bellour: Damit folgen Sie der Leidenschaft des Historikers, der auf das endlose Geraune der Archive reagiert.“[i]
[i] „Über verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben“, Michel Foucault im Gespräch mit R. [Raymond] Bellour, in: Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. I, 1954-1969, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, S. 750-769, hier S. 762, aus dem Deutschen übersetzt von Michael Bischoff.
Niemand anders als Michel Foucault (1926-1984) muss als Wegbereiter einer Publikation genannt werden, die sich aus dem Archiv speist –, einem Archiv, das sich wie im vorliegenden Fall aus dem Vorlass bzw. Nachlass von bildenden Künstlern zusammensetzt. In 90 Regalmetern, fein verpackt in säurefreien Stülpschachteln, die sich „Loreley“ oder „Scala“ nennen, dämmern hier im Dunklen Briefe, Rechnungen, Aufstellungen, Listen, aber auch Fotografien, Skizzen oder Entwürfe inmitten eines Biotops konstanter, angenehm warmer, doch niemals zu heißer Temperatur. Mehrmals am Tag geht das Licht kurz an, wird die ein oder andere Box hervorgezogen, um gezielt ein Papier herauszugreifen oder um ein Dokument zu entdecken, von dem man sich Antworten erhofft. Doch häufig genug findet der Suchende eine Antwort auf Fragen, die sich bislang nicht gestellt haben.
„Ja“, antwortet Foucault auf die Feststellung Raymond Bellours (*1939), er reagiere auf „das endlose Geraune der Archive“, und fährt fort, „denn mein Objekt ist nicht die Sprache, sondern das Archiv, also die akkumulierte Existenz der Diskurse. Die Archäologie, wie ich sie verstehe, ist nicht mit der Geologie (als Analyse des Unterirdischen) verwandt und auch nicht mit der Genealogie (als Beschreibung der Anfänge und der Folgen), sie ist die Analyse des Diskurses in seiner Modalität als Archiv [kursiv im Original].“[i]
[i] Foucault (wie Anm. 1), S. 763.
Wenn dem Arbeiten im Archiv das Denken Michel Foucaults vorangestellt sein soll, dann unter dem Aspekt, den sein langjähriger Freund und Biograf Paul Veyne (1930-2022) deutlich machte:
„Foucault räumt ein, dass der Mensch Initiativen ergreift, bestreitet jedoch, dass er dies dank der Präsenz des logos in ihm tut und dass seine Initiative zum Ende der Geschichte oder zur reinen Wahrheit führen könnte. […] Man muss die Hoffnung aufgeben, jemals einen Standpunkt zu erreichen, von dem aus uns der Zugang zur vollständigen und endgültigen Erkenntnis unserer historischen Grenzen eröffnet werden könnte.“[i]
[i] Paul Veyne, Foucault. Der Philosoph als Samurai, aus dem Französischen von Ursula Blank-Sangmeister, Stuttgart 2009, S. 133.
Das Bild als Manifestation von Kunst war längst schon verabschiedet worden, „nachdem Duchamp ihm zugunsten des realen Objekts die Absage erteilte und Rodtschenko es mit der Feststellung ‚Alles ist zu Ende‘ auf die reine Farbfläche reduzierte“, wie Christian Kravagna es in der Ausstellungsrezension zu Bildlicht. Malerei zwischen Materialität und Immaterialitätprägnant zusammenfasste.[i] In dieser wie auch in der parallel dazu gezeigten Ausstellung Das Bild nach dem letzten Bild, beide wurden 1991 in Wien gezeigt[ii], ging es um nicht weniger als „das Ende der Kunst“.[iii] „Was ist im 19.Jahrhundert geschehen, daß die Künstler erstmals das Gefühl hatten, alles gelesen und gesehen zu haben, alles geschrieben und gemacht zu haben“, frug Peter Weibel (1944-2023) im Ausstellungskatalog zum letzten Bild.[iv] Seine Antwort darauf ist so komplex wie stringent. Ausgehend „von Mallarmés idealem Gedicht, das nur noch Schweigen wäre“[v], entwickelt Weibel seine Argumentation von der „Krise des Verses [kursiv im Original], als Krise der Repräsentation“[vi]. Die Auflösung des Bildes liest Weibel mit Foucault als revolutionären Sieg der Zeichen über die Dinge.[vii] Wie kann die Kunst diese in der Moderne angelegte Selbstzerstörung aufhalten? Die Lösung lautet durch das Archiv. „Kunst heute hieße freier Zugang zum Archiv und damit auch freie Innovation statt Variation und Wiederholung, weil sie die ‚moderne Kunst‘ durchzieht. Ein befreites Archiv entsteht aber erst durch eine freie Interpretation. Was im Archiv ist und was es bedeutet, muß jedesmal neu definiert werden.“[viii]
„Das Ende der Kunstgeschichte [kursiv im Original] kann niemanden mehr beeindrucken, der sich an das Ende der Kunst [kursiv im Original] bereits gewöhnt hat“, so beginnt Hans Belting (1935-2023) seine gleichnamigen Publikation 1995[ix]. Freimütig räumt er ein, dass er selbst sich mit dem deklarierten Abschied der eigenen Disziplin weit vorgewagt habe[x], und um sein Anliegen klarer zu formulieren, dass er vom „Ende eines bestimmten Artefakts, genannt Kunstgeschichte, im Sinne von Spielregeln rede, aber davon ausgehe, daß das Spiel auf andere Weise fortgesetzt wird.“
Auch Belting konstatiert die Krise der Repräsentation, die einherging mit der Krise der Kunstgeschichte, der dadurch eines ihrer zentralen Elemente verlorenging: das Kunstwerk. Am Beispiel der Anthropometrien Yves Kleins verdeutlicht Belting, daß „das Original [kursiv im Original] seinen erprobten Sinn eingebüßt“ habe, denn die einst zwischen „dem Kommentar und dem Werk“ streng geteilten Aufgaben hätten sich aufgelöst, „seit sich die Kunst selber zum Text [kursiv im Original] erklärte“.[xi] Damit einher geht der Verlust des „verbindlichen Erzählschemas“, an seine Stelle tritt vielmehr der Kontext, denn „an die Nahtstelle von ‚Kunst und Leben‘ ist zu allen Seiten künstlerische Kreativität freigesetzt worden.“[xii] Die Kunst gewinnt an Bedeutung, überlegt Belting, für die Bild- wie Kulturgeschichte, die nicht länger eurozentrisch und vom westlichen Blick dirigiert ist.[xiii] „Das ‚Ende der Kunstgeschichte‘, als eine notwendige Fermate, und die Einsicht in den fiktionalen Charakter der geschriebenen Kunstgeschichte der Moderne befreien den Blick für eine größere Aufgabe: die Besichtigung der eigenen Kultur mit dem Blick eines Ethnologen.“[xiv]
Leicht fällt Belting der Abschied von der linearen Kunstgeschichte nicht, entdeckt er doch ein „Säbelrasseln, […] wenn wieder einmal neue Ismen proklamiert werden. Allein schon das Simultan-Theater, in dem man jedes Stück spielt und jeden Geschmack befriedigt“, führe zu einer Art Willkür, bei der Werkformen beliebig auftauchten oder verschwänden ohne den Ablauf zu stören.[xv] „Es ist wie im Spiegelkabinett“, konstatiert der Kunsthistoriker über seine Zunft, „in dem man keinen Ausweg findet. Die Informationen sind Thesen, und die Thesen werden wiederum nachträglich zu Informationen, die im Archiv landen, wenn sie gegen andere Thesen eingetauscht wurden.“[xvi]
Was bleibt zu tun, wie kann Kunstgeschichte fortgeschrieben werden? Wie kann das erweiterte Fach seine Zukunft gestalten? Einen Ausweg könnte die lexikalische Erfassung bieten, „denn sie entlastet den Autor von der Pflicht, eine Abfolge der Ereignisse nachzuerzählen“[xvii], so Belting. Auch Panoramen kämen in Frage, denn sie ermöglichten einen „Simultanblick“ von allem Möglichen, „was sich nicht nebeneinander oder gar nacheinander zur Geltung bringen muss“.[xviii]
[i] Christian Kravagna, „Bildlicht. Malerei zwischen Materialität und Immaterialität“, in: Kunstforum International, Bd. 114, Juli/August 1991, S. 378-380, hier S. 378.
[ii] Bildlicht. Malerei zwischen Materialität und Immaterialität, Museum des 20. Jahrhunderts, Wien, 3.5.-7.7.1991, kuratiert von Wolfgang Drechsler und Peter Weibel. Das Bild nach dem letzten Bild, Galerie Metropol, Wien, 04.-06.1991, kuratiert von Peter Weibel mit Kasper König.
[iii] Peter Weibel, „Das Bild nach dem letzten Bild“, in: ders. und Christian Meyer, Das Bild nach dem letzten Bild, Köln 1991, S. 183-215, hier S.198.
[iv] Weibel (wie Anm. 6), hier S. 189.
[v] Weibel (wie Anm. 6), hier S. 184.
[vi] Weibel (wie Anm. 6), hier S. 188.
[vii] Weibel (wie Anm. 6), hier S. 186, 207.
[viii] Weibel (wie Anm. 6), hier S. 208.
[ix] Hans Beling. Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, München 1995, S. 7.
[x] Hans Belting, Das Ende der Kunstgeschichte, Berlin 1983.
[xi] Belting (wie Anm. 13), S. 164, S 183.
[xii] Belting (wie Anm. 13), S. 165.
[xiii] Belting (wie Anm. 13), S. 171.
[xiv] Belting (wie Anm. 13), S. 178.
[xv] Belting (wie Anm. 13), S. 185.
[xvi] Belting (wie Anm. 13), S. 185.
[xvii] Belting (wie Anm. 13), S. 189.
[xviii] Belting (wie Anm. 13), S. 189.
Die vorliegende Publikation Opening the Archive: The ABCs of ZERO vereint all die Möglichkeiten von Kunstgeschichtsschreibung nach dem Ende der Kunstgeschichte. Sie berichtet in Form einer dem Alphabet geschuldeten Ordnung über die Nachkriegsavantgarde, die sich in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg bildete und unter dem Namen ZERO oder Zero zusammengefasst wurde. Dabei bildet das Archiv der gleichnamigen Stiftung in Düsseldorf den Ausgangspunkt und mithin kann es nicht ausbleiben: den Schwerpunkt. Aus den Dokumenten und Materialien, die Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker 2008 in die Stiftung einbrachten, generiert sich ein Wissen, das zwischenzeitlich durch Interviews (Oral History), durch hinzugekommene Archive wie das von William E. Simmat oder Film- und Fotodokumentationen wie die von Werner Raeune erweitert wurde.
Die ausgewählten Begriffe stehen paradigmatisch für die ZERO-Kunst und die ZERO-Bewegung und entstammen einem thematisch begrenzten, dennoch offenen und freien Reservoir, das sich einzig dadurch verringert, dass ein gewählter Begriff und somit ein bestimmter Buchstabe, die Anzahl der Möglichkeiten in einem anderen Feld begrenzt. So hätte man anstatt der Musik das Monochrom wählen können oder anstatt der Frauen (Women) das Weiß.
Die Form der Aufsätze variiert ebenso wie deren jeweiliger Schwerpunkt. Wichtig war es, die enge Geschichtsschreibung innerhalb einer Kunsthistorie aufzusprengen, denn seit ZERO gehören Performance oder Musik in den Kanon der von bildenden Künstlern verwendeten Medien oder durchliefen ähnliche konzeptionelle Entwicklungen, die einen Vergleich nahelegen.
Die Texte unterscheiden sich nicht nur dadurch, dass jeder Autor, jede Autorin ihren eigenen Zugang wählte, sondern auch durch die dem Lesenden dargebotene Funktionalität des ABCs of ZERO. Ein kürzerer Essay, der kurzweilig eine Anekdote erzählt, steht neben einer längeren theoretischen Auseinandersetzung, die eine höhere Konzentration beim Lesen verlangt. Ob man das Buch von vorne nach hinten lesen möchte, oder hier und da die Seiten zur Lektüre aufschlägt, bleibt jedem Nutzenden selbst überlassen.
Den historischen Ausgangspunkt und die Entwicklung der ZERO-Avantgarde schildert Jürgen Wilhelm in seiner „Einführung“. Da die Ausstellungsmöglichkeiten in den 1950er-Jahren für junge Künstler beschränkt waren, initiierten Heinz Mack und Otto Piene die sogenannten Abendausstellungen in ihrem eigenen Atelier und gründeten das, was heute unter der Bezeichnung „ZERO“ ein fester Bestandteil der Kunst geworden ist. Ann-Kathrin Illmann wirft einen Blick zurück auf den Ort an dem ZERO entstand: in das Hinterhaus-„Atelier“, Gladbacher Straße 69 in Düsseldorf.
Die historische Leistung von Mack und Piene zu dieser Zeit waren zweierlei. Zum einen gründeten sie die Atelierausstellungen, zum anderen gaben sie drei Magazine heraus, das erste zeitgleich zur 7. Abendausstellung. So sorgten sie dafür, dass ihre Aktivität dokumentiert und medial begleitet wurden. Bartomeu Mari beleuchtet die Bedeutung der „Bücher“ für die ZERO-Bewegung.
Eugen Gomringer (*1925), ein bedeutender Vertreter der „Concrete Poetry“ und eng mit Günther Uecker (*1930) befreundet, ist mit einem Wiederabdruck im ZERO-ABC vertreten, was nicht nur die Wichtigkeit dieser Kunstrichtung für ZERO unterstreicht, sondern auch deutlich macht, dass eine Arbeit im Archiv auch immer eine Arbeit am Archiv darstellt.
Astrit Schmidt-Burkhardt analysiert das „Diagramm“, eigentlich sind es mehrere, die Heinz Mack Anfang der 1970er-Jahre angefertigt hat. „Die fiktiven Genealogien, von denen die modernen Künstler träumten, sind verräterisch“, warnte Hans Belting, doch Schmidt-Burkhardt klärt die Grenze zwischen Zuschreibung und Setzung elegant auf.
Während der CDU-Kanzler Konrad Adenauer (1876-1967)[i] 1957 Plakate zur Bundestagswahl aufhängen ließ, auf denen in großen Lettern geschrieben stand „Keine Experimente“, unternahmen die Künstler*innen im ZERO-Kreis alles, um durch mehr Experimente die Kunst zu erneuern. Regina Wyrwoll und Andreas Joh. Wiesand diskutieren in ihrem Beitrag den Stellenwert des Experiments für die Kunst der Nachkriegsavantgarde.
Die Generation der zwischen 1925-1935 Geborenen war kritisch, weil viele im nationalsozialistischen oder im faschistischen Regime aufgewachsen waren und daher überrascht es wenig, dass sie alles hinterfragten, nicht nur politisch, ideologisch, sondern auch künstlerisch. Diese Kritik reichte über die Bildinhalte und Motive hinaus auf die Frage, mit welchen Werkzeugen, Materialien und Medien man arbeitete. Eine bemerkenswerte Umwertung gelang ihnen beim Einsatz von Feuer. Obgleich man ab 1939 mit Beginn des Krieges insbesondere in Deutschland ganze Städte im Feuer lodernd brennen sah, erschufen viele ZERO-Protogonisten nach 1955 aus dem Prometheus´schen Element eine neue Kunst. Weg und Werke der „Feuer“-Kunst werden von Sophia Sotke vorgestellt.
Nadine Oberste-Hetbleck zeichnet die Geschichte der Galerie Schoeller nach, einer Programm-„Galerie“, die sich auf ZERO und konkrete Kunst spezialisierte und in der das ein oder andere Werk ausgestellt gewesen sein mag, das sich als „Hommage“ an die Künstlerfreunde richtete.
Es war den Künstler*innen in den 1950er- und 1960er Jahren wichtig, „international“ zu arbeiten. Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande gründeten 1952 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die sogenannte Montanunion, und zeichneten damit quasi die geografischen Orte vor, die wesentlich für die Entwicklung der ZERO-Kunst wurden. Es entstand zwischen Amsterdam, Brüssel, Mailand, Paris und Düsseldorf ein Netzwerk von Künstlern, Kritikern, Denkern, die sich in Briefen verabredeten, Ausstellungen und Publikationen planten oder sich einfach Urlaubsgrüße sendeten, in einer Zeit, als die Telefone mit unterirdisch verlegten Kabeln miteinander verbunden waren und nicht jeder Haushalt einen Anschluss besaß. Rebecca Welkens skizziert dieses Netzwerk in ihrem Beitrag „Join“.
Bereits 1956 veröffentlichte der Bildhauer George Rickey (1907-2002) einen Aufsatz über „Kinetic Sculptures“ in Art and Artist[ii], den die Düsseldorfer ZERO-Künstler jedoch noch nicht gekannt haben dürften.[iii] Sie kamen über den in Paris lebenden Schweizer Jean Tinguely (1925-1991) mit den Motoren in der Kunst in Berührung. Anna-Lena Weise berichtet darüber, wie die „Kinetik“ ZERO beeinflusste.
Ob Feuer, Taschenlampe oder wattstarke Scheinwerfer, das „Licht“ spielte eine entscheidende Rolle für die ZERO-Kunst: metaphorisch, allegorisch, als immaterielles Material oder als Ausgangspunkt (Nullpunkt) für ein Zeichensystem und wie Marco Meneguzzo darlegt: als Erweiterung von Raum.
Von einem Nullpunkt aus entwickelte sich nach 1950 nicht nur die bildende Kunst und die Literatur, auch die Musik suchte nach dem Neuanfang. Rudolf Frisius betrachtet in seinem Aufsatz die Idee des Neustarts in der Musik. Romina Dümler untersucht aufgrund der Planungen für ein ZERO-Festival am niederländischen Hafen von Scheveningen den Begriff der „Natur“ in den unterschiedlichen künstlerischen Konzepten.
Die „Null“ stand für einen Neuanfang und für einen Beginn, sie diente jedoch gleichzeitig als Grafik und Metapher. Darüber hat sich Anna-Lena Weise Gedanken gemacht. Während Rebecca Welkens die vielen „Poster“ und Plakate im Archiv auswertete und deren Entstehung und Gestaltung nacherzählt.
Ein Hörstück aus originalen Zitaten der ZERO-Protagonisten hat Leonard Merkes zusammengestellt und damit aus den Worten im Archiv ein Stück Literatur geschaffen. Das „Rot“ steht stellvertretend für die wenigen Farben bzw. Nichtfarben, aus denen die ZERO-Künstler die für die Zeit typischen Monochrome geschaffen haben. Matthieu Poirier folgt der Entwicklung aus dem zweidimensionalen in das dreidimensionale Monochrom. So wie das monochrome Tafelbild fest mit dem Namen von Kasimir S. Malewitsch (1879-1935) verbunden ist, ebenso konstitutiv ist der russisch-polnische Konstruktivismus und Unismus für die Grundlagen der ZERO-Kunst. Iwona Bigos entdeckt in ihrem Aufsatz die zu Grunde liegende „Struktur“.
Das Ende der Kunstgeschichte erkennt Hans Belting wie oben dargestellt durch das Ende des Kunstwerks. Pars pro toto benennt er Yves Klein, der „den Schöpfungsakt in ein Theater“ verwandelt, „in dem dieser Akt selber zum Werk wird: zum Werk der ‚performance‘.“[iv] Über den performativen Charakter hinaus, den ZERO-typische Kunstwerke wie das Piene´sche Lichtballett, die Rotoren von Heinz Mack oder die Sandmühle von Günther Uecker annehmen, haben die Künstler auch bereits in den 1960er-Jahren eng mit dem Theater zusammengearbeitet und Bühnenbilder entworfen. Barbara Büscher erforscht die Beziehung der ZERO-Kunst zum „Theater“.
Von der „Utopie“ ist häufig zu lesen in den Abhandlungen über ZERO, doch waren die Träume von der Kunst in der Wüste oder am Himmel wirklich utopisch, frage ich mich, um mit den Worten Harald Jähners das Ergebnis zusammenzufassen: „Das Vergessen war die Utopie der Stunde.“[v]
Mit der Kinetik und der Bewegung hielt etwas Einzug in die Kunst, das man bisher nur aus der profanen Welt des Industriezeitalters kannte, nämlich den elektrischen Strom. Unter dem Stichwort „Volt“ erkundigen sich Romina Dümler und Rebecca Welkens wie Restauratorinnen heute die frühen mechanisch betriebenen Kunstwerke betreuen.
Den Frauen („Women“) widme ich meinen gleichnamigen Beitrag, der deutlich macht: Es gab sie – die ZERO-Künstlerinnen.
Das X erhält im Alphabet nicht nur eine Sonderstellung, weil es wenige Termini in seiner Menge vereint, sondern es bildet auch eine Brücke in die Mathematik, nicht nur als römische Darstellung für die arabische Zahl zehn, sondern auch als Symbol für die Multiplikation. Dieses Spiel mit den Bedeutungen veranlasste die Betitelung eines Dokumentarfilms über die ZERO-Bewegung mit „0 X 0 = Kunst“, den ich kurz in seiner Bedeutung skizziere. Die letzten Buchstaben des ABC gleichen den Berggipfeln, von hier aus sieht alles Vorangegangenen leicht aus. Obgleich keiner der Begriffe von A bis X einer einzelnen Künstlerpersönlichkeit gewidmet wurde, musste ich beim Y eine Ausnahme machen, denn kein Wort mit Y passt so gut zu ZERO wie „Yves“. Über Yves Klein (1928-1962) sind viele ausführliche Werk- und Künstlermonografien veröffentlicht worden, daher wird hier nur eine kleine Geschichte über den französischen Künstler erzählt, die sich aus den Briefen im Archiv rekonstruieren lässt.
Schließlich versucht das Z wie „ZERO“, die Frage zu beantworten, die unterschwellig die ganze Publikation durchzieht: Was ist ZERO?
Während eines Symposiums im September 2023 trafen sich die Autor*innen und ZERO-Interessierten, um anhand der Vorträge, die in dieses Buch als Beiträge einflossen, zu klären, was denn nun dieser dehnbare, uneindeutige, vielschichtige, polymorphe Name ZERO meint. Lesen Sie in meiner Zusammenfassung, ob wir die Frage beantworten konnten. Oder beginnen Sie mit der Lektüre des ZERO-ABCs bei Z wie ZERO oder erkunden Sie das Terrain von jeder beliebigen Kapitelüberschrift aus.
[i] Konrad Adenauer war von 1949-1963 erster Bundeskanzler der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland. Er gehörte der Christlich Demokratischen Union Deutschlands an, die er nach dem Krieg mitbegründet hatte und deren Vorsitzender er von 1950-1966 war.
[ii] Siehe https://www.georgerickey.org/resources/bibliography (9.3.2024)
[iii] Jedenfalls existieren keine Hinweise im Archiv darauf.
[iv] Belting (wie Anm. 13), S. 163.
[v] Harald Jähner, Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945-1955, Berlin 2019, S. 27.
Friedrich Kittler (1943-2011) verankerte die deutsche Mediengeschichte und -theorie 1985 in seiner Untersuchung der Aufschreibesysteme 1800.1900. Darin analysiert er die Bedingung von Medien bzw. deren Gebrauch in der Literatur und zeigt auf, wie der „Muttermund“ das „Lesenlernen um 1800“ veränderte, nämlich vom Auswendiglernen zum Verstehen.
schreibt Kittler. Mit diesen Worten schließen sich viele, hier geöffneten Kreise: der von der Kunst und ihrer permanenten Re-Aktivierung durch das Archiv; der von den Frauen und Männern, Erfindern und Forscherinnen; der nach der Legitimation des vorliegenden Buches, das nicht das einzige ABC[i] ist, aber das einzige über eine „Künstlergruppe“, die sich ZERO nannte.
[i] Mein Vorbild war das Abécédaire von Gilles Deleuze (Original 1988/89, erste Ausstrahlungen auf Arte ab 1995), hrsg. von Valeska Bertoncini und Martin Weinmann, Berlin 2009. Entlang des Alphabetes orientiert sich auch Roland Barthes mit seinen Fragmenten einer Sprache der Liebe, Frankfurt a.M. 1988, allerdings sind hier Mehrfachnennungen zu einzelnen Buchstaben erlaubt und Barthes schmuggelt sich um die schwierige Passage rund um die Buchstaben X und Y herum.
Mein Dank gilt allen, die zur Publikation beigetragen haben: den Förderern, den Schreibenden – deren Biografien im Anhang zu finden sind –, den Mitarbeitenden, den Grafikern, den Bildrechteinhaber*innen, dem Verlag und den Lesenden!
Endnotes
2 Einführung
ZERO zählt
Jürgen Wilhelm
Es fällt heute schwer, sich mehr als 75 Jahre nach dem Ende des von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieges die Zwänge vorzustellen, in denen sich das wirtschaftliche, gesellschaftliche, vor allem aber das kulturelle Leben Deutschlands vorwiegend abspielte. In der bildenden Kunst dominierten die grauen Farbtöne, das Informel, der Tachismus und bei vielen Künstlern eine gewisse Furcht vor der Figuration, die den Verdacht des Wiederauflebens eines faschistischen Realismus hätte implizieren können.[i] Die Fessel der Vergangenheit in den Kunstakademien, in denen man auf Klassisches zurückgriff, weil man die Avantgarde nicht kannte und auch personell nicht repräsentierte sowie der Mangel an Internationalität waren nach zwei verheerenden Weltkriegen in kurzer Zeit Kennzeichen einer pessimistischen, am Menschen verzweifelnden Malerei.
[i] Zu den Ausnahmen (u.a. Lehmbruck, HAP Grieshaber, Horst Antes) vgl. Hans Platschek, Neue Figurationen, München 1959.
Vor diesem Hintergrund eines Psychogramms des „homo miserabilis“[i] entsprangen Bilder und Skulpturen, von deren Haltung sich eine Avantgarde lösen wollte, deren biografische Rückbesinnung nicht von den Kriegserlebnissen – obwohl sie davon durchaus betroffen war – absorbiert, dominiert, manchmal blockiert, wurde. Ambitioniert wurde mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein der Aufbruch in ein neues Zeitalter gefordert und gewagt. Die künstlerischen wie auch geistigen Protagonisten dieses Aufbruchs waren Heinz Mack (*1931) und Otto Piene (1928-2014), zu denen später Günther Uecker (*1930) stieß. Nach ersten Treffen entschieden sie, ihre bis dahin lose Gruppierung „ZERO“ zu benennen.[ii] Sie öffneten sich schon in der ersten Zeit ihrer Aktivitäten mit den „Abendausstellungen“ auf kleinstem Raum Gleichgesinnten, was ihnen auch deshalb leicht viel, weil sie die Individualität des künstlerischen Schaffens nicht in Frage stellten und keinen eigenen „Stil“ vorgaben. Diese Ausstellungen, die nur einen Abend dauerten, waren aus der Not geboren, weil es keine Galerien gab, die sich Neuem zuwenden wollten. Es wehte in den 1950er Jahren immer noch der Mief eines konservativen Kunstverständnisses, dem sich nur wenige Mutige entgegenstellten. Der Expressionismus der Vorkriegszeit, der während der Nazizeit als „entartet“ galt, die Skulpturen Wilhelm Lehmbrucks (1881-1919), die Scheibenbilder Ernst Wilhelm Nays (1902-1968) und einige andere künstlerische Positionen waren Ausnahmen, die sich vorsichtig und erst allmählich durchzusetzen begannen. Selbst der Surrealismus erlebte in Deutschland eine größere Aufmerksamkeit erst Ende der 1950er Jahre, nachdem Max Ernst (1891-1976) und Hans Arp (1886-1966), gemeinsam mit Joan Mirò (1893-1983), 1954 auf der Biennale in Venedig Preise für Skulptur und Malerei erhielten. Die Avantgarde der internationalen Kunst lebte und arbeitete ohnehin nicht in Deutschland, sondern in New York und Paris.
Zudem war der Sammlerkreis für Kunstwerke insgesamt noch klein, mussten sich doch die meisten Deutschen auf den Wiederaufbau und ihre eigene Existenz konzentrieren. Ohne den neugierigen, dem Unorthodoxen aufgeschlossen gegenüberstehenden Düsseldorfer Galeristen Alfred Schmela (1918-1980), der eine Initialzündung mit Yves Klein (1928-1962) wagte, um sich danach intensiv ZERO zuzuwenden, wäre es nicht zu einer feuilletonistischen Aufmerksamkeit für die ZERO-Aktivitäten gekommen. Selbst diese war jedoch zumeist bemerkenswert konservativ.[iii]
Insoweit brach ZERO mit der Vergangenheit und vermittelte ein vollkommen neues Gefühl von Freigeistigkeit, Optimismus und der Hoffnung auf Mitstreiter im internationalen Kontext. Mit Mut, den Ballast abzuschütteln, zerschlugen sie die Betäubung, den Schutzumhang der Kunst, die den Blickwinkel aus der Geschichte der Nazizeit heraus allzu verkrampft umsetzte. Heinz Mack hat die Inspiration in den ersten Jahren von ZERO in seinem „poetisch formulierten Manifest“ wie folgt zusammengefasst:
[i] Wieland Schmied, „Notizen zu ‚ZERO‘“, in: Mack, Piene, Uecker, Ausst.-Kat., hrsg. von der Kestner Gesellschaft (Nr. 7), Hannover 1965, S.8.
[ii] Die Entstehung der Bezeichnung anlässlich der 7. Abendausstellung ist durch die Äußerungen von Otto Piene und Heinz Mack belegt, wenn es auch im Einzelnen Nuancen hinsichtlich der Erinnerung im Detail gibt. Siehe „Otto Piene, im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks“, in: Das Ohr am Tatort, hrsg. von Ulrike Bleicker-Honisch und Anna Lenz, Ostfildern 2009, S. 102.
[iii] Siehe z.B. die Artikel in Frankfurter Rundschau, 20.7.1959 und in Die Welt, 25.7.1961, abgedruckt in: ZERO, Ausst.-Kat., hrsg. von Dirk Pörschmann (ZERO foundation) und Margriet Schavemaker, (Stedelijk Museum), Köln 2015, S. 41 und S. 63.
„ZERO war in der Stunde des Anfangs eine Dimension des unendlichen Raums, in dem man ortlos schweben konnte, getragen allein von grenzenlosen Ideen. Eine wunderbare, befreiende Erfahrung, die unwiederholbar in Erinnerung bleibt“.[i]
[i] Heinz Mack, „Gedanken zu ZERO“, in: ZERO 4321, hrsg. von Dirk Pörschmann und Mattijs Visser (ZERO foundation), Düsseldorf 2012, S.18.
Kunsthistorisch vermittelte ZERO nicht nur ein neues Bild der Kräfte der Natur und der technischen Möglichkeiten, die damals noch eine nicht an ökologische Grenzen stoßende hoffnungsvolle Zukunft versprachen, auch die Kinetik spielte eine herausragende Rolle. Die 8. Abendausstellung 1958 mit ZERO 2 stand unter dem Motto „Vibration“, eine für eine Kunstausstellung in jener Zeit durchaus rätselhafte Überschrift. Die Begriffe „Lichtballett“ und „Struktur“, derer sich Piene und Mack dort bedienten, veränderten die Sichtweise auf die zeitgenössische Kunst nach der Dominanz des Expressionismus´, des Informels und des Surrealismus. Günther Uecker, nach dem Grund seiner Benutzung von Nägeln gefragt, antwortete: „[…] ich schrieb schließlich ein Transgressions-Manifest anlässlich einer Ausstellung […] und ich übernagelte am Fußboden […] Texte. Frei nach der Devise ‚Kunst überflutet die Welt‘.“[i]
Die Erde, Materie und der Krieg waren Ende der 1950er Jahre nicht mehr die Referenzpunkte, auf die sich Heinz Mack und Otto Piene mit ihrer Kunst berufen wollten. Mit der Abkehr vom Wandbild und damit der Notwendigkeit von Wänden in allen Räumen von Ausstellungshallen (Museen, Galerien usw.) sowie der radikalen Konzentration auf Licht, Feuer, Luft, die Unendlichkeit des Weltraumes; die kaum zu begreifende Leere einer Wüste; Günther Uecker, der den Nagel als neues „Sprachmittel“[ii] verstand und verwendete, öffnete sich ein neuer Horizont, der sich durch regen und wechselseitig befruchtenden Austausch rasch auch international etablieren sollte. Insbesondere die Begegnungen mit Arman (1928-2005), Lucio Fontana (1899-1968), Yves Klein, Piero Manzoni (1933-1963), Jean Tinguely (1925-1991), Jef Verheyen (1932-1984) und weiteren verhalfen den zunächst auf die deutsche (Düsseldorfer) Kunstszene konzentrierten Abendausstellungen rasch zu einer Ausweitung des theoretischen und künstlerischen Ansatzes von ZERO. Selten wurde ein Geschichtsbild so rasch korrigiert[iii], selten ging eine junge Generation von Paris bis Düsseldorf, von Mailand bis Amsterdam so vehement und fundiert gegen das künstlerische Establishment an. Nicht zuletzt aus der freundschaftlichen und offenen Kooperation zwischen vielen Protagonisten, die zu einer radikalen Kunstform gefunden hatten (z.B. lernte Mack Fontana über Manzoni bereits 1959 in Mailand kennen) oder durch den mit schier unendlicher Energie ausgestatteten und stets neue Wege suchenden und dabei ohne Kompromisse vorgehenden Yves Klein sowie den die Kinetik einbringenden Jean Tinguely öffneten sich nach und nach Museen und internationale Galerien von Paris bis nach New York, Amsterdam und immer wieder auch in Düsseldorf – allen voran Schmela.
[i] „Günther Uecker, im Gespräch mit Heinz-Herbert Jocks“, in: Das Ohr am Tatort, hrsg. von Bleicker-Honisch, Lenz (wie Anm. 3), S. 119.
[ii] Ebd., S. 118.
[iii] Manfred Schneckenburger, „ZERO oder der Aufbruch zur immateriellen Struktur“, in: Gruppe ZERO, Ausst.-Kat., hrsg. von Hubertus Schoeller, Düsseldorf 1988, S. 8.
Die ZERO-Rakete von Heinz Mack, die in ZERO 3 Eingang fand, griff diese Vorstellung von einem Aufbruch in eindrucksvoller Weise auf und die 2015, also 50 Jahre später, stattfindende fulminante Retrospektive im Guggenheim Museum New York wurde Countdown to tomorrow betitelt, was in luzider Intellektualität die Intentionen der ZERO-Gründer in ihrem Wesenskern erfasst.[i]
[i] Und auch eine gewisse (gesellschaftspolitische) Rehabilitierung deutscher Kunst nach 1945 in der Kunstmetropole New York signalisierte.
Doch, wenn auch im Ergebnis erfolgreich, so war der Weg zur internationalen Anerkennung beschwerlich. Immer laufen neue Entwicklungen erst einmal gegen gut bewachte Mauern. Und immer setzt Entwicklung, die als Fortschritt verstanden wird, Tabubrüche mit Etabliertem voraus. Die Durststrecke bis zur Anerkennung, die auch ein materiell ausgestattetes Leben als Künstler ermöglicht, ist meist lang. Nicht zuletzt verzweifeln viele Künstlerinnen und Künstler auf dem steinigen Weg der Selbstständigkeit und geben auf. Nicht so die drei bestimmenden Protagonisten von ZERO.
Dazu hat vieles beigetragen. Neben den überzeugenden Kunstwerken selbst mit all‘ ihrer neuen Materialienfülle (Feuer, Licht, Metall, Kinetik, Nägel) und den Staub der 1950er Jahre hinwegpustenden Aktionen transportierten sich die Ideen, die Mack, Piene und später Uecker mit ZERO verbanden, vor allem durch die von Anfang an theoretische Dimension von ZERO. Sie darf keinesfalls unterschätzt werden. Schon die von Heinz Mack und Otto Piene herausgegebenen ZERO-Bücher (ZERO 1, 2 und 3) stellen nach den Publikationen des Bauhauses die erste von Deutschland ausgehende publizistische Offensive einer europäischen künstlerischen Avantgarde dar, in denen ihr Wirken gesellschaftspolitisch und kunsthistorisch unverrückbar postuliert wird.
Mack, Piene und Uecker haben dieses – wenn auch im Einzelnen unterschiedlicher Gewichtung unterliegende – Grundverständnis selbst nach dem Ende von ZERO durch viele Gespräche, Interviews, Katalogbeiträge usw. dokumentiert, variiert und bekräftigt. Es dürfte bis heute von niemandem in der Nachkriegskunst umfänglichere und fundiertere Äußerungen über die Einordnung ihrer künstlerischen Arbeiten und das zugrundeliegende Selbstverständnis geben als von Mack, Piene und Uecker. Allein im Katalog der Ausstellung der Galerie Schoeller 1988, also mehr als 20 Jahre nach dem Ende von ZERO, tragen sie durch ein „Manifest“ (Uecker) und weitere erläuternde Ausführungen zum Verständnis der kunsthistorischen Einordnung erheblich bei.[i] Auch deshalb ist ZERO, weit über die deutsche Kunstgeschichte hinaus, von nachhaltiger Bedeutung. Der intellektuelle Fundus, der Grundlegendes zur inneren Haltung von ZERO beitrug, findet sein geistiges Pendant im 20. Jahrhundert vergleichbar dem Surrealismus, der – ausgehend zunächst von lyrischen und Prosatexten und der Interpretation vornehmlich von André Breton (1896-1966) – durch Max Ernst und andere in die Schöpfung bildender Kunst Eingang fand. Andere künstlerische Positionen haben dem wenig Gleichwertiges entgegenzusetzen, sondern erhielten ihre Interpretationen weitgehend durch kunsthistorische oder feuilletonistische Zuschreibungen.
Zudem sollte man den für einige Jahre blühenden Gemeinschaftsgeist der drei Protagonisten nicht kleinreden. Erst in der Gemeinschaft von ZERO lebten die Künstler und Künstlerinnen auf, fanden sich zum Teil erst dort selbst, wurden unverwechselbar.[ii] ZERO rief darüber hinaus aufgrund seiner theoretischen Fundierung ein Gemeinschaftsgefühl in vielen Ländern Europas hervor; die Ausstellungen und die sie häufig begleitenden Performances strahlten eine bis dahin nicht mit Deutschland in Verbindung gebrachte Begeisterung aus. Man kann sich dies im 21. Jahrhundert kaum noch vorstellen, aber die wiedergewonnene Internationalität, die Möglichkeit Reisen zu unternehmen und Kontakte zu Persönlichkeiten aus der Kunstszene aufzubauen, waren nicht selbstverständlich. Vor allem galt es, Vertrauen und Akzeptanz wiederzugewinnen, die durch die Gräuel der Nazizeit verlorengegangen waren und hierdurch künstlerische Kontakte und deren häufig gegenseitige intellektuelle Befruchtung weitestgehend zerstört hatten.
Die emotionale und teilweise spirituelle Seite ihrer Kunst wurde von Anfang an betont und vorangetrieben, wobei sie die beglückende Erfahrung machten, dass es durchaus vergleichbare Intentionen von Künstlerinnen und Künstlern in vielen europäischen Staaten gab, die den Kontakt und die aus Deutschland kommende Initiative begeistert aufnahmen und häufig kooperierten. Ohne unmittelbar politisch oder gesellschaftlich im Sinne eines öffentlichen Statements Stellung zu beziehen, sehen die ZERO-Künstler in ihren Aktionen eine Kraft, die die Gesellschaft beeinflussen kann. Die Bezüge zur Technik (Piene) und zu in der Industrie eingesetzten Materialien (Mack) und die radikale Sichtveränderung durch Vernagelung (Uecker) für ihre Kunst zeugen von der Suche nach einem zu Beginn noch nicht vollständig gesicherten Standpunkt und der Bestätigung des eigenen Ausgangspunktes, obwohl der selbstgestellte Anspruch durchaus war, Kunst durch ein Sichtbar- und Bewusstmachen grundsätzlicher Phänomene der Zeit als Mittel zur Welterkenntnis zu verstehen.[iii] Doch obwohl sich die Anfänge von ZERO zu einer Abkehr des konventionellen Kunstverständnisses und der gesellschaftlichen Rezeption begreifen lassen, so nüchtern und illusionslos wird die Rolle des Künstlers in ZERO 2 von Otto Piene beschrieben:
[i] Vgl. Jürgen Wilhelm (Hrsg.), Mack im Gespräch. Annette Bosetti in Gesprächen mit, München 2015; Jürgen Wilhelm (Hrsg.), Piene im Gespräch. Christiane Hoffmans in Gesprächen mit, München 2015.
[ii] Wieland Schmied, „Etwas über ZERO“, in: ZERO 4321, hrsg. von Pörschmann, Visser (wie Anm. 5), S. 16.
[iii] Siehe Anette Kuhn, ZERO, Eine Avantgarde der sechziger Jahre, Frankfurt am Main 1991, S. 179 f.
„Die landläufige Auffassung, der Künstler selbst habe nämlich seiner Zeit Ausdruck zu verleihen, ist insofern naiv, als sie ihn letztlich zum Berichterstatter degradiert. Der Künstler reagiert auf seine Zeit, aber seine Reaktion ist schöpferisch, indem sie sich formend auf die Zukunft mehr als auf die Gegenwart bezieht.“[i]
[i] Otto Piene, „Über die Reinheit des Lichts“, in: ZERO 4321 (wie Anm. 5), S. 27.
Ob deshalb die 1958 in ZERO 1 gestellte Frage: „Bewirkt die gegenwärtige Malerei eminente Formung der Welt?“ zu erkennbaren Verhaltensänderungen menschlichen Handelns geführt hat, muss heute wie damals trotz vieler Antwortversuche offenbleiben.[i]
[i]Vgl. die höchst individuellen Reaktionen, die in ZERO 4321 (wie Anm. 5), zusammengestellt wurden, S. 527-549.
Endnotes
A Atelier
Das Atelier in der Gladbacher Str. 69. Eine multiple Räumlichkeit
Ann-Kathrin Illmann
Die Worte von Heinz Mack (*1931) auf die Bitte, die Örtlichkeiten seiner gemeinsam mit Otto Piene (1928–2014) genutzten Werkstätte im Hinterhaus der Gladbacher Straße 69 in Düsseldorf zu schildern, entpoetisieren. Sie führen weg von der im kollektiven Bewusstsein verankerten Vorstellung des Ateliers als geheimnisvollem, mythischen Ort der künstlerischen Schöpfung, wie es zahlreiche bildliche Darstellungen à la Gustave Courbet (1819–1877) zu evozieren pflegen und entwerfen das Bild eines „anderen“ Raumes. Dabei bezieht sich diese Andersartigkeit in erster Linie gewiss auf den Kontrast zum skizzierten Topos. In der Aussage von Mack klingt zugleich ein differenziertes Verständnis von Raum an, das zwischen dem gebauten, physischen und als solchen sichtbaren Raum – demjenigen in der alten Fabrik – auf der einen Seite und dem in diesen tatsächlichen Raum hineinprojizierten Raum – dem Atelier – auf der anderen Seite unterscheidet.
Die Idee einer doppelten oder auch multiplen Räumlichkeit an ein und demselben geografischen Ort findet sich in einem posthum veröffentlichten Text von Michel Foucault (1926–1984) wieder.[i] In Andere Räume entwickelte er das Konzept der Heterotopie in Abgrenzung zur Utopie
[i] Michel Foucault, „Andere Räume“ (im Original „Des espaces autres“, 1967), übers. von Walter Seitter, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hrsg. von Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris, Leipzig 1990, S. 34–46.
[i] Michel Foucault, „Andere Räume“ (im Original „Des espaces autres“, 1967), übers. von Walter Seitter, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hrsg. von Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris, Leipzig 1990, S. 34–46.
„Es gibt gleichfalls – und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation – wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen [sic] oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz anders [Kursivierung im Original] sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien [Kursivierung im Original].“[i]
[i] Ebd., S. 39.
Diese „anderen Räume“ entstehen nach Foucault dann, wenn die Gesellschaft einem Ort eine oder mehrere spezifische Funktionen überschreibt, die sich nicht unmittelbar aus dessen Topografie erklären oder von dieser ableiten lassen. Erlischt diese bestimmte Aufgabe, löst sich die Heterotopie auf oder gleicht sich den neuen Umständen an. Ein zentrales Charakteristikum besteht folglich darin, dass sie von den Mitgliedern der Gesellschaft jederzeit beliebig umgewertet werden können. Heterotopien sind keine statischen Gebilde, sondern machen Orte zu wandelbaren Räumen, deren Verständnis und damit einhergehend auch deren jeweilige Bedeutung sich erst aus der Analyse all jener Kontexte ergibt, in denen diese Räume konstituiert werden.
Der Definition zufolge bezeichnet der ursprünglich aus dem Französischen stammende Terminus des Ateliers, der ab der Mitte des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebrauch Verwendung fand, die Werkstätte einer kunstschaffenden Person. Unabhängig davon, ob diese eigens zu diesem Zweck errichtet wurde oder einst eine andere Funktion besaß, ist die Deklaration eines Raumes als Atelier demnach allein an die Künstler*innen und deren Intention geknüpft. Der diskursive Ansatz von Foucault hilft dabei, diesen starren Fokus zu verlagern und betrachtet das Atelier von Mack und Piene in der Gladbacher Straße 69 in Düsseldorf, in der die Geschichte von ZERO ihren Anfang nehmen sollte, hier über die begriffliche Erklärung hinaus als potenziell multidimensionale Räumlichkeit, die gleichermaßen auch von der anderen Seite, von dem Kreis der Besucher*innen geformt werden konnte. Neben den verschiedenen nutzungsspezifischen Aspekten des Ortes zeigt sich im Hinblick auf Mack und Piene als aktive Gestalter des Raumes auf diese Weise zudem ein differenzierter Umgang mit dessen Inszenierung, bei der sie den Topos Atelier je nach Anlass bewusst zu negieren versucht oder aber als Instrument gezielt eingesetzt haben.[i]
[i] Die Idee, Foucaults Theorie der Heterotopie auf das Atelier anzuwenden, stammt von Eva Mongi-Vollmer, die sich auf diese Weise mit den verschiedenen Ausprägungen des Ateliers im deutschsprachigen Raum während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigte. Siehe Eva Mongi-Vollmer, „Das Atelier als ‚anderer Raum‘. Über die diskursive Identität und Komplexität des Ateliers im 19. Jahrhundert“, in: Kunstforum International, Nr. 208, 2011, S. 92–107.
Kerzen, ein umgedrehtes Glas, offene Farbdosen, verschiedene Flaschen, Kartons, eine kleine Tischuhr sowie eine Vielzahl weiterer Utensilien liegen wild durcheinander und sich stapelnd auf dem Deckel eines Flügels, der darunter als solcher kaum mehr zu erkennen ist. Überall finden sich Spuren künstlerischen Schaffens – der Korpus des hier scheinbar zur Werkbank umfunktionierten Musikinstruments, der Fußboden, die Staffelei im Hintergrund, das komplette Mobiliar ist von hellen Farbrelikten überzogen. Vereinzelt liegen Papierreste herum, daneben Kanister in den unterschiedlichsten Größen. Und inmitten des kreativen Chaos: sein Urheber mit einem seiner berühmten Raster in den Händen.
Die Fotografie von 1958 zeigt Piene in seinem Atelier und ist augenscheinlich arrangiert. In Anzug mit Fliege, vor allem aber mit dem schwarzen Rastersieb vor der Brust, jenem Werkzeug, mithilfe dessen er sich vom Habitus der gestischen Malerei zu distanzieren und eine Vereinheitlichung der Fläche anzustreben begann, inszenierte Paul Brandenburg den Mitbegründer von ZERO an der Klaviatur sprichwörtlich den Ton angebend als Repräsentant einer neuen Kunstauffassung. Die klare, gleichmäßige Struktur des Rasters steht im deutlichen Kontrast zur Unordnung der Materialsammlung vor ihm, über die er hinwegsieht, den Blick streng nach vorne wie in die Zukunft gerichtet. ZERO ist der (Neu-)Anfang, so scheint die programmatische Devise der Darstellung zu lauten, die das Studio eindeutig in den Dienst des self fashionings des Künstlers stellt. Der vermittelte räumliche Eindruck scheint indes authentisch zu sein. Der Vergleich mit einer Aufnahme stärkeren dokumentarischen Charakters von Charles Wilp (1932–2005), die Piene im Begriff eine Leinwand zu grundieren wiedergibt, zeichnet ein ähnliches Bild und kennzeichnet die Räumlichkeit als schlichte, auf die künstlerische Tätigkeit ausgerichtete Werkstätte – ein Atelier per definitionem. Hier materialisiert sich die flüchtige Idee, nimmt langsam Form an und manifestiert sich schließlich im vollendeten Kunstwerk. Es herrschen eigene Regeln, die keine strikte Ordnung verlangen, sondern allein dem kreativen Prozess obliegen.
Das Atelier befand sich im Obergeschoss eines durch den Zweiten Weltkrieg teilweise zerstörten Hinterhofgebäudes der Gladbacher Straße 69 im Düsseldorfer Stadtteil Bilk, in dessen unterer Etage eine Dreherei betrieben wurde.[i] Das obere Stockwerk, zu dem eine schmale und äußerst steile Treppe direkt hinter der Holztür mit dem weißen Briefkasten führte, bestand im Wesentlichen aus drei Räumen, zwei links und einer rechts der Treppe. Letzteren hatte Mack bereits als Werk- und zeitweise auch als Wohnstätte genutzt, als sich durch den Auszug einer zuvor dort untergebrachten Ballettschule um 1955/1956 die Gelegenheit bot, den größeren der beiden auf der gegenüberliegenden Seite gelegenen Räume zu übernehmen.[ii] So taten sich Mack, Piene und Hans Salentin (1925–2009), zwischen denen sich über die gemeinsame Zeit an der Düsseldorfer Kunstakademie hinaus eine Freundschaft entwickelt hatte, mit dem Künstler Hans-Joachim Bleckert (1927–1998) und dem Werbefotografen Wilp zusammen und mieteten ihn kollektiv an.[iii] Er maß im Grundriss etwa 56 Quadratmeter und war an der Süd- und Westwand jeweils mit mehreren Fenstern ausgestattet.[iv] Als Dach diente Wellblech, das die ursprüngliche, durch den Krieg ruinös gewordene Decke ersetzte.[v] Sichtbare Stahlgitterträger stützten die Konstruktion und bewirkten, gepaart mit dem unverkleideten Ziegelmauerwerk, dass dem Raum stets etwas Industrielles anhaftete, wie es Mack in der eingangs zitierten Aussage unterstrich, um die Einfachheit der räumlichen Verhältnisse zum Ausdruck zu bringen.[vi] Piene bezeichnete sie in diesem Kontext ähnlich karg auch als „Rohbau“[vii]. Ein Oberlicht gab es nicht, ebenso wenig wie separate Sanitäranlagen, die sich die Künstler stattdessen in Form eines Toilettenhäuschens im kleinen Garten neben der Dreherei mit dieser teilten. Fror dessen über den Hof verlaufende Wasserleitung im Winter zu, suchten sie das Lokal Hafenquelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf.[viii] 1957 ging der Raum allein an Piene über, der ihn bis 1966, bis zur Auflösung von ZERO, behielt.[ix] Das angrenzende kleinere Studio hatte zwischenzeitlich der Bildhauer Kurt Link (1926–1996) gemietet, ehe es später offiziell von Mack übernommen wurde und teilweise als zusätzliche Fläche für die sogenannten Abendausstellungen diente[x] – jenes legendäre Unternehmen Macks und Pienes, das letztlich zur Gründung von ZERO führen sollte und das Atelier der Idee und Funktion nach über die bekannte, begriffliche Bedeutung als Arbeitsraum der Künstler hinaus öffnete.
[i] Vgl. Otto Piene, „Wo sich nichts spiegelte als der Himmel“, in: Meister (wie Anm. 1), S. 5–46, hier S. 15.
[ii] Vgl. Thekla Zell, EXPOSITION ZERO. Vom Atelier in die Avantgardegalerie. Zur Konstituierung und Etablierung der Zero-Bewegung in Deutschland am Beispiel der Abendausstellungen, der Galerie Schmela, des studio f, der Galerie nota und der d(ato) Galerie, Diss. Kiel, Wien 2019, S. 81.
[iii] Die Angaben darüber, wer wann welchen Raum anmietete, sind nicht immer deckungsgleich. Piene, in: Meister (wie Anm. 1), S. 15, erwähnte neben Bleckert auch Kurt Link im Zusammenhang mit der Miete für den großen Raum. Zell (wie Anm. 6), S. 81, die sich in ihren Angaben auf Pienes Aussagen stützt, lässt Bleckert unerwähnt. Mack gab allgemein an, dass das „größere Zimmer […] fünf Leute gemietet“ hatten „und das kleinere […] später Kurt Link und dann ich [Mack]“. Mack, in: Meister (wie Anm. 1), S. 55.
[iv] Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 83.
[v] Vgl. Piene, in: Meister (wie Anm. 1), S. 15.
[vi] Mack, in: Meister (wie Anm. 1), S. 57, verglich sein kleines Apartment sogar „fast“ mit einer „Strafanstalt“, betonte am Ende seiner Antwort aber ausdrücklich, dass sie „das Elend nicht so empfunden“ haben.
[vii] Piene, in: Meister (wie Anm. 1), S. 17.
[viii] Vgl. ebd.
[ix] Vgl. Otto Piene, „Das Gold namens Licht“, in: Das Ohr am Tatort. Heinz-Norbert Jocks im Gespräch mit Gotthard Graubner, Heinz Mack, Roman Opalka, Otto Piene, Günther Uecker, hrsg. von Anna Lenz, Ulrike Bleicker-Honisch, Ostfildern 2009, S. 91–115, hier S. 101.
[x] Vgl. ebd. Siehe auch Mack, in: Meister (wie Anm. 1), S. 55.
Derselbe Ort, nahezu aus demselben Blickwinkel aufgenommen, und doch ein gänzlich anderer Raum. Nichts erinnert mehr an die geheimnisvolle Atmosphäre, welche die Fotografie von Brandenburg ausstrahlt, dem kreativen Prozess des Künstlers auf der Spur. Zum Zeitpunkt dieser Aufnahme hat die künstlerische Produktion bereits zu einem Abschluss gefunden, wie die hängenden Gemälde unterschiedlichen Formats und Inhalts deutlich machen. Die Wände scheinen weißer. Es wurde aufgeräumt, nichts liegt mehr herum. Der Requisitenturm ist fein säuberlich aufgereihten Gläsern gewichen. Sie sind unbenutzt, die Bierflaschen im Kasten unter dem Flügel voll – offensichtlich hat die Vernissage noch nicht begonnen.
Das Bild von Salentin dokumentiert den 26. September 1957, als Mack und Piene ihre 4. Abendausstellung veranstalteten. Aus der allgemeinen Not heraus entstanden, dass im konservativ geprägten Düsseldorf der 1950er Jahre für junge, progressive Kunstschaffende kaum eine Plattform existierte, um ihre Arbeiten der Öffentlichkeit vorzustellen, hatten die beiden etwas mehr als ein halbes Jahr zuvor beschlossen, selbst aktiv zu werden und ihre berühmten Abendausstellungen ins Leben gerufen.[i] In regelmäßigen Abständen von ein bis drei Monaten öffneten sie von April 1957 bis Oktober 1958 für die Dauer von jeweils einem Abend die Tür zu ihrem Atelier in der Gladbacher Straße, um dem interessierten Publikum die neuesten Entwicklungen in der zeitgenössischen Malerei zu demonstrieren.[ii]
Die Idee, die eigene Werkstätte zum Ausstellungsraum umzufunktionieren, war nicht neu. Asmus Carstens (1754–1798) oder Jacques-Louis David (1748–1825) etwa nutzten ihre römischen Studios schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts, um ihre Werke in eigens für die Allgemeinheit arrangierten Schauen zu präsentieren.[iii] Dass Künstler*innen neben ihren eigenen Arbeiten auch, respektive sogar primär jene ihrer Kolleg*innen ausstellten, hatte es zuvor hingegen noch nicht gegeben und markiert einen entscheidenden Unterschied. Abseits von merkantilen Gründen wie der Werbung um potenzielles Käuferpublikum[iv] und fernab des Ausdrucks von Unabhängigkeit gegenüber etablierten Instanzen wie dem Pariser Salon im Falle von Courbet oder Édouard Manet (1832–1882)[v] verfolgten Mack und Piene mit der Öffnung des Ateliers vorrangig die Absicht zu zeigen und dem künstlerischen Diskurs im wahrsten Wortsinn einen Raum zu geben. Mack erklärte Austausch zum existenziellen Bedürfnis:
[i] Vgl. Dirk Pörschmann, „‚M.P.Ue.‘ Dynamo for ZERO. The Artist-Curators Heinz Mack, Otto Piene and Günther Uecker“, in: The Artist as Curator. Collaborative Initiatives in the International ZERO Movement 1957–1967, hrsg. von Tiziana Caianiello, Mattijs Visser, Gent 2015, S. 17–57, hier S. 20.
[ii] Die Begrenzung der Laufzeit beruhte auf dem pragmatischen Grund, dass Mack und Piene tagsüber als Lehrer tätig waren und nur des Abends Zeit für eigene Projekte aufbringen konnten. Vgl. Heinz Mack, „Am Anfang war Bach“, in: Lenz, Bleicker-Honisch (wie Anm. 13), S. 35–69, hier S. 52. Schnell kristallisierte sich jedoch die gewisse Exklusivität heraus, die mit der limitierten Dauer einherging, weshalb die Veranstaltungen strategisch weiterhin als „Ein-Abendausstellungen“ beworben wurden, obgleich sie schon bald auch über den Vernissage-Abend hinaus besucht werden konnten. Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 80; siehe ebenso Otto Piene an Oskar Holweck (Durchschrift), Düsseldorf, 21.07.1958, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.884.
[iii] Vgl. Michael Diers, „atelier/réalité. Von der Atelierausstellung zum ausgestellten Atelier“, in: Topos Atelier. Werkstatt und Wissensform (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte, Bd. 7), hrsg. von dems., Monika Wagner, Berlin 2010, S. 1–20, hier S. 3.
[iv] Vgl. Oskar Bätschmann, Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997, S. 138. Der Autor begründet die Entwicklung zum geöffneten Atelier im ausgehenden 19. Jahrhundert mit der zunehmend notwendigen „Werbung um Publikum“, von welcher der „Ausstellungskünstler“ abhängig wurde.
[v] Vgl. Diers (wie Anm. 17), S. 3.
Piene formulierte denselben Ansatz in einem Brief an Adolf Zillmann aus der Perspektive auf die Rezipierenden: „Die Dreiheit Urheber-Bild-Betrachter ist unvollkommen, wo der Urheber den Betrachter unterschätzt. Dass das Publikum grausam irren kann, wissen wir alle; aber selbst das gehört zu seiner Rolle. Seine Sicht wird letztlich den sensiblen Künstler vorantreiben. Auch ein ordinäres Publikum hat noch etwas zu bieten. […]“[i] Und auch Klaus Jürgen-Fischer (1930–2017), der die Eröffnungsrede zur 7. Abendausstellung hielt, betonte darin die zentrale Rolle des Publikums, ohne dessen Resonanz „die Kunst leicht in Rezepten, im Risikolosen, in der Prominenz oder sogar in der Meisterschaft verdorrt.“[ii] Im geöffneten Atelier konnten alle drei Entitäten – Kunstschaffende, Werk und Besucher*innen – miteinander in den direkten Kontakt treten und den künstlerischen Dialog in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Gegenüber führen. Eine weitere Aufnahme Salentins von der 4. Abendausstellung zeigt Mack und Piene als die beiden Organisatoren des Abends in Anzug gekleidet in einem halben Stuhlkreis vor den Exponaten sitzen, die uns regelrecht auffordern, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und den auf Kommunikation ausgerichteten Ansatz der Veranstaltung in persona veranschaulichen.
Dass dies nicht nur das ausdrückliche Anliegen der beiden Künstler darstellte, sondern ebenso eine Leerstelle auf Seiten des Publikums zu füllen schien, zeigt sich an dem beträchtlichen Zulauf, den die Abendausstellungen schon während der ersten Male erfuhren. Das Konzept traf offenbar den Nerv der Zeit, wie auch in der Presse mehrfach betont wurde, deren Berichterstattung nach der zweiten Ausstellung einsetzte.[iii] Karl Ruhrberg (1924–2006) unterstrich in den Düsseldorfer Nachrichten vom 17. Mai 1957 die „lebendige Diskussion über Wesen und Wollen der jungen Kunst“[iv] und hob die Veranstaltung somit gegenüber anderen Ausstellungen hervor, welche diesen Aspekt häufig vernachlässigten. Dabei bezog er sich ausdrücklich auch auf die „ganze Reihe interessierter Laien“[v], die sich neben den Kenner*innen unter den Anwesenden befanden und den Diskurs mitgestalteten. In einem Artikel in der Rheinischen Post wurde das „angeregte […] und anhaltende […] Debattieren“ explizit mit der „Atelierstimmung“[vi] in Verbindung gebracht beziehungsweise sogar in einen direkten, kausalen Zusammenhang gestellt und hierbei mit der Institution der Galerie kontrastiert. Im Rahmen der Abendausstellungen nahm das Atelier an der Schnittstelle zwischen Künstler*in, Werk und Öffentlichkeit eine Zwischenposition an der Seite von Galerie und Museum ein und avancierte zu einer Art Forum, das den Austausch förderte, mitunter katalysierte.[vii] Binnen weniger Monate hatten Mack und Piene aus dem Mangel an Ausstellungsplattformen für junge Kunst einen allgemeinen Ort des gesellschaftlichen Zusammentreffens geschaffen, wie ein Schnappschuss der ersten Veranstaltung zeigt, in der die Exponate vor lauter Besucher*innen kaum mehr zu erkennen sind.[viii] Der ausgeprägte soziale Aspekt, den im Unterschied zu den genannten Vorläufern im 19. Jahrhundert schon die Absicht des Unternehmens in sich trug, zog sich wie ein roter Faden bis hin zur Realisierung des Konzeptes. Mack traf rückblickend treffend die folgende Bilanz:
[i] Otto Piene an Adolf Zillmann, Düsseldorf, 21.11.1958, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.958.
[ii] Klaus Jürgen Fischer, Eröffnungsrede zur 7. Abendausstellung, 24.04.1958, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.VI.27.
[iii] Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 87.
[iv] Karl Ruhrberg, „Junge Bilder im alten Bilk. Ein Maler verleiht sein Atelier an die Kollegen“, in: Düsseldorfer Nachrichten, 17.05.1957.
[v] Ebd.
[vi] K-k, „Neuer Treffpunkt ‚Abendausstellungen‘. Max Bense als Gast“, in: Rheinische Post, Nr. 293, 18. Dezember 1957, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.II.32.
[vii] Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 60, und vgl. Diers (wie Anm. 17), S. 4. Beide beziehen sich hier auf die Einordnung des Ateliers im 19. Jahrhundert, die sich jedoch zweifellos auf die Situation von Macks und Pienes Studio übertragen lässt.
[viii] Fotografie abgedruckt bei Annette Kuhn, ZERO. Eine Avantgarde der sechziger Jahre, Frankfurt a. M., Berlin 1991, S. 14, Abb. 4.
„Das Ganze war auch ein gesellschaftliches Ereignis, ein Event. So würde man heute sagen. Auf einmal war unser Atelier mehr als nur ein Raum für Bilder. Es war ein gesellschaftlicher Treffpunkt, wo Leute zusammenkamen, die sich nie vorher begegnet waren, und dadurch einzigartig.“[i]
[i] Mack, in: Lenz, Bleicker-Honisch (wie Anm. 13), S. 52. Piene, in: Meister (wie Anm. 1), S. 18: „Die Gladbacher Straße wurde ein Treffpunkt […].“
Für die Künstler selbst tat sich damit zudem eine ideale Form des ungezwungenen Netzwerkens auf, das sie sowohl mit künstlerisch Gleichgesinnten wie Yves Klein als auch mit Galerist*innen, Kritiker*innen, Medienvertreter*innen, potenziellen Sammler*innen und Personen aus der Museumslandschaft in Kontakt brachte.[i]
[i] Schon während der ersten Abendausstellungen lernten Mack und Piene beispielsweise die späteren Sammler*innen Ilse Dwinger oder das Ehepaar Troost kennen. Vgl. Mack, in: Lenz, Bleicker-Honisch (wie Anm. 13), S. 53. Vgl. ebenso Piene, in: Meister (wie Anm. 1), S. 18, der weitere bekannte Persönlichkeiten als Besucher*innen der Abendausstellungen aufführte, darunter Rolf Wiesselmann vom WDR oder Clement Greenberg.
Neben dem impliziten Zwang, am Abend der Vernissage zu erscheinen, waren es ebenso die baulichen Umstände, die einen großen Reiz auf das Publikum ausübten. Immer wieder wurde in den Zeitungsberichten ein besonderes Augenmerk auf die spezifische Architektur des Ortes und deren teilweise baufälligen Zustand gelegt, obgleich dies von Mack und Piene so nicht intendiert war, ganz im Gegenteil. Wie Letzterer betonte, bemühten sie sich vielmehr, ihr Studio „möglichst sauber zu machen, so daß (sic) keine Ruinenromantik oder Ruinensentimentalität daraus herausgelesen werden konnte.“[i] Was in den Augen der Besucher*innen vor allem die typische Vorstellung des Ateliers als „phantasmatisch“ aufgeladener Ort des kreativen Aktes hervorrief, dessen Besuch verhieß, diesem Rätsel näher zu kommen, setzte bei den Künstlern in erster Linie Assoziationen an den Krieg und in künstlerischer Hinsicht ferner an den diesen bildlich verarbeitenden Tachismus frei, also jener malerischen Artikulation, von der sie sich in ihren Arbeiten nach und nach zu lösen versuchten.[ii] Um die Räumlichkeiten im übertragenen Sinne vom Schmutz und von der Last der Vergangenheit zu befreien und eine gedanklich sowie optisch möglichst neutrale Präsentationsfläche zu generieren, räumten sie das Atelier im Vorfeld der Veranstaltungen komplett aus und kalkten die Wände weiß, „was sowieso nötig war nach dieser tachistischen Ära“[iii], wie Mack postulierte und damit die ungewollte Verbindung herausstellte. Die an das Prinzip des White Cubes erinnernde Raumgestaltung vermochte also nicht nur die äußere Wandlung vom Atelier als Werkstätte hin zum Atelier als Ausstellungsraum zu unterstreichen, sondern verfolgte gleichfalls ideologische Zwecke – ein Plan, der trotz der geschilderten Differenzen in der Rezeption des Ortes aufgehen sollte. In einem Artikel in den Düsseldorfer Nachrichten vom 7. Oktober 1958 beschrieb ein Kritiker den Gang ins Atelier, als vollzöge sich hierbei der Weg von der kriegsverarbeitenden, dunklen tachistischen Malerei, wie ZERO sie dann zu interpretieren pflegte, zur eigenen, von Struktur und Licht geleiteten Bildsprache[iv]:
[i] Otto Piene, „o. T.“, in: Selbstdarstellung. Künstler über sich, hrsg. von Wulf Herzogenrath, Düsseldorf 1973, S. 130–152, hier S. 132.
[ii] Dazu Heinz Mack, „Gespräch mit Heinz Mack“, in: Dieter Hülsmanns und Friedolin Reske. Ateliergespräche, Düsseldorf 1966, hrsg. von Susanne Rennert, Köln 2018, S. 109–111, hier S. 109: „Wie die meisten meiner Freunde habe auch ich mich kurzfristig vom Tachismus verführen lassen. Ohne innere Überzeugung habe ich diese damals neueste aller Kunsterscheinungen mitgemacht, was zu inneren Zerreißspannungen führte. Die mehr vom Zufall abhängigen Ergebnisse befriedigten mich nicht, ich litt darunter und war verzweifelt […].“
[iii] Der vollständige Satz lautet: „Und da man […] Mitte der fünfziger Jahre, so gut wie keine Chance hatte, auszustellen, [..] ergab sich aus dieser Situation der Entschluß (sic), unsere Ateliers einmal aufzuräumen, was sowie nötig war nach dieser tachistischen Ära, die Wände weiß zu kalken und unsere neuen Arbeiten aufzuhängen.“ Heinz Mack, „o. T.“, in: Herzogenrath (wie Anm. 31), S. 104–115, hier S. 106.
[iv] Vgl. Kuhn (wie Anm. 28), S. 14.
„Gladbacher Straße: Häuserzeilen wie sonst – plötzlich Trümmermauern im Dunkel, gespiegelt in schwarzen Pfützen […]. Das düstre Gähnen eines Torwegs nimmt uns auf und führt uns in einen feuchten, dem Auge kaum abtastbaren Hof. Drüben die hellen, gegitterten Rechtecke dreier Fenster in harten Mauerkonturen. […] [Ü]ber Holzstufen steigt man eine endlose Stiege hinauf […], zwei Schritte: dann steht man im blendenden Licht kühlsachlicher Birnen, die die letzten Ritzen eines weißen weiten Mauerquadrats ausleuchten: Es ist kein Tempel, kein elfenbeinerner Turm, aber eine Enklave avantgardistischer Kunst, in Trümmern erbautes ‚Laboratorium‘ […].“[i]
[i] M. W., „Malerei im Trümmergrundstück“, in: Düsseldorfer Nachrichten, 7.10.1958, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.II.21.
Mehr zu den Abendausstellungen im Atelier
„Es ging einfach darum, zu zeigen, was wir 20- bis 25-Jährigen arbeiteten“
Im Zuge der Abendausstellungen potenzierte sich das Atelier in der Gladbacher Straße zur multiplen Räumlichkeit, deren Dimensionen über die begriffliche Definition hinausgingen. Im Ergebnis der Veranstaltungsreihe sollte sich im gewissen Sinne indes wieder ein Bogen zur ursprünglichen, etymologischen Bedeutung des Studios als Ort der künstlerischen Entstehung schlagen. Die ersten Abendausstellungen waren ohne inhaltliche Ausrichtung als allgemeine Demonstrationen der aktuellen künstlerischen Positionen konzipiert. „Es ging einfach darum, zu zeigen, was wir 20- bis 25-Jährigen arbeiteten“[i], fasste Piene die Idee rückblickend zusammen. Als Voraussetzung zur Kollaboration galt nur, dass sie „von keiner Galerie vertreten waren. Dass sie, gemessen an dem, was es damals gab, experimentierten und neue Dinge suchten“[ii]. Die stets nach demselben, schlichten Layout gestalteten Einladungskarten nennen die Namen der ausstellenden Künstler*innen. Bis auf Johannes Geccelli (1925–2011), dem später der fünfte Abend als monografische Schau gewidmet wurde, handelte es sich tatsächlich ausschließlich um abstrakt arbeitende Kunstschaffende.[iii] Diese gehörten primär der Gruppe 53 an und orientierten sich in ihren Werken am gestischen Stil des aus Frankreich stammenden Informel, wie es zu diesem Zeitpunkt auch noch Mack und Piene taten.[iv] Eine erste Wende erfolgte mit der 4. Abendausstellung im September 1957, in der Piene zum ersten Mal seine in der Sommerpause neu komponierten Rasterbilder vorstellte, mit denen er sich allmählich begann, von der vorherrschenden Bildsprache abzuwenden und einen eigenen Duktus zu entwickeln.[v] Gleiches lässt sich in Bezug auf die Konzeptionierung der Exposition beobachten, die in der Künstler*innenauswahl eine Abgrenzung von der Gruppe 53 dokumentiert.[vi] Der endgültige Paradigmenwechsel fand mit der 7. Abendausstellung im April 1958 statt, die mit dem Titel Das rote Bild erstmalig einem konkreten Thema unterstellt war. In der „Einladung zur Beteiligung“ forderten Mack und Piene die Zusendung eines Bildes „mittlerer Größe“, „dessen dominierende Farbe Rot ist“[vii] – so der Wortlaut des Rundschreibens, das sie gezielt an jene ihnen bekannte Kolleg*innen versandt hatten, in deren Werken sie eine Verwandtschaft zu ihren eigenen Arbeiten sahen, darunter zum ersten Mal auch Günther Uecker.[viii] Das zunächst als reines Experiment begonnene Projekt nahm somit zunehmend eindeutig programmatische Züge an, die sich in den kunsttheoretischen Beiträgen der ersten Ausgabe ihrer parallel zur Ausstellung im Eigenverlag publizierten und namens- sowie identitätsstiftenden Zeitschrift ZERO manifestieren sollten.[ix] Unter dem Motto Vibration folgte im Oktober 1958 die 8. Abendausstellung, die das Profil mit dem sich nun deutlicher herauskristallisierenden Ziel einer gemeinsamen künstlerischen Tendenz weiter schärfte und von der Herausgabe von ZERO 2 begleitet wurde.[x] ZERO war offiziell geboren. Dirk Pörschmann bezeichnet die Serie der Abendausstellungen retrospektiv treffend als „mythical, legendary humus of ZERO’s history“[xi]. Die Keimzelle bildete dabei das Atelier, die Werkstätte Macks und Pienes, die entschieden zum frühen Erfolg der Veranstaltungsreihe und damit zur Formung und Etablierung von ZERO beigetragen hat, und zwar sowohl aufgrund ihrer besonderen Gegebenheiten und Ausrichtung als physischer Raum wie auch als in die wahrhaftigen Räumlichkeiten hineingezeichnete „andere“ Räume. Dass das Atelier hier zu Beginn des vorliegenden ZERO-ABCs steht, resultiert zunächst aus dem Anfangsbuchstaben des Wortes, macht darüber hinaus aber auch inhaltlich Sinn, denn: Am Anfang war das Atelier (in der Gladbacher Straße 69).
[i] Piene, in: Lenz, Bleicker-Honisch (wie Anm. 13), S. 100.
[ii] Ebd., S. 101.
[iii] Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 85.
[iv] Vgl. ebd.
[v] Vgl. ebd., S. 91.
[vi] Vgl. ebd.
[vii] Otto Piene, Einladung zur 7. Abendausstellung (Konzept), 5.03.1958, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.963.
[viii] Vgl. Pörschmann (wie Anm. 15), S. 29.
[ix] Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 85.
[x] Vgl. ebd., S. 117. ZERO 3 wurde 1961 bei der Veranstaltung ZERO. Edition, Exposition, Demonstration bei der Galerie Schmela präsentiert. Die dritte und letzte Nummer der Zeitschrift beinhaltet Beiträge von über 30 Künstlern aus diversen Ländern und gibt eine Überschau der sich zu einer international ausstrahlenden Kunstbewegung entwickelnden ZERO-Haltung.
[xi] Pörschmann (wie Anm. 15), S. 20.
Sobald Galerien die Arbeiten von Mack und Piene in ihr Portfolio aufnahmen, stellten die beiden Künstler das in Eigenregie organisierte Unternehmen Abendausstellungen ein.[i] Die Heterotopie Ausstellungsplattform für progressive Kunst im Studio der Gladbacher Straße hatte ihre Aufgabe erfüllt, wurde daher zunehmend überflüssig und verschwand wieder. Zwei Jahre nach der achten und eigentlich letzten Veranstaltung richtete Piene noch eine als „9. Abendausstellung“ überschriebene Exposition aus, die trotz des fortlaufenden Titels jedoch als komplett eigenständiges Format einzustufen ist, wich diese konzeptionell doch grundlegend vom ursprünglichen ab. Sie fand in Kooperation mit der Galerie Schmela im Rahmen Pienes zweiter dortiger Einzelausstellung unter der Überschrift Piene. Ein Fest für das Licht statt, die am 7. Oktober 1960 in den Räumlichkeiten der Hunsrückenstraße in der Düsseldorfer Altstadt eröffnet wurde. Parallel zur Laufzeit in der Galerie inszenierte Piene in seinem Atelier an drei Abenden verschiedene Versionen seines seit etwa einem Jahr entwickelten Lichtballetts.[ii] Das Ausstellungsplakat führt beide Veranstaltungsorte auf und macht auf diese Weise deren symbiotischen Charakter deutlich, der sich ebenso im Aufbau des Posters niederschlägt. Auf derselben Zeilenhöhe angegeben – hier auf einer der Entwurfszeichnungen Pienes mit der unterstrichenen Anweisung „achsial!“ als zentrales sowie bedeutungstragendes Gestaltungsmittel markiert –, erscheinen sie sozusagen als gleichberechtigte Spielorte auf Augenhöhe, wobei die jeweils zur Schau gestellte Kunst die Bedeutung der entsprechenden Orte bestimmte respektive diese im Falle des Ateliers sogar entscheidend veränderte. Während Alfred Schmela neue Rauchbilder und Lichtgrafiken von Piene zeigte, also greifbare und beständige Arbeiten, die sich zur Vermarktung eigneten und die Funktion der Galerie bestätigten, bot der Künstler mit den verschiedenen Choreografien seines Lichtballetts selbst ein rein ephemeres Werk dar, das sich weder für eine dauerhafte Präsentation einfangen ließ noch für den Verkauf infrage kam.[iii] Es war – vor allem bei der ersten Vorführung Lichtballett„mit Folien nach Jazz“[iv], bei der mehrere Personen das Licht im Raum zum Tanzen brachten und keine Maschinen wie beim dritten, Vollelektronischen Lichtballett – just für den Moment geschaffen und nur in diesem existent und verwandelte das Atelier augenblicklich in einen „experimentelle[n] […] Aktionsraum“[v]. Hatte es bei den acht vorausgehenden Abendausstellungen in seiner grundlegenden Funktion zuvor als Fläche gedient, die mit Exponaten bespielt wurde, nobilitierte es nun zu einer Art Bühne und wurde damit selbst Teil des vorgestellten Kunststückes.[vi]
[i] Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 63.
[ii] Vgl. ebd., S. 125.
[iii] Vgl. ebd., S. 127.
[iv] Otto Piene, Typoskript, Düsseldorf, 3.01.1965, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.IV.58.
[v] Zell (wie Anm. 6), S. 127.
[vi] Dies gilt allerdings ausschließlich für den Moment der Aufführung. Zudem bleibt zu berücksichtigen, dass Piene seine Lichtballette in der Regel raumunabhängig erdachte und konzipierte. Sie konnten vielmehr überall projiziert werden – der Ort an sich spielte daher stets eine untergeordnete Rolle, obgleich er freilich ein werkimmanentes Kriterium darstellt, ohne welches die Installation nicht funktionieren kann.
1966 organisierte Piene in Zusammenarbeit mit Schmela noch ein Zweites Fest für das Licht. Vom 11. November bis zum 9. Dezember realisierte der Künstler mehrere Aktionen, die sich, analog zur gleichlautenden, ersten Veranstaltung sechs Jahre zuvor, auf mehrere Spielstätten aufteilten. Zu den beiden bereits bekannten Standorten kamen als dritte Location Pienes neue Atelierräume in der Hüttenstraße 104 hinzu – der heutige Sitz der ZERO foundation –, wo er an zwei Abenden Blackout 1 und Blackout 2 vorführte, zwei interaktiv angelegte Happenings, welche die Besucher*innen als Teilnehmende in die aus Diaprojektionen und Multimedia-Elementen bestehende Aktion miteinbanden.[1] In seinem alten Studio in der Gladbacher Straße führte Piene am 2. Dezember 1966 die Demonstration Die rotglühende Venus durch, im Zuge derer die Örtlichkeit ein letztes Mal in eine Performance eingespannt und zum Ereignisraum werden sollte. Im abgedunkelten Atelier erhitzte er eine frei im Raum hängende Metallplastik in Form einer kleinen Engelsfigur mit einem Bunsenbrenner so lange, bis die Bronze rot zu glühen begann und nach ein paar Minuten während des Erkaltens langsam wieder an Farbe verlor.[2] Auf dem Plakat wird die Aktion als „letzte Abendausstellung“[3] angekündigt, was verdeutlicht, dass die Bezeichnung allein im Kontext des Ateliers in der Gladbacher Straße Verwendung fand und das Format konkret an die dortigen Räumlichkeiten gebunden war.[4] Mit dem Erlöschen der rotglühenden Venus wurde dabei nicht nur die Reihe der Abendausstellungen beschlossen und die Geschichte des Ateliers in der Gladbacher Straße fand durch den folgenden Wegzugs Piene in die Hüttenstraße ein nahes Ende. Im Rahmen der Eröffnung der Ausstellung Zero in Bonn in den Städtischen Kunstsammlungen in Bonn am 25. November 1966 hatten Mack, Piene und Uecker eine Woche zuvor offiziell das Aus ihrer künstlerischen Kooperation erklärt – auch mit ZERO war Schluss.[5]
[1] Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 130.
[2] Vgl. Piene, in: Meister (wie Anm. 1), S. 30 f.
[3] Plakat, Piene. Zweites Fest für das Licht, Galerie Schmela, Düsseldorf, Atelier Piene Gladbacher Straße 69, Düsseldorf, Atelier Piene Hüttenstraße 104, Düsseldorf, 1966, Archiv der ZERO foundation, Vorlass Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.0.VII.4.
[4] Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 129. Interessanterweise taucht der Terminus des Ateliers ausschließlich auf den beiden Postern zum Fest für das Licht auf, das heißt nur dann, wenn es allein mit Arbeiten von Piene bespielt wurde. Die Einladungskarten der ersten acht Abendausstellungen nennen als Lokalisierung die Adresse der Gladbacher Straße 69 ohne einen Hinweis auf das Atelier von Mack und Piene zu geben, was einmal mehr den sozialen Aspekt des Unternehmens untermauert – nicht sie sollten im Vordergrund stehen, sondern die Gemeinschaft aller ausstellenden Künstler*innen.
[5] Vgl. Zell (wie Anm. 6), S. 131.
Endnotes
B Bücher
ZERO und die gedruckte Seite
Bartomeu Mari
Dieser Text handelt von einem Schnittpunkt, an dem mehrere Spezialgebiete aufeinandertreffen: In ihm begegnen sich Kunst, kuratorische Praxis, Ausstellung und Dokumentation, Schreiben über Kunst (beziehungsweise Kunstkritik), verlegerische Tätigkeit, Grafikdesign und Werbung. Wohlgemerkt gehörten oder gehören diese Bereiche nicht zu meinen Forschungsschwerpunkten. Ich nähere mich ihnen vielmehr als Zeuge, der – im Sinne einer eigenen „Atelierpraxis“ – sich selbst als Teil des untersuchten Gegenstandes sieht. Jedenfalls nähern sich diese Tätigkeiten meiner Einschätzung nach an, wenn man Bücher oder „Drucksachen“ aller Art (einschließlich Zeitschriften, Flugschriften, Plakaten, Manifesten, Werbeanzeigen, Veranstaltungseinladungen, um nur einige zu nennen) herstellt. Dieser Kosmos drückt sich auf Papier aus und kommt in größeren Stückzahlen daher. In ihm gibt es keine Einzelobjekte, sondern nur Reproduktionen ohne Original. Die von Thekla Zell erarbeitete und reich bebilderte Chronologie, die 2015 erschien,[i] führt uns auf einem reizvollen, gewundenen Pfad durch die ästhetische Vielfalt, die wir den europäischen ZERO-Künstler*innen zu verdanken haben.
[i] Thekla Zell, „Wanderzirkus ZERO. Dokumentation der Ausstellungen, Aktionen, Publikationen 1958–1966“, in: Dirk Pörschmann und Margriet Schavemaker (Hg.), ZERO, Ausst.-Kat. Zero foundation, Düsseldorf, und Stedelijk Museum, Amsterdam, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2015, S. 19–176.
Ich nähere mich ihnen vielmehr als Zeuge, der – im Sinne einer eigenen „Atelierpraxis“ – sich selbst als Teil des untersuchten Gegenstandes sieht.
Bücher und Zeitschriften gehören nur scheinbar unterschiedlichen Kategorien an, denn innerhalb des Kontexts der künstlerischen Nachkriegsavantgarde in Europa sind sie fester Bestandteil eines noch größeren Ganzen, das mittlerweile als wichtiges Kulturerbe gilt und neben Kunstwerken im engeren Sinne des Wortes gezielt gesammelt, konserviert und ausgestellt wird. Insbesondere im Umfeld der Gruppe ZERO spielten Bücher und Zeitschriften eine wesentliche Rolle bei der Verbreitung von Ideen, die innerhalb einer ganzen Künstlergeneration zentrale Bedeutung gewinnen sollten. Bewusst oder unbewusst das Erbe eines Geistes der Erneuerung antretend, den die Avantgarde der Zwischenkriegszeit geatmet hatte, versuchten die Vertreter*innen dieser neuen Generation, ihre Vorgänger zu übertreffen, mit der Vergangenheit reinen Tisch zu machen und eine neue ästhetische Sprache, neue Funktionen und Handlungsfelder für die Kunst zu etablieren sowie – warum eigentlich nicht – zur Erfindung einer neuen Welt beizutragen, die nach der zerstörerischen Barbarei des Zweiten Weltkriegs neu entstehen sollte. Die meisten Künstler, von denen in diesem Text die Rede sein wird, waren während des Kriegs noch Kinder: Das gilt für Heinz Mack, Otto Piene – der als sogenannter Flakhelfer eingezogen wurde – und Günther Uecker, der einmal erwähnte, dass seine charakteristische Materialwahl auf ein Kriegserlebnis zurückgehe.[i] Sie klammerten die negativen Seiten einer Moderne nicht aus, die – wie Goya es mit dem „Schlaf der Vernunft, [der] Ungeheuer gebiert“ vorwegnahm – letztlich die erste Tragödie wirklich globalen Ausmaßes ausgelöst hatte.
[i] „Günther Uecker . Poetry Made with a Hammer“, YouTube-Video, 41:42 Min., Upload durch Louisiana Channel, 13.06.2017, https://www.youtube.com/watch?v=MPH7XSsK3SY (zuletzt abgerufen am 21.10.2023).
Die Kunstkritik hat sich bereits umfassend mit dem Thema künstlerischer Publikationen befasst, und die Inhalte der Publikationen, auf die ich mich hier hauptsächlich beziehe, waren ebenfalls schon Gegenstand eingehender Untersuchungen. Ich werde allerdings versuchen, einige Fragen in Bezug auf die periodisch erscheinenden Publikationen, insbesondere ZERO, Azimuth und Nul=0, zu stellen. Ich hätte auch Publikationen wie Nota, De Nieuwe Stijl[i] oder andere Veröffentlichungen berücksichtigen können, die im Kontext bestimmter Ausstellungen entstanden sind. Doch möchte ich mich an dieser Stelle auf die von den Künstlern selbst herausgegebenen und produzierten Zeitschriften beschränken und Ausstellungskataloge und Bücher, die von einzelnen Institutionen, etwa Museen, herausgegeben wurden, außer Acht lassen. Diese bieten den Stoff für eine gesonderte Untersuchung. Den letztgenannten Publikationen lagen meines Erachtens andere redaktionelle Kriterien zugrunde, durch die sie sich grundlegend von Ersteren unterscheiden. Mir geht es hier hingegen vor allem um die von allen Künstlern geteilten Absichten, einen Raum zum Ausdruck und zur Vermittlung der eigenen Diskurse zu schaffen. Dies ist ein sehr modernes Bedürfnis: Ein Kunstwerk, das seine Existenz nicht dem Auftrag einer herrschenden Macht verdankt, sondern allein der Kreativität und der Intention des/der Künstler*in, muss in seiner Bedeutung argumentativ bekräftigt werden. Jedes Kunstwerk scheint einer – mehr oder weniger systematischen, mehr oder weniger kohärenten – Theorie zu bedürfen, die ihm in einem neuen Betrachtungskontext Sinn verleiht.
[i] Sowohl Nota als auch De Nieuwe Stijl stellen einen Zusammenhang zwischen bildender Kunst und konkreter Poesie her.
Mehr zu den ZERO-Magazinen
„Ausstellungen gehen, Bücher bleiben.“ Harald Szeemann
All diesen Publikationen und Zeitschriften ist gemein, dass sie aus der Hand von Künstlern stammen, die sich damit ganz bewusst und gezielt zu Autoren, Designern und Herausgebern machen, womit sie den Bereich der bloßen Herstellung von Kunstwerken oder zum Abdruck bestimmter Bilder verlassen. Wie aus dem Band The Artist as Curator: Collaborative Initiatives in the International ZERO Movement 1957–1967 hervorgeht, erweitern die jeweiligen Künstler ihre Handlungsfelder aktiv um Spezialgebiete, zu denen auch das Publizieren von Zeitschriften und Büchern gehört, was eine ganz entscheidende Abgrenzungsmöglichkeit darstellt.[i] Die Kunstschaffenden sehen in den Medien Buch und Zeitschrift einen kreativen Raum, der mit dem Atelierraum vergleichbar ist und der den Galerieraum erweitert. Es ist ein Raum, der als Multiplikator fungieren kann. Es geht dabei um die Besetzung eines modernen Raums (im Habermas’schen Sinne des Begriffs), der mit dem Raum jener Institutionen gleichgesetzt werden kann, welche die Kultur einer offenen Gesellschaft prägen. Der Ort der Kunst ist nicht mehr die fürstliche Kunstkammer. Die Kunst wird auch nicht von der Regierung gelenkt (wie es bei totalitären Regierungen der Fall war und ist). Sie ist auch nicht auf Museen beschränkt, die erst seit Kurzem der zeitgenössischen Kunst offenstehen, oder auf Messen oder Salons, in denen ästhetische Neuerungen präsentiert werden. Die Kunst nimmt mit einer gewissen Alltäglichkeit, aber auch auf mehr oder weniger außergewöhnliche Art und Weise einen neuen öffentlichen Raum in Beschlag, dessen traditionelle Aufgabe eigentlich in der Verbreitung von Informationen und öffentlichen Debatten bestand. Die umfangreiche Monografie Artists‘ Magazines[ii] bietet eine prägnante Auseinandersetzung mit dem Thema Künstlerzeitschriften. Ihr Hauptaugenmerk richtet sich zwar auf Publikationen aus dem nordamerikanischen Kontext, doch sie erwähnt auch die deutsche Kunstzeitschrift Interfunktionen (1968–1975), die in diesem Kontext umso deutlicher heraussticht. Folgt man dieser Analyse, sind Publikationen Kommunikationsräume, genau wie Galerie- oder Ausstellungsräume auch. Während Institutionen und Museen in Büchern eine Erweiterung des institutionellen Repräsentationsraums sehen, fungieren (oder fungierten) Publikationen für Kunstkritik, Kurator*innen oder Autor*innen als natürlicher Raum zur Vermittlung der eigenen Ideen oder Argumente. Aus diesem Grund treffen auf den Seiten von Büchern und Zeitschriften die Interessen zahlreicher Akteur*innen des Systems aufeinander. Die gedruckte Seite, das Buch, die Zeitschrift oder das Flugblatt, sie alle sind Verkörperungen eines sehr mächtigen und wichtigen Hybridraums. „Ausstellungen gehen, Bücher bleiben“, ließ mich Harald Szeemann schon vor vielen Jahren wissen. Heute sind Ausstellungen für uns von geschichtlicher Bedeutung, was vor allem auch an den Spuren liegt, die sie hinterlassen – also den Katalogen und Zeitschriften –, die ihrem flüchtigen Dasein etwas entgegensetzen. Insofern scheint es mir bemerkenswert, dass in der kunsthistorischen Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst überhaupt erst seit Kurzem die Geschichte von Ausstellungen ein Thema geworden ist.
[i] Vgl. Tiziana Caianiello,Mattijs Visser (Hg.), The Artist as Curator: Collaborative Initiatives in the International ZERO Movement, 1957–1967, Gent, 2015.
[ii] Gwen Allen, Artists’ Magazines: An Alternative Space for Art, MIT Press, Cambridge, Mass., und London 2011. Jenseits der Besonderheit der Zeitschriften als „alternative“ Räume für Kunst sei hier auch verwiesen auf: Brian O’Doherty, Atelier und Galerie / Studio and Cube, Merve Verlag, Berlin 2012.
Zu den publizistischen Aktivitäten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts findet sich in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg eindeutig ein Pendant. Die sogenannten historischen Avantgarden entfalteten eine genauso üppige literarische und kritische Aktivität, und sie entwickelten ebenfalls zahlreiche Publikationsprojekte. Erinnert sei hier nur an einige der zahlreichen Publikationen, die für die Entwicklung der damaligen Kunstbewegungen und -gruppen von Bedeutung waren, etwa De Stijl (1917–1920 und 1921–1932), Mécano (1922–1923), MA (1916–1925), 391 (1917–1924), L’Esprit Nouveau (1920–1925), Bauhaus (1926–1932), Der Sturm (1910–1932), Die Aktion (1911–1932), Die Freie Strasse (1915–1918), Dada (1919–1920), Merz (1923–1932), LEF (1923–1925), unter anderen. Viele von ihnen kamen aus Deutschland. Vergleicht man die beiden Publikationskontexte, lässt sich ein erstes Fazit ziehen: Die überwiegende Zahl der Publikationen aus der Zwischenkriegszeit zeugt von einer enormen grafischen Kreativität; die nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Publikationen hingegen zeichnen sich durch eine große visuelle und grafische Nüchternheit aus, die in einem deutlichen Gegensatz zur Ästhetik der Vorgänger steht. In der Zwischenkriegszeit wurde in neuen Bereichen wie etwa der Typografie mit großer kompositorischer Freiheit visuell experimentiert. Das geschriebene Wort wurde zu einem Bild von großer Kraft, radikal anders als etwa im Mittelalter oder in der Renaissance. Lautgedichte und konkrete Poesie hoben Schrift und Bild auf eine gleichwertige Ebene. Die Kombination aus visuellen Innovationen, konkreter Poesie und Lautgedicht, typografischen Umwälzungen und den bahnbrechenden grafischen Möglichkeiten der Fotografie bildete den idealen Nährboden für die Entwicklung einer modernen Ästhetik, die später auch von der Werbung aufgegriffen wurde.
Anders als es der vermeintlich nihilistische Name der Gruppe vielleicht vermuten ließe, ging es bei ZERO um eine Stunde null, die Herstellung eines neuen Zustands, eine Wiedergeburt.
Wie lässt sich die grafische Nüchternheit der Künstlerpublikationen aus der Nachkriegszeit erklären? Ich habe keine endgültige Antwort darauf, aber ich kann mir vorstellen, dass sich die Autoren dieser Zeitschriften ihrer Ziele sehr genau bewusst waren: Ihnen ging es darum, eine öffentliche Sichtbarkeit, Bedeutung und Relevanz für sich zu beanspruchen, die ihnen Respekt und Anerkennung verschaffen würden. Ich möchte damit nicht sagen, dass sie damit „Marketing“ im heutigen Sinne betrieben. Denn diese Künstler-Generation musste sich ja erst einmal eine eigene Öffentlichkeit aufbauen. Es ging nicht darum, sich in einer schon bestehenden Szene durchzusetzen, auch nicht darum, eine zerstörte Szene wiederaufzubauen. Der enthusiastische Geist, der ihre Texte und Statements durchzieht, folgt eher dem Wunsch, etwas Neues zu erfinden, als dem Willen, Bestehendes zu verändern. Im Unterschied dazu hatten die Künstler*innen des Futurismus und Dadaismus ebenso viel Energie auf die Zerstörung einer überkommenen herrschenden bürgerlichen Kultur verwendet wie auf die Entwicklung eines neuen ästhetischen Programms; deshalb wurde Dada lange Zeit (und meiner Meinung nach zu Unrecht) mit Anti-Kunst gleichgesetzt. Anders als es der vermeintlich nihilistische Name der Gruppe vielleicht vermuten ließe, ging es bei ZERO um eine Stunde null, die Herstellung eines neuen Zustands, eine Wiedergeburt.
Die Bücher und Publikationen, die von den ZERO-Künstlern und den ihnen nahestehenden Gruppen herausgebracht wurden, scheinen im Gegensatz zu der spielerischen, betriebsamen, dynamischen Atmosphäre und dem unberechenbaren und überraschenden Charakter zu stehen, den die Performances der Gruppe im öffentlichen Raum, bestimmte Eröffnungen, die damaligen Fernsehauftritte Piero Manzonis (1933–1963) oder die Treffen der Künstler*innen ausstrahlten. Die Zeitschriften sind „ernsthaft“; sie „stellen fest“, dass das, was diese Künstler*innen tun, ernstzunehmend ist, dass sie die Aufmerksamkeit des Publikums verdienen und man ihr Schaffen nicht einfach auf die leichte Schulter nehmen kann.
Die Publikationen, von denen hier die Rede ist, erschienen in relativ kleinen Auflagen, und die bekanntesten unter ihnen, ZERO und Azimuth, waren recht kurzlebige Projekte. Die ersten beiden Ausgaben von ZERO wurden 1958 in Auflagen von 400 beziehungsweise 350 Exemplaren herausgebracht. Nummer drei, Apotheose und Abschluss zugleich, erschien 1961 in einer Auflage von 1225 Exemplaren: Die Macher waren davon überzeugt, dass die Nachfrage exponentiell steigen werde. Die Zeitschrift Azimuth, der authentische Höhepunkt und Widerhall eines ganz besonderen Augenblicks, erschien in nur zwei Ausgaben mit einer Auflage von jeweils etwa 500 Stück.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die westeuropäische Wirtschaft einschließlich der Insel West-Berlin bald jahrelang stark von der Förderung durch den Marshallplan geprägt. Die unangefochtene militärische und wirtschaftliche Dominanz der Vereinigten Staaten von Amerika sollte sich bald in einer „Kulturindustrie“ – wie Theodor Adorno und Max Horkheimer sie nannten – sowie in der Entstehung von „Prestige-Gewerben“ manifestieren, wie etwa das Kunstsystem eines darstellt. Nicht nur „stahl“ New York Paris den Status als Welthauptstadt der Kunst, vielmehr verlagerte sich das gesamte Gravitationszentrum auf die andere Seite des Atlantiks, insbesondere aufgrund der Macht der Akademie und des ihr Glaubwürdigkeit und Autorität verleihenden kritischen, redaktionellen und publizistischen Apparats. ZERO und sein Umfeld sind der Abgesang auf ein Europa der Nachkriegszeit, in dem die Kultur und das kulturelle Erbe durch Industrie, Handel, den militärischen Komplex und die Wissenschaft aus ihrer zentralen Stellung verdrängt wurden, eine Entwicklung, die mit dem Ringen der dominierenden ideologischen Antagonisten, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, um globale Vorherrschaft zu tun hatte. Die geistige und ästhetische Dramaturgie, um die es hier geht, entfaltete sich parallel zu denkwürdigen Ereignissen aus der Zeit des Kalten Krieges, aber auch parallel zum Übergang von der Beatnik-Generation zu den Hippies, der in die 68er-Bewegung mündete. Ist es insofern nicht seltsam, dass wir heute, weit ins 21. Jahrhundert hinein, noch so wenig über die Nove Tendencije-Ausstellungen wissen, die 1961, 1963 und 1965 in Zagreb stattfanden und für die sich offenbar niemand zu interessieren scheint? Die im damaligen Kontext geführten Debatten stellen ein historiografisches Grenzgebiet dar, dem sich die Forschung umgehend widmen sollte.
ZERO, Azimuth, Nul=0
Die niederländische Zeitschrift Nul=0 erschien in zwei Ausgaben. Die erste, aus dem Jahr 1961, enthält Textbeiträge von Künstlern in deutscher, französischer und englischer Sprache, begleitet von Abbildungen ihrer Werke. Die zweite Ausgabe aus dem Jahr 1963 war den kurz zuvor verstorbenen Künstlern und wahren Medien-Agitatoren Yves Klein (1928-1962) und Piero Manzoni gewidmet. Beide Ausgaben zeichnen sich durch ihre große grafische Nüchternheit aus, die die Aufmerksamkeit auf die verwendeten Schriftarten lenkt, die an das Schriftbild alter Schreibmaschinen denken lassen.
Die zwei Ausgaben der Zeitschrift Azimuth erschienen im September 1959 und im Januar 1960. Beide weisen dieselbe Struktur auf: Sie enthalten Textbeiträge von Künstlern und Werkabbildungen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Texte in der zweiten Ausgabe auf Italienisch, Deutsch, Französisch und Englisch abgedruckt sind, was den internationalen und kosmopolitischen Anspruch des Projekts unterstreicht.
Vorreiter war allerdings die deutschsprachige Zeitschrift ZERO, deren erste beide Ausgaben ein ähnliches Konzept aufweisen und die im Vergleich die größte Zahl an begeisterten europäischen Künstlern inspirierte und zusammenbrachte. Die erste Ausgabe war der Farbe Rot gewidmet und erschien begleitend zu einer Abendausstellung mit demselben Thema. Dem Heft war ein Hegel-Zitat vorangestellt, auf das bekannte Künstler und Intellektuelle antworteten, unter ihnen Arnold Gehlen (1904–1976), Max Burchartz (1887–1961), Georg Muche (1895–1987) und Yves Klein. Die zweite Ausgabe, die begleitend zur 8. Abendausstellung erschien, drehte sich thematisch um die Idee der Vibration in der Malerei – eine Idee, die von den jungen italienischen Künstler*innen des Gruppo T und Gruppo N ein Jahr später im wörtlichen Sinne aufgegriffen wurde, was in eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten einer echten Vibration von Objekten und Oberflächen in dreidimensionalen und animierten Werken mündete.
Nur das dritte ZERO-Heft, erschienen 1961 als letzte Ausgabe des Publikationsprojekts, enthält einige mit Bedacht gestaltete Seiten, die das traditionelle Verhältnis von Bild und Text aufbrechen, um ein konzeptuell gestaltetes visuelles Narrativ zu bilden. ZERO 3 nimmt mehrfach Bezug auf die Ausstellung Dynamo, die 1959 in der Galerie Renate Boukes in Wiesbaden stattgefunden hatte, und enthält mehrere „visuelle Essays“, die eine besondere ikonografische Atmosphäre schaffen, welche auf einigen Seiten an Details aus der Pop Art oder an die Bildsprache der Massenmedien denken lässt. Es sind nicht nur Kunstwerke abgebildet – ausführlich gewürdigt werden etwa Lucio Fontana (1899–1968), Yves Klein, Jean Tinguely (1925–1991), Otto Piene (1928–2014) und Heinz Mack (geb. 1931) –, sondern wir sehen darüber hinaus auch ein dichtes Bildraster, das auf dem Papier verschwimmt, und kräftige weibliche Lippen, die uns zur lauten Aussprache eines nicht zu vernehmenden Wortes zu animieren scheinen. Ein numerischer Countdown führt uns zum Start einer Rakete, die ZERO an die Grenzen des Firmaments katapultiert (im Rahmen des „Wettlaufs ins All“ sollten noch weitere acht Jahre ins Land gehen, bis der erste Mensch tatsächlich den Mond betrat). Am Ende des Bandes findet sich eine eindeutige Botschaft: „Wir leben. Wir sind für alles.“[i] Im Innenteil wird Yves Kleins Text abrupt von einer „brutalen“ Intervention des Künstlers unterbrochen: Sein Text endet mittendrin auf einer angesengten Buchseite, deren unteres Stück fehlt.
[i] „Proklamation“, in: ZERO, in deutscher Sprache mit Übersetzung ins Englische von Howard Beckman, Massachusetts Institute of Technology, Cambridge, MA, 1973, S. 329.
Auch wenn einige von ihnen Werke von fast asketischer Nüchternheit schufen und andere einen dezidiert konzeptuellen Ansatz verfolgten, waren sie eindeutig Kinder „ihrer“ Zeit
1956 organisierten Richard Hamilton und die Künstler*innen der Independent Group die heute als bedeutend geltende Ausstellung This Is Tomorrow in der Londoner Whitechapel Art Gallery, in deren Rahmen erstmals die Sprache der Werbung, der Populärkultur und der Konsumgesellschaft sowie die Überschwänglichkeit der Massenmedien in die heiligen Hallen der bildenden Kunst Einzug hielten. ZERO, Azimuth, Nul=0 und weitere Publikationen sollten visuelle Antipoden nicht nur der typografischen Experimente aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern auch der überwältigenden visuellen Reize bleiben, die bald den Alltag der Menschen in Europa bestimmen sollten. Ich möchte hier nicht die Gegensätzlichkeit bestimmter Ästhetiken in den Mittelpunkt stellen, sondern vielmehr die Beweggründe und Strategien jener Künstler*innen, welche sich einer minimalistischen Abstraktion verschrieben, die Malerei zum Vibrieren bringen wollten, das Monochrom fast zu ihrem transzendentalen Glaubensbekenntnis machten und von Lucio Fontanas unermüdlicher Suche nach einer neuen Art von Raum – einem aus Leere bestehenden Raum – fasziniert waren. Das Interesse der Nachkriegskünstler*innen an populären Subkulturen, die im Zusammenhang mit der Unterhaltungsindustrie, der Werbung, der Konsumgesellschaft und den Medien standen, ist gut dokumentiert. Die europäischen Künstler*innen allerdings haben die visuellen und gesellschaftlichen Veränderungen ihres Umfelds nicht beschönigt, sondern ihnen gegenüber eine sehr kritische oder distanzierte Haltung bewahrt. Auch wenn einige von ihnen Werke von fast asketischer Nüchternheit schufen und andere einen dezidiert konzeptuellen Ansatz verfolgten, waren sie eindeutig Kinder „ihrer“ Zeit. Es ging ihnen nämlich auch darum, mit ihrer Kunst ästhetischen Widerstand zu leisten angesichts einer Öffentlichkeit, die sich auf neue Formen gemeinschaftlicher Vergnügungen und kollektiven Austauschs einzulassen begann. Die Massenmedien faszinierten sie, insbesondere das Fernsehen. Einige von ihnen waren exzellente Kommunikatoren oder Entertainer (oder Clowns, wie manche sie nannten). Ihr Sinn für Humor und ihre provokative Ader erwiesen sich als effiziente Kommunikationsstrategien, die allerdings im Widerspruch zu der visuellen Strenge ihrer Veröffentlichungen standen.
Die Zeitschriften ZERO, Azimuth und Nul=0, die die wichtigsten Sprachrohre für die Düsseldorfer, Mailänder und Rotterdam-Amsterdamer Szenen darstellten, ähneln sich in ihrer inhaltlichen Struktur: Sie enthalten Texte von Künstlern, die sich auf bestimmte Werke oder Projekte beziehen, Texte von Kritikern oder Museumskuratoren, die diesen Ideen beipflichten, ergänzt um Abbildungen von Werken der direkt oder indirekt beteiligten Künstler*innen. Die Bücher und Zeitschriften ließen ein anhaltendes Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen. Seit der Moderne waren Künstler mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich zur eigenen Existenzsicherung zusammenzuschließen, zusammenzutun und zu organisieren. Künstler*innen wurden zu Autor*innen, Herausgeber*innen oder Teilnehmer*innen an Ausstellungen, die im Zusammenhang mit dem Erscheinen einer bestimmten Zeitschrift veranstaltet wurden. Darüber hinaus scheint mir ein zusätzliches Element erwähnenswert: Parallel zu den vielgerühmten Publikationen entstanden bei ZERO und im ZERO-Umfeld zahlreiche weitere Druckerzeugnisse: Plakate, Faltblätter, Ankündigungen, Einladungen, um nur einige zu nennen – Infomaterial, das Aktivitäten bewarb, die manchmal von Katalogen begleitet wurden. Innerhalb dieser gemischten Kategorie der Druckerzeugnisse lässt sich zudem eine grafische Vielfalt von großer kommunikativer Wirkung ausmachen. In der Ausstellung Far from the Void: ZERO and Postwar Art in Europe 2022 am IVAM Centre Julio González in Valencia waren die Bücher und vielfältigen Publikationen, Filme und Dokumentationen der einzelnen Gruppen in Vitrinen und Displays im zentralen, alle Räume und Bereiche verbindenden Korridor der Ausstellung zu sehen, sozusagen als deren „Rückgrat“, das als verbindendes Element zwischen den Werken, Künstler*innen und Ideen fungieren sollte. Bücher, Zeitschriften und Drucksachen schufen nicht nur eine visuelle Identität im öffentlichen Raum, sondern dienten auch als konzeptuelles „Bindemittel“. Der physische Raum der Stadt und der ätherische Raum der Medien sorgten dafür, dass sie untereinander in Verbindung blieben. Die Kunsthistorikerin und -kritikerin Claire Bishop hat unlängst das Problem des inflationären Auftretens von dokumentarischem Material im Ausstellungsraum angesprochen, der ja traditionellerweise Kunstwerken vorbehalten ist: Das künstlerische Erbe ist ein unermessliches Ganzes, dessen Handhabung aber widersprüchlichen Kriterien unterliegt.[i]
[i] Claire Bishop, „Information Overload“, in: Artforum, 61, Nr. 8, April 2023, S. 122–189.
ZERO, Azimuth und Nul=0 waren zwar keine Begleitpublikationen zu einzelnen Ausstellungen im traditionellen Sinne, doch sie teilten sich mit diesen die ihnen entgegengebrachte öffentliche Aufmerksamkeit, die Ideen, für die sie eintraten, und die geistigen Anregungen und Argumente, die sie vermittelten.
Wie lässt sich die deutlich zur Schau getragene grafische und visuelle Nüchternheit der erwähnten Publikationen erklären? Allem Anschein nach waren sich die hier besprochenen Künstler sehr wohl darüber im Klaren, dass eine kreative grafische Gestaltung ein machtvolles und nützliches Instrument sein kann, wenn man die eigenen Projekte überzeugend zur Geltung bringen will. Ihre neuen künstlerischen Ideen strebten nach einem Sichtbarkeit gewährenden Raum, nach einer öffentlichen Sphäre, die gerade einen sagenhaften Umbruch durchmachte. Diese von Künstlern ausgehenden Initiativen sorgten sowohl in Europa als auch in den USA für eine grundlegende Neuausrichtung der Branche der Kunstbuchverlage. Der künstlerische Aufbruch der 1960er-Jahre manifestierte sich zunächst in einer von den Künstler*innen selbst entfalteten Publikationstätigkeit, bevor der Raum der gedruckten Seite von profitorientierten Verlagen besetzt wurde. Die anfänglich herrschende Hingabe wurde erst später von der Shareholder-Value verdrängt.
Auch wenn ZERO, Azimuth und Nul=0 jeweils nur für kurze Zeit existierten, bin ich davon überzeugt, dass die Künstler*innen, die sich im Dunstkreis dieser Publikationsprojekte bewegten, damit keine Alternative zum traditionellen Ausstellungsraum der Galerien und Museen suchten. Heinz Mack und Otto Piene hatten nämlich bereits neue Ausstellungsformate erfunden und dafür neue Orte erschlossen: Sie veranstalteten Ausstellungen in ihren eigenen Ateliers, wobei die Vernissage jeweils die raumzeitlichen Koordinaten lieferte, innerhalb derer sich die gesamte Ausstellung abspielte. Andererseits wurde im Rahmen dieser Vernissagen weiterhin an einigen traditionellen Ausstellungsritualen festgehalten, wie etwa der Einladungskarte oder der Eröffnungsrede, gehalten jeweils von einer Autorität aus der Wissenschaft oder einer Kunstinstitution. Piero Manzoni und Enrico Castellani (1930-2017) eröffneten in Mailand ihre eigene Galerie, und die niederländischen Künstler „besetzten“ zweimal das wohl dynamischste Museum der damaligen Zeit, das Stedelijk Museum in Amsterdam. Ihre belgischen Kollegen nutzten einen neuen, von ihnen selbst betriebenen Ausstellungsort in Antwerpen, das Hessenhuis, wo 1959 denkwürdige Ausstellungen stattfanden. Einige Jahre später versuchte sich das US-amerikanische Magazin Aspen an einer neuen Art von Ausstellungsraum in Form eines experimentellen Magazins, das als Alternative zum dreidimensionalen euklidischen Raum der kommerziellen Galerien, Museen oder Nonprofit-Räume gedacht war. ZERO, Azimuth und Nul=0 waren zwar keine Begleitpublikationen zu einzelnen Ausstellungen im traditionellen Sinne, doch sie teilten sich mit diesen die ihnen entgegengebrachte öffentliche Aufmerksamkeit, die Ideen, für die sie eintraten, und die geistigen Anregungen und Argumente, die sie vermittelten.
Relativ schnell folgten Ausstellungen in kommerziellen Galerien und einige wenige Museumsausstellungen. Die Teilnahme an Großveranstaltungen wie der Documenta oder der Biennale von Venedig samt der damit einhergehenden Würdigung blieb den Künstler*innen aus diesem Umfeld weitgehend versagt – Mack, Piene und Uecker stellten jedoch 1964 in Kassel aus. Als die ästhetischen Formen und Ideen der europäischen ZERO-Künstler*innen 1964 die USA erreichten,[i] wurden sie einer Kategorie zugeschlagen, die mit ihren ursprünglichen Ansätzen eigentlich nichts zu tun hatte, was der Tatsache geschuldet war, dass der überwältigende Erfolg der US-amerikanischen Pop Art im internationalen Kontext damals bereits alles überstrahlte.
In einer Zeit des multidisziplinären und antiakademischen Aufbruchs – geprägt vom Bruch mit dem Überkommenen, aber den bestehenden Institutionen gegenüber nicht respektlos, innovativ, aber nicht blind gegenüber den neuen Ordnungen, die sich nun nach und nach herauszubilden begannen – waren die Bücher und Publikationen Teil eines größeren Repertoires an Aktionen und Medien, welches etwa auch Performances, beziehungsweise kollektive und theatralische Handlungen, oder den Einsatz neuer Medien (Fernsehen) beinhaltete. Die neue Kunst setzte sich nach und nach durch und ging im System auf, in den Schatten gestellt durch die von Galerien und Kunstkritik befeuerte schnelle Abfolge der Trends, Gruppen und Strömungen.
[i] Die Ausstellung The Responsive Eye fand vom 23. Februar bis zum 25. April 1965 im New Yorker Museum of Modern Art statt. In der Presseerklärung zu dieser Ausstellung heißt es: „The Responsive Eye exhibition will bring together paintings and constructions that initiate a new, highly perceptual phase in the grammar of art.… Certain of these artists establish a totally new relationship between the observer and the work of art.“ („Die Ausstellung The Responsive Eye versammelt Gemälde und Konstruktionen, die eine neue, hochgradig perzeptuelle Phase in der Grammatik der Kunst einläuten… Einige dieser Künstler etablieren eine völlig neue Beziehung zwischen dem Betrachter und dem Kunstwerk.“) Vgl. Website des Museum of Modern Art, https://assets.moma.org/documents/moma_press-release_326375.pdf (zuletzt abgerufen am 06.11.2023).
Ich kann mir vorstellen, dass – bei allen möglichen Unterschieden und Umständen – während der Abendausstellungen, die Heinz Mack und Otto Piene in ihrem Düsseldorfer Atelier veranstalteten, eine Atmosphäre vorherrschte, wie wir sie alle aus unserer Jugend kennen. Aus künstlerischer Sicht ist jede schöpferische Handlung notwendig und vital. Und ein Teil dieser Vitalität, um die es mir hier geht, bestand, wie ich mir vorstellen kann, in der Rationalisierung machtvoller Intuitionen, die jederzeit auftauchen und wieder verschwinden konnten, und die im Atelier materiell verwirklicht werden mussten, um zu Kunstwerken zu werden. Kreativität zu rationalisieren – das heißt, begrifflich und argumentativ darzulegen, warum ein Kunstwerk so ist, wie es ist, und nicht anders –, diese Aufgabe wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ein ganz selbstverständlicher Bestandteil künstlerischen Schaffens.
Die gedruckte Seite wird sich immer von den Bildschirmen unterscheiden, die uns umgeben.
Während die Künstler*innen im Umfeld von Futurismus, Surrealismus und Dada die Ersten waren, die eine systematische Praxis des experimentellen und kritischen Schreibens mit aktivistischen oder kreativen Absichten etablierten und eigene Medien, Bücher und Zeitschriften veröffentlichten, waren es die europäischen ZERO-Künstler und deren Umfeld, die die Stellung dieses Genres in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts festigten. Diese Publikationen, die in maximal drei Ausgaben und jeweils nur über ein, zwei oder drei Jahre hinweg erschienen, faszinieren uns mit ihrer enormen grafischen Einfachheit und ihrer hohen Druckqualität noch heute. In schöner Regelmäßigkeit befassen sich Museums- oder Galerieausstellungen, Symposien, Artikel oder Bücher mit ihnen, zudem sind sie in spezialisierten öffentlichen und privaten Sammlungen zu finden. Einige von ihnen wurden nachgedruckt und neu aufgelegt, andere zirkulieren frei in digitaler Form. Viele Ideen, die in ihren Texten zum Ausdruck kommen, mögen uns heute vielleicht naiv oder überholt erscheinen. Aber zweifellos verweisen sie uns auf Umstände, Formen und Materialien, ohne die die Kunst von heute nicht das wäre, was sie ist.
Die Haltung, auf der all dies beruhte – eine echten „Do-it-yourself“-Einstellung –, lehrt Kunstschaffende und Intellektuelle dieser Tage, dass man zur Vermittlung neuer Ideen den passenden Kanal selbst herstellen muss, wenn er noch nicht existiert. Darüber hinaus lässt sich daraus ableiten, dass neue Formen ohne die entsprechenden Ideen, die sie stützen, nur selten längerfristig Bestand haben. Wir befinden uns heute am Schnittpunkt einer Reihe komplexer Gewerbe, die durch die Digitalisierung und das World Wide Web für immer verändert wurden. Die gedruckte Seite wird sich immer von den Bildschirmen unterscheiden, die uns umgeben. Letztere aber verdanken Ersteren die Fähigkeit, Bilder, Worte, Ideen und Empfindungen – unsere geistige Aktivität und unsere Gefühle – miteinander in Verbindung zu setzen.
Dieser Text wurde von Michael Ammann aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.
Endnotes
C Konkrete Poesie
Konkrete Poesie und ZERO (1979)
Eugen Gomringer
Im gleichen Zeitraum – mit einer Verschiebung von nur wenigen Jahren – sind in der Schweiz und in Brasilien die konkrete Poesie einerseits und in Düsseldorf Zero andererseits entstanden. Konkrete Poesie wird zwar mit Recht den dichterischen Bewegungen zugezählt, sie ist jedoch ohne den Bezug zur konkreten Kunst, der in der Schweiz durch meine Begegnung mit der Galerie Des Eaux Vives 1944 in Zürich gegeben war, ja teilweise ihrer Verwurzelung in der visuellen Kunst, in der schweizerischen Graphik und Typographie, nicht denkbar. Philosophie und Thematiken von Zero sind der konkreten Poesie deshalb phänomenologisch auf alle Fälle nicht wesensfremd. Im Gegenteil, es ergaben sich bald Grenzverschiebungen und Interaktionen, die bis heute [1979] immer wieder Früchte tragen. Dass sich beide Bewegungen, ohne anfangs viel voneinander zu wissen, ähnlichen Zielen und Inhalten widmeten, lässt sich mehrfach belegen.
Im ersten Manifest der konkreten Poesie, das ich vor genau 25 Jahren, 1954, in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichen konnte („Vom Vers zur Konstellation“) habe ich die „Konstellation“ wie folgt beschrieben: „Sie umfasst eine Gruppe von Worten – wie sie eine Gruppe von Sternen umfasst und zum Sternbild wird.“ Und zur Funktion der neuen Dichtung innerhalb der Gesellschaft heisst es da: „Der Beitrag der Dichtung wird sein die Konzentration, die Sparsamkeit und das Schweigen: Das Schweigen zeichnet die neue Dichtung gegenüber der individualistischen Dichtung aus. Dazu stützt sie sich auf das Wort.“ In späteren Manifesten tritt zur Beschreibung der „Konstellation“ und der Forderung nach dem Schweigen als Ausgangssituation schöpferischen Arbeitens immer mehr das Problem der Fläche und des Raumes auf allein schon deshalb, weil Sternbilder, Konstellationen aus Sternen wie aus Worten ihre Wirksamkeit dem weiten Raum verdanken. Pierre Garnier hat später in Frankreich die konkrete Poesie konsequenterweise sogar in den „Spatialisme“ übergeführt. Sein Manifest ist von fast allen Autoren der Fünfzigerjahre mitunterzeichnet worden.
Nicht zu verkennen ist auch, dass die konkrete Poesie ihre Absichten betont positivistisch, in der Stimmung optimistisch und den „dunklen“ Kräften, auch den emotionalen, abgewandt, vortrug. Es ging um die neue Dichtung einer neuen Welt. Der Begriff „Konstellation“ bezeichnet auf seine Weise, dass sich der Blick am Himmel orientieren wollte, dass das Sternbild vom Himmel auf die Erde heruntergeholt werden sollte.
Im Katalog zur Zero-Ausstellung in der Kestner-Gesellschaft Hannover im Jahr 1965 beschreibt Wieland Schmied den Begriff „Zero“: „Es blieb aber nicht bei dieser ‚punktuellen‘ Vorstellung von Zero als Augenblick des Starts oder als Nullpunkt. Schon bald sprachen sie von der ‚Zone Zero‘, und in dieser Zone der Einkehr, des Stillhaltens, des Überlegens hat auch sehr wohl die Null als Objekt der Meditation und Konzentration ihren Platz. Zero bedeutete für Mack, Piene, Uecker, Holweck, Goepfert eine unbesetzte Zone, einen noch nicht betretenen Raum, einen Bereich, noch nicht von Vorstellungen, Theorien und misslungenen Realisationen okkupiert, ein Bereich, aus dem heraus noch alles möglich ist, aus dem heraus sich beginnen lässt ohne Voraussetzung, ohne belastendes Erbe, ohne Fessel des Vergangenen.“
Die Vorstellung eines noch nicht betretenen Raumes, einer Zone der Einkehr, des Stillhaltens oder die Vorstellung der Null als Objekt der Meditation und Konzentration – sie hätte ebensogut zu den Vorstellungen der frühen konkreten Poeten gehören können. Es ist derselbe Ausgangspunkt, der sich mit den Begriffen „Konzentration“, „Schweigen“, „Raum“ immer wieder von beiden Seiten identifizieren lässt. Es sind die Begriffe der ersten Phase, in der die Entscheidung für ein neues, reines Weltbild fällt. Aber nicht nur im grossräumigen Denken bestand Verwandtschaft. Zero war früh für „Nuancen“ – im Gegensatz zu „Geschrei“ und „Höchstaufwand an körperlichem Einsatz“ (Otto Piene). Uecker schreib 1960: „Der Wind ist die Schönheit des Eises, wie die Sonne fliegt, ich fliege, es geht durch mich hindurch, wie es durch etwas und nichts geht, es hat sich und mich verwandelt. Es ist der neue Blick für die elementaren Kräfte, ja für eine zentrale Kraft, für das unmittelbare Erlebnis. In meinen frühesten Konstellationen spielten ebenfalls das Fliegen und der Wind und der Baum eine entscheidende Rolle.“
Uecker hielt 1961 einen „Vortrag über Weiss“, der in Wahrheit ein Hohelied der weissen Welt ist:
„Um auf meine Arbeit zu kommen“, – sagte er am Schluss – „hier sehen Sie ein leises Stakkato, eine lesbare Weisszone, die in ihrer Freiheit unsere sensibelste Regung erweckt, die uns eine neue Welt der kleinen Nuancen, der Stille, abseits allen Geschreies vermittelt.“
Unnötig auf Parallelen bei der konkreten Poesie zu verweisen, in der Ideogramme das Schweigen darzustellen versuchen, bzw. das Schweigen provozieren sollen. Und gleichfalls ist das Weiss die grosse anregende Situation bei den konkreten Poeten. Das leere Blatt ist für den Dichter das weisse Feld, auf dem jedes kleine Zeichen, jedes einzelne Wort zu einer vollen Grösse wird, Beachtung erheischt, eine Tat ist.
Doch haben Zero wie konkrete Poesie auch zahlreiche Wege der Gestaltung aufgezeigt. Leider ist man im Falle der konkreten Poesie von der Kunstkritik noch immer nicht darauf gekommen, dass die minimalen positiven Gestaltungen – Dieter Rot war auch hierin ein grosser Anreger – unbedingt Vorläufer der späteren Minimal Art waren. Zero hat bekanntlich Bahnbrechendes geleistet in der Erkenntnis der künstlerischen Struktur. Uecker: „In eine neue Realität führt uns die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Strukturen“. – „Meine Weissstrukturen, die ich bewusst Objekte nenne, da sie sich von der bildhaften Projektion auf eine Leinwand unterscheiden, baute ich mit vorfabrizierten Elementen, wie Nägeln. Im Anfang benutzte ich streng gereihte Rhythmen, mathematische Folgen, die sich später auflösten in einen freien Rhythmus.“ Was Uecker mit den Nägeln erreichte, gestalteten konkrete Poeten mit Buchstabengruppen, Wörtern. Die Übereinstimmung erreicht nochmals einen Höhepunkt, wenn Uecker feststellte: „Gegenwärtige Strukturmittel können als Sprache unserer geistigen Existenz verstanden werden.“
Dann aber wird auch deutlich, dass sich die Gestaltungsmöglichkeiten unterscheiden. Ein wichtiger Begriff für Zero war die „Vibration“ und „Schwingung“. „Mir geht es darum“, sagte Uecker, „mit diesen Mitteln in ihrem geordneten Verhältnis zueinander eine Schwingung zu erreichen, die ihre geometrische Ordnung stört und sie zu irritieren vermag.“ Auch die Gedichte der konkreten Poesie gerieten in der zweiten Phase in Bewegung. Aus den Kristallen der Frühphase wurden ebenfalls irritierende Strukturen. Der Unterschied zu den Gestaltungsmitteln von Zero war allein der, dass alle sprachlichen Mittel nie und nimmer nur Gestalten, Hüllen sein konnten und sich eben immer wieder auch als semantische Mittel erwiesen, was freilich wiederum ganz andersartige Irritationen ermöglichte. Viele Texte von Ernst Jandl beruhen auf Irritationen solcher Art.
Es könnte heute, wo man so gerne Rückschau hält, die Erkenntnis geweckt werden, dass die beiden Bewegungen – die eigentlichen avantgardistischen Bewegungen der Nachkriegszeit – zum Teil sicherlich ausgezeichnet ihre Rolle in den Fünfziger- und Sechzigerjahren spielten, dass aber ihre gestalterischen wie psychologischen Potenziale weit über eine historische Stilzugehörigkeit hinausgeführt haben. Im Sinne der konkreten Poesie dichterisch gestalten heisst, mit den Elementen der Sprache, d.h. der Schrift wie des Sprechens, arbeiten, sie als Elemente der geistigen existenziellen Auseinandersetzung positiv in der grossen offenen Struktur einzusetzen. Und die Zero-Texte von Piene, Mack und Uecker – wer möchte behaupten, dass sie in ihrer intelligenten Auseinandersetzung mit dem elementaren Lebensgefühl, ja eben: und auch mit der grossen, offenen Struktur, allein historisch zu fixieren wären? Beide Bewegungen sind erkenntnismässig noch nicht ausgeschöpft.
Nachdruck aus „ZERO. Bildvorstellung einer europäischen Avantgarde 1958-1964“, hrsg. von Ursula Perucchi-Petri, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich 1979, S. 37-39.
Endnotes
D Diagramm
ZERO's Diagramme
Astrit Schmidt-Burkhardt
Am 26. September 1964 wurde in Antwerpen die Ausstellung Integratie 64 eröffnet. Organisiert hatten sie der belgische Künstler Jef Verheyen (1932-1984) und der Schriftsteller Paul de Vree (1909-1982). Letzterer war zudem in der Außenkommunikation des Projekts federführend. In seinem kurzen Einführungstext hob de Vree die Notwendigkeit hervor, Architektur, Kunst und Technologie zu einer „universalen Einheit“ zusammenzuführen, nachdem die Industrie und mit ihr die Technologie auf der gesellschaftlichen Ebene neue soziale Strukturen geschaffen hätten, die nach einer innovativen Einheit verlangten. Statt von Kunstwerken im herkömmlichen Sinn zu sprechen, schwebten de Vree künstlerische Prototypen vor, die an der Gestaltung der Zukunft mitwirken sollten. Statt die eigene Realität kritisch zu hinterfragen, wurden die Kunstschaffenden angehalten, an einer „neuen Realität“ mitzuwirken. Denn: Seit dem 19. Jahrhundert seien Architekten, bildende Künstler und Musiker damit beschäftigt gewesen, Massenkultur und technische Innovationen in Einklang zu bringen. Nun aber gelte es, moderne Materialien experimentell auf ihre Anwendbarkeit hin zu prüfen und mit ihnen in neue ästhetische Dimensionen vorzudringen. Von derart grundlegenden Veränderungen, so de Vrees zukunftsoptimistische Überzeugung, würden schließlich alle zivilisatorischen Bereiche erfasst werden.[i]
[i] Vgl. Paul de Vree, „Integration 64“, in: Plan 1, 15. Oktober 1964, S. 5.
Parallel zur Schreibarbeit hatte de Vree seine Leitideen in einem Diagramm zum Ausdruck gebracht. Integratie wiegt an Anschaulichkeit auf, was seine holprig auf Deutsch formulierte Einführung zu Integratie 64 an Klarheit vermissen ließ. Die programmatische Bedeutung, die de Vree seiner Schemazeichnung beimaß, lässt sich daran erkennen, dass er sie zeitnah zur Ausstellungseröffnung in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift De Tafelrondeabgebildet hat. Mag die Originalzeichnung inzwischen verloren gegangen sein, ihre Veröffentlichung qualifizierte sie zum bleibenden Dokument einer kultursoziologisch geprägten Theoriebildung, die de Vrees Leitartikel „Integratie“ vorangestellt ist.[i]
[i] Vgl. ders., „Integratie“, in: De Tafelronde, 10. Jg., Nr. 1, 1964, S. 3‒10.
Denkt man sich das Queroval in de Vrees Schaubild als geschlossenen Kosmos des Kunstgeschehens, dann wird er von zwei Parametern bestimmt, die von der Peripherie aus ins Zentrum einwirken: die „sociale omwereld“ (gesellschaftliches Umfeld) oben und die „technische omwereld“ (technisches Umfeld). In diesen Hemisphären stehen sich mit „massa“ und „machine“ zwei Kategorien dialektisch gegenüber, getrennt von einem Zeitstrahl, der ohne eine einzige Jahresangabe durch die gesamte Breite des ellipsenförmigen Raums verläuft. Auf dieser Achse hat de Vree markante Etappen der Kunstentwicklung notiert: Beginnend mit dem „klassicisme“ und „impressionisme“, zwei in optischen Angelegenheiten („optiek“) konträre Stilrichtungen des 19. Jahrhunderts, die sich ganz links, gleichsam auf exterritorialem Gebiet, in jedem Fall außerhalb der Kunstwelt des 20. Jahrhunderts befinden. Die Entwicklungsschritte verlaufen – der Leserichtung folgend ‒ vom Klassizismus und Impressionismus über den „kubisme“ und „dada“ bis zum „nieuw realisme“. Oder allgemeiner formuliert: von der Tafelmalerei des 19. Jahrhunderts in linear-progressiver Abfolge zur künstlerischen Gestaltung des menschlichen Lebensraumes nach dem Zweiten Weltkrieg. Parallel versetzt und der „sociale omwereld“ zugeordnet, führt ein weiterer Entwicklungsstrang vom „fauvisme“ bzw. „expressionisme“ zur „nieuwe figuratie“.
De Vree zeichnete ein Bild des europäischen Kunstgeschehens, in dem ältere Modelle nachwirken. Man muss keine 30 Jahre zurückgehen, um in Alfred H. Barrs (1902-1981) Diagram of Stylistic Evolution from 1890 until 1935,1936, das Leitmotiv der Binarität wiederzuerkennen.[i] Freilich hat dieser Vergleich seine Tücken. Im Flussdiagramm von Barr driftet die abstrakte Kunst in dichotomer Zweiteilung in eine nicht geometrische und eine geometrische Richtung auseinander. De Vree charakterisiert diese Entwicklung zwar ebenfalls in immer neuen Aufspaltungsprozessen: So gehen in Integratie etwa aus dem „kubisme“ mit „surrealisme“ und „konstruktivisme“ zeitparallel zwei konträre Avantgarderichtungen hervor ‒ vermittelt sowie beeinflusst durch „dada“ ‒ und repräsentieren so exemplarisch die von „Subjektivismus“ bzw. „Objektivismus“ durchzogenen Hemisphären. Jedoch anders als Barr operiert de Vree mit Temperaturangaben: mit der „warmen“ Strömung des „informeel“ und der „kalten“ des Geometrischen.[ii] In dieser Binnenwelt des Ästhetischen führt auf Äquatorhöhe die thermodynamisch aufgeheizte Avantgarde zu immer weiteren Schismen: zu „experimenteel“ und zu „lyrisch abstrakt“, alles kunstimmanente Eigenschaften, die sich bis zur „pop’art“ und „op’art“ weiterverfolgen lassen.
[i] Michel Seuphor gehörte als Verächter der Figuration zu den Ersten, die das Barr-Chart umfassend würdigten: Er nahm es in sein grundlegendes und wiederholt aufgelegtes Buch L’Art abstrait. Ses origines, ses premiers maîtres,1949, auf, und trug damit zur Verbreitung der binären Geschichtskonstruktion bei.
[ii] Germano Celant sollte später ‒ unter Rückgriff auf Marshall McLuhans Terminologie ‒ vom Übergang eines „warmen“ Informel (Jackson Pollock, Willem de Kooning, Franz Kline, Hans Hoffmann, Mark Rothko, Jean Fautrier, Alberto Burri, Jean Dubuffet, Georges Mathieu) zum „kalten“ Informel (Neodada, Nouveau Réalisme, Fluxus, Happening, Gruppe ZERO, Concept-Art) sprechen. Vgl. ders., o. T., in: Piero Manzoni 1933‒1963, Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, Kunsthalle Tübingen, übers. von Michael Obermayer, München 1973, S. 4‒9, hier S. 4.
Wie vor ihm Barr bemühte de Vree dialektische Extreme, die in der Tradition des polarisierenden Argumentierens stehen, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Er überführt die ästhetischen Gegensätze, die Pop-Art und Op-Art bilden, in eine übergeordnete Einheit. Unter dem in Fettschrift hervorgehobenen Großbegriff „integratie“ wird zusammengefasst, was im Kern zwar nicht zusammengehört, aber zukunftsweisend als symbiotisch und progressiv wirksam gedacht wird – mit der Faszination für technische Errungenschaften und mit ihnen verbundene Expansionsmöglichkeiten. So nimmt die mit gestrichelter Linie als aufnahmefähig charakterisierte Keimzelle „integratie“ konträre Tendenzen in sich auf und strebt ‒ programmatisch aufgeladen, wie sie ist ‒ nach Verselbständigung jenseits alter Rahmenbedingungen einer neuen Ära zu.
De Vree zeichnete in seinem Diagramm gleichsam die großen, um nicht zu sagen groben Linien ästhetischer Entwicklungen des 20. Jahrhunderts im Spannungsfeld von „Massengesellschaft“ und „Maschine“ auf, um mit „Integration“ eine produktiv erhoffte Zukunftsperspektive zu entwickeln. So entstand ein Theoriebild, das einen Eindruck von der vorherrschenden Aufbruchsstimmung in den 1960er Jahren vermittelt, zu der nicht zuletzt die „zero beweging“ beigetragen hatte, die bei de Vree der Op-Art zugeordnet ist.[i] Unter welchen konzeptuellen Voraussetzungen die ZERO-Bewegung angetreten war, welche bildnerischen Leitideen sie verfolgte, wer sich mit ihr assoziierte, kurz: Worin ihre Quintessenz besteht, darüber gibt Integratie allerdings keine Auskunft. Es war Heinz Mack (*1931), der diese Informationen anhand von drei Schaubildern nachreichen sollte.
[i] ZERO im engeren Sinne, das waren Heinz Mack, Otto Piene und ab 1961 Günther Uecker. Gemeinsam waren die Düsseldorfer Protagonisten ‒ neben 16 weiteren Künstlern und Künstlerinnen ‒ in der eingangs erwähnten Ausstellung Integratie 64 mit Werken vertreten.
Mehr zu Diagramm
1966 war Mack nach einem zweijährigen Aufenthalt in New York nach Deutschland zurückgekehrt ‒ und orientierte sich künstlerisch neu. Die Anregung, die dreiköpfige Zero-Assoziation – bestehend aus ihm, Otto Piene (1928-2014) und Günther Uecker (*1930) – noch im gleichen Jahr aufzulösen, ging von ihm aus. Die Zeit war reif für ein Resümee. Mit Zéro ‒ mögliche Konzeptionen[i], so die konjunktivische Themenstellung, entwarf Mack ein Schaubild, das im Rückblick ZEROs ästhetisches Programm zusammenfasst. Im Moment des einvernehmlichen Auseinandergehens hält es fest, was die Düsseldorfer Gruppe ohne Gründungsveranstaltung, ohne Manifest und ohne Bindungspflicht acht Jahre lang ideell miteinander und mit anderen Künstlern verbunden hatte.
Mit dicken Pfeilzeichen und Farbstiften rekonstruierte Mack das Gedankenfundament, auf dem die Zero-Ideen gründeten. Dabei wurde hier (Kunst-)Theorie in ihrem ursprünglichen Sinne aufgefasst und gleichsam kantianisch gedacht. Sie erscheint in grafisch pointierter Weise dargestellt, die umgekehrt aus der Anschauung stets in Theorie umschlagen kann, deren kleinste Einheiten die Schlüsselbegriffe sind. Macks elaboriertes Text-Bild leistet beides: Es zerlegt die bildnerischen Vorstellungen in Begriffe, denen mit Skizzen wiederum zu bildlicher Gestalt verholfen wird. Entstanden ist so ein kunsttheoretisches Tableau, in dem die didaktischen Erfahrungen des ehemaligen Kunsterziehers nachwirken, einem Brotberuf mit Beamtenstatus, den Mack parallel zur künstlerischen Tätigkeit noch bis 1964 ausgeübt hatte. Als Inspirationsquelle diente das von ihm und Piene herausgegebene Katalog-Magazin ZERO(1958‒61).
[i] Heinz Mack, Zéro ‒ mögliche Konzeptionen, 1966, Filzstift, Buntstift, Bleistift, Kugelschreiber, Tusche und Collage auf weißem Papier, montiert auf schwarzem Karton, 74,5 × 100 cm (Karton), 70,5 × 65 cm (Blatt), Archiv der ZERO foundation, Vorlass Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.IV.30.
Das titelgebende Motto der Übersicht Zéro ‒ mögliche Konzeptionen ist kompositorisch durch zwei schwarze Pfeile von der oberen rechten Ecke zur unteren Blatthälfte verspannt, das Schaubild mit dem waagerecht gezogenen blauen Verbindungspfeil inhaltlich zweigeteilt. Die obere Hälfte, in fünf Kolumnen strukturiert, wird am besten von links nach rechts und von oben nach unten gelesen. Das zentrale Anliegen der in drei Gruppen zusammengestellten Künstler wird durch je eine Schemazeichnung verdeutlicht: das Koordinatenkreuz, das Kreismodell und der horizontale Strich. Sie stehen für „Struktur“, „Zentralisation“ und „Linie(n)“, alles Leitbegriffe, die gemeinsame Schnittmengen bilden und auf formalen Kriterien beruhen: auf „Fläche“, „Punkt“ und „Linie“. Diese Begriffstriade hat in Wassily Kandinsky (1866-1944) einen ihrer maßgebenden Vordenker. Dessen Schrift Punkt und Linie zu Fläche, die zunächst als neunter Band der Reihe „Bauhaus-Bücher“ 1926 erschien, war in rascher Folge von 1955 bis 1963 in drei Neuauflagen gedruckt worden, die der ehemalige Bauhaus-Schüler Max Bill (1908-1994) besorgt hatte. Mit Kandinskys Plädoyer für eine abstrakte Formensprache war dem Buch eine rege Rezeption beschieden, die dem anhaltend großen Interesse ‒ zumal unter Künstler und Künstlerinnen ‒ an „Konkreter Kunst“ geschuldet war.[i]
Die aus den malerischen Elementen „Fläche“, „Punkt“ und „Linie“ mit einer geschweiften Klammer gezogene Schlussfolgerung lautete für ZERO: „Reduktion“. Gemeint war die „Aufhebung der Komplexität“, wie eine nachträglich mit Bleistift eingefügte Ergänzung präzisiert. Damit einher geht die „Tendenz zur Minimal Art“, die Mack in den USA aus nächster Nähe hatte verfolgen können. Was mit der typografischen Klammer nicht zur Sprache kommt, ist die implizite Stoßrichtung der Begriffe: das Informel und der Tachismus, kurz Expressionismen jeglicher Couleur, mit denen die drei „ZEROisten“ in ihren künstlerischen Anfängen zwar experimentiert hatten, von denen sie sich dann aber durch die formale Reduktion befreiten.
[i] Am Beginn der von Max Bill initiierten Ausstellung Konkrete Kunst stand darum auch Kandinsky. Vgl. Konkrete Kunst. 50 Jahre Entwicklung, Ausst.-Kat. Helmhaus Zürich, hrsg. von Zürcher Kunstgesellschaft, Verwaltungsabteilung des Stadtpräsidenten, Zürich 1960, S. 9 f.
Auf halber Höhe des Blattes rücken ‒ von einem nachträglich aufgeklebten kurzen schwarzen Pfeil nach rechts angeschoben ‒ Veranstaltungen mit performativem Charakter ins Blickfeld: „Aktionen“, „Demonstrationen“, „Manifestationen“ und „Koloboration“ [sic].[i] Der gemeinsame Nenner dieser Werkgruppen: die künstlerischen Handlungsmöglichkeiten auszuweiten, verbunden mit dem Ansinnen, als „Team erhöhte Aufmerksamkeit“ in der Öffentlichkeit zu generieren. Die damit einhergehenden Gefahrenpotenziale unterschlägt Mack indes nicht: reine „Provokation“ und der Rückfall in „Ideologien“. Angespielt wird damit ‒ in geflissentlicher Abgrenzung ‒ etwa auf die Vereinnahmung der Kunst durch den Nationalsozialismus, womit sich nicht zuletzt ZEROs ästhetisch orientierte Allianzen ohne jegliches politische Anliegen erklären.
In vier eingerahmten Begriffskästchen stehen sich die bildnerischen Leitideen in den für ZERO charakteristischen Nichtfarben Weiß, Schwarz und Grau gegenüber. Streng dialektisch denkt Mack beim „Schatten“ das „Licht“, bei „Stille“ die „Bewegung“, bei „Monochrom“ das (Farben)„Spektrum“ und bei „Space Art“ die „Landart“ [sic] immer mit, um sie mit zentralen Theoremen (z. B. „Vibration“, „Achrom“) zu unterfüttern, alles Programmwörter einer „postkoloristischen Malerei“ (Robert Fleck). Zwischen diesen Themensetzungen stellen rote Pfeile Querverbindungen her oder verweisen auf die aktionistischen Großbegriffe darüber. In diesem gerichteten Bezugssystem sind mit „Happening“ auf der einen und der „Landart“ auf der anderen Seite künstlerische Richtungen erfasst, von denen die Düsseldorfer ZEROisten wesentliche Impulse aufgegriffen haben, um eigene ästhetische Setzungen vorzunehmen.
[i] Zu ZEROs Aktionen in Abgrenzung zum Happening und zu Fluxus-Events vgl. Malte Feiler, „Aktionen bei ZERO ‒ Happenings?“, in: Zero-Studien. Aufsätze zur Düsseldorfer Gruppe Zero und ihrem Umkreis, hrsg. von Klaus Gereon Beuckers, (Karlsruher Schriften zur Kunstgeschichte, Bd.2), Münster 1997, S. 135-148.
Augenscheinlich hat Mack sein informationsdichtes Diagramm deszendierend wie einen Text entwickelt, wodurch sich zumindest das rückseitig zum Hochformat hinzugeklebte Blatt im unteren Drittel erklären ließe und die ‒ nach Ablösung des durchsichtigen Klebebandes ‒ notwendige Stabilisierung der gesamten Komposition auf einem Karton. Durch die Ergänzung des zweiten Papiers war ausreichend Platz geschaffen, um noch einen anderen konzeptuellen Aspekt von ZERO hinzuzufügen: der konsequente Einsatz neuer Materialien, allen voran die vier Elemente „Feuer“, „Luft“, „Wasser“ und „Erde“, denen wiederum einzelne Künstler zugeordnet sind.
Mit dem Hinweis auf den dreidimensionalen „Raum“ am unteren Blattrand wird eine Kategorie aufgerufen, die sich topografisch nicht fassen lässt. Zwischen „endlich“ und „unendlich“ angesiedelt, kann der Maßstab vom Punkt bis zum Kosmos variieren. ZERO suchte den offenen, unberührten Raum jenseits der Museumsmauern. Dessen Dimension war das Licht. Fontänenartig greift es über der ikonischen Bildformel mit ihren drei Koordinaten zu den in den Rubriken „Luft“, „Wasser“ und „Erde“ aufgelisteten Künstlern aus, gemäß Macks Devise:
„Ohne Licht ist die Materie nicht sichtbar, und ohne Raum ist die Materie nicht existent.“[i]
[i] Zit. n. Daniel Birnbaum, Hans-Ulrich Obrist im Gespräch mit Heinz Mack, „Das Einfache ist das Komplexe“, in: Heinz Mack. Licht ‒ Raum ‒ Farbe / Light ‒ Space ‒ Colour, Ausst.-Kat. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Köln 2011, S. 10‒29, hier S. 12.
Das avantgardistische Expansionsstreben in die unendliche Tiefe des Himmels, in die immense Ausdehnung des Meeres oder in die monochrome Weite der Wüste wird am unteren Blattrand durch geografische Ortsangaben wieder in die menschliche Zivilisation zurückgeführt: An den weit auseinanderliegenden Städten wie „New York“, „London“, „Düsseldorf“, „Milano“, „Paris“, „Amsterdam“ und „Eindhoven“ mag man die Zentrifugalkräfte der ZERO-Bewegung ermessen.
Macks Farbkodierung folgt klaren Zuordnungen, die sich ‒ Ausnahmen eingeschlossen ‒ folgendermaßen darstellen: Raumbezogene Begriffe sind blau, aktionistische Programmwörter grün und prägende Gestaltungsideen sind in Schwarz geschrieben. Räumliche Verhältnisse sowie thematische Zusammenhänge werden durch rote Pfeile angezeigt. Immer wieder griff Mack zur feinen Feder, um kurze Erläuterungen zu den Großbegriffen in schöner gleichmäßiger Handschrift hinzuzufügen. Auf diese Weise werden Begriffe aufeinander bezogen, die in ZEROs Kunstansatz entsprechende Schlüsselrollen spielen. Die Textblase „Ruhe der Unruhe“ am oberen Rand liefert einen ersten Hinweis. Die paradox klingende Formulierung geht auf einen gleichnamigen Text zurück, in dem Mack 1958 die künstlerische Entfaltungstendenz beschreibt:
Die hier anklingende Entwicklungsrichtung verläuft in Zéro ‒ mögliche Konzeptionen progressiv von der flächenverhafteten Elementarlehre zu raumbestimmenden Gestaltungsfragen.
Indem Mack die konzeptuellen Ansätze von ZERO und dessen Mitstreitern unter wechselnden Gesichtspunkten zusammenstellte und ordnete, ging er über die ästhetischen Gemeinsamkeiten einer ganzen Künstlergeneration hinweg, um in immer wieder neuen Namenslisten zu differenzieren. Was diese knapp zwei Dutzend angeführten Künstler (und es waren ausschließlich Männer) aus neun Ländern tatsächlich miteinander einte, war das Selbstbehauptungsstreben, das sie mit allen Avantgardebewegungen teilen. Sieht man sich die mit dünnem Strich eingefassten Zusammenstellungen der Namen genauer an, dann wird klar: Mack, Piene und Uecker standen von Anfang an mit zahlreichen Künstlern in Kontakt, und dies bis weit über die deutschen Landesgrenzen hinaus. Das Stichwort „Koloboration“ [sic] als Synonym für „Team-Work“ und „Gruppenbewegung“ ist hierfür signifikant. Denn die Vorzüge kollektiver Vorgehensweise wurden von den Düsseldorfern schnell erkannt. War ZERO also ein Metakollektiv, das sich unter der Sammelbezeichnung „zero beweging“ fassen lässt, wie de Vree insinuiert hat? Oder doch eher eine „Gruppe von Gruppen“, wie es Piene einmal formulierte?[i] Macks zweites Diagramm gibt darauf eine Antwort.
[i] Otto Piene, „ZERO Retrospektive“, in: ZERO aus Deutschland 1957‒1966. Und heute / ZERO out of Germany. 1957‒1966. And Today, hrsg. von Renate Wiehager, Ausst.-Kat. Galerie der Stadt/Villa Merkel, Esslingen, Ostfildern-Ruit 2000, S. 37.
Der Entstehungshintergrund des Schaubilds Radius Zero[i], ca. 1970, ist schnell benannt. 1970 wurde Mack ‒ zusammen mit Uecker ‒ eingeladen, um an der Vorbereitung einer Ausstellung zum Thema „Radius ZERO“ mitzuwirken. Den Anstoß dazu hatte Alexander Schleber gegeben, der als Leiter des Phaidon Verlags in Köln den Direktor der Kunsthalle Düsseldorf Karl Ruhrberg (1924-2006) für dieses Projekt gewinnen konnte, das er mit einer Publikation begleiten wollte. Die für das Frühjahr 1973 anberaumte Ausstellung scheiterte schlussendlich aus organisatorischen sowie finanziellen Gründen. Was blieb, sind Planungsunterlagen ‒ und ein Diagramm Macks, das als Grundlage für die Gestaltung des Ausstellungsplakates hätte dienen sollen.[ii]
Mit Schlebers Themenstellung im Fokus griff Mack zum Großfolioblatt und skizzierte mit Filzstiften und Kugelschreiber ein umfassendes Bild der Reichweite ZEROs. Erklärtermaßen half ihm die zeitliche Distanz zu den Ereignissen, einen größeren „Zusammenhang“ all jener wechselwirksamen Aktivitäten zu erkennen, die „direkt“ oder „indirekt“ mit dem Düsseldorfer Dreiergestirn zusammenhingen.[iii] In Macks analytischer Betrachtungsweise zerfällt die ZERO-Bewegung in einzelne Kollektive.
[i] Heinz Mack, Radius Zero, ca. 1970, Filzstift und Kugelschreiber auf Papier, montiert auf grauem Karton, 53 × 69 cm (Karton), 50 × 65 cm (Blatt), Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.IV.25.
[ii] Vgl. Anette Kuhn, Zero. Eine Avantgarde der sechziger Jahre, Frankfurt a. M., Berlin 1991, S. 57 f., 241 f., Anm. 240; dies., „Zero im Kontext der europäischen Avantgarde“, in: Zero – Eine europäische Avantgarde, hrsg. von ders., Ausst.-Kat. Galerie Neher, Essen, Galerie Heseler, München, Mittelrhein-Museum, Koblenz, Oberhausen 1992, S. 10‒23, hier S. 11 f.
[iii] Vgl. Birnbaum, Obrist, Mack (wie Anm. 9), S. 18; Valerie L. Hillings, „Die Geografie der Zusammenarbeit. Zero, Nouvelle Tendance und das Gruppenphänomen der Nachkriegszeit“, in: Zero ‒ Internationale Künstler-Avantgarde der 50er/60er Jahre, Ausst.-Kat. Museum Kunstpalast, Düsseldorf, Musée d’art moderne et contemporain, Saint-Etienne, Ostfildern 2006, S. 74‒84, hier S. 76.
Entstanden ist ein topologisches Blockmodell mit drei vertikalen Formationen aus einem guten Dutzend gleichgesinnter Gruppierungen. Die räumliche Nähe dieser Gruppen auf dem Blatt erzeugt so etwas wie Struktur, auch wenn deren Anordnung keinen dezidiert nationalen respektive geografischen Parametern folgt. Zunächst notierte Mack die einzelnen Kollektive, um sie dann mit den Namen ihrer Vertreter und Vertreterinnen, mit Ortsangaben oder Gründungsdaten zu versehen. Um diese verschiedenen Künstlerkreise besser auseinanderzuhalten, zog Mack mit schnellem Strich Ovalformen um sie. Dabei tritt die von ZERO typografisch zelebrierte Rundzahl „0“ ‒ in die Horizontale gekippt ‒ in neuer Gestaltvariante auf. Und wie immer in der Geschichte der Zeichen verschiebt sich mit der Transformation gleichsam die Semantik. So lassen sich nun die Querovale als Keimzellen avantgardistischer Bestrebungen verstehen.
Durch nachträgliche Faltung, einmal horizontal und einmal vertikal, hat sich dem Papier diskret ein rechtwinkliges Achsenkreuz eingeschrieben, das die Fläche in vier gleichmäßige Rechtecke teilt. Leicht aus dem Koordinatennullpunkt im linken oberen Quadranten positioniert, bildet „Zero“ in Düsseldorf mit seinen drei Protagonisten den kompositorischen Mittelpunkt von Radius Zero. Auf der chronologisch ausgerichteten Mittelachse präsentiert sich „Zero“ sogar als ideelles Zentrum in Raum und Zeit: zwischen konstruktivistisch inspirierter Theorie ganz oben ‒ dem „Unismus“ Władysław Strzemińskis (1893-1952) und der „Mechano Faktura“ von Henryk Berlewi (1894-1967) („Berlevi“), beides Mitglieder der polnischen „Blok-Gruppe“ ‒ und dem „Neuen Realismus“ in Frankreich am unteren Ende der Mittelachse.Bekräftigt und bestätigt wird die von „Zero“ eingenommene Sonderstellung durch osmotischen Austausch mit geistesverwandten Kollektiven im benachbarten Ausland. Zwischen den dezentralen Kunstszenen schlagen Doppelpfeile immer wieder Brücken, markieren Verbindungen graduell abgestufter Affinitäten.
Ein kurzer schwarzer Doppelpfeil betont die engen Bande zum Mailänder Zirkel um die Zeitschrift Azimuth, deren erste Nummer im September 1959 herauskam. Im Dezember wurde die gleichnamige Galerie gegründet, die bis zur Schließung ein halbes Jahr später in Italien die wichtigste Plattform für Künstler und Künstlerinnen rund um Zero bilden sollte, auch die „Gruppo MID“ gehörte dazu. Die Gründungen der Mailänder „Gruppo T“ (Oktober 1959) und der „Gruppo N“ (eigentlich: enne) in Padua (November 1959) waren ebenfalls von Azimuth inspiriert. Beide Außenseiter hat Mack als Inselgruppe rechts der Hauptachse notiert.
Ein anderer kräftiger Doppelpfeil stellt die intensive Verbindung zur holländischen Gruppe „Nul“ her, hier in zwei Flügel getrennt.[i] Demgegenüber wurden mit violetten Umrisspfeilen gleich zwei wichtige Beziehungen zur französischen Kunstmetropole aufgenommen: einerseits zu „GRAV“ (Groupe de Recherche d’Art Visuel) und andererseits zum „Neuen Realismus“. Der Wirkungskreis, den Mack aufzeigt, ist auf Europa konzentriert. Hier entstand eine Art übergreifende Gruppenformation, gut zu erkennen an den mit Rot eingefassten Künstlerkreisen, die am Rhein, am Lambro und an der Amstel zuhause waren.
[i] Herman de Vries ‒ von Mack in Radius Zero noch als Einzelgänger charakterisiert ‒ wird aufgrund seiner vorwiegend publizistischen Tätigkeit späterhin von der kunstwissenschaftlichen Literatur zumeist nicht mehr der (Künstler-)Gruppe „Nul“ zugerechnet.
Gemessen an dem weit ausholenden Pfeilzeichen nach Fernost war der tatsächliche Aktionsradius von Zero deutlich kleiner als suggeriert. Zur japanischen „Gutai Gruppe“ am linken Blattrand pflegten die Düsseldorfer Künstler nur lose Kontakte. Noch schwieriger, da politisch brisanter und ästhetisch herausfordernder, gestaltete sich die Zusammenarbeit mit avantgardistischen Gruppierungen in Argentinien („Gruppo Arte Concreto“), Spanien („Equipo 57“, im Pariser Exil gegründet), der UdSSR („Gruppe Dvizdjenje“ [Bewegung]) und Jugoslawien („Nove Tendencije“), alles zeitparallele Erscheinungen jedoch ohne sichtliche Anbindung an „Zero“.[i]
[i] Zu den Gemeinschaftsarbeiten der von Mack angeführten Kollektive vgl. Nina Zimmer, SPUR und andere Künstlergruppen. Gemeinschaftsarbeit in der Kunst um 1960 zwischen Moskau und New York, Diss. Göttingen, Berlin 2002, S. 264‒293.
Was in Radius Zero zwar angelegt, aber nicht explizit zum Ausdruck kommt, ist der Nutzen der zunächst freundschaftlich geschlossenen Künstlerallianzen über Länder und Kontinente hinweg: die strategische Erweiterung der Einflusssphäre von Zero mit dem dezidierten Ziel, die eigene Internationalisierung voranzutreiben, Gruppenausstellung um Gruppenausstellung, Publikation um Publikation. Es wird sich zeigen, dass diese Bündnispolitik von wechselnden Interessen diktiert war, in denen sich das latent konkurrierende Verhältnis zusehends offenbarte.
Während die im Diagramm abgezirkelten Künstlergruppen sich partiell berühren, mitunter Schnittmengen bilden oder ansatzweise verketten, bilden sich mit dem dünnen zwischen „Zero“ und der „Gutai Gruppe“ gelegten Langpfeil räumliche Entfernung und innere Entfremdung ab. Die Fernbeziehung, die Zero zu dem 1954 in Osaka gegründeten Kollektiv unterhielt, basierte anfänglich auf dem gemeinsamen Interesse, nach dem Zweiten Weltkrieg einen künstlerischen Neubeginn zu initiieren. Doch weder transkontinental wirksame Bindungskräfte noch Macks Einschätzung waren von Dauer. Die Verbundenheit mit der japanischen Gruppe nahm mit der Zeit sogar ab, bis Mack sie in selbstreflexiver Distanznahme als „Parallelbewegung“ beschrieb, mit der Zero angesichts der „poetischen“ und „dadaistischen“ Objekte nichts (mehr) verband ‒ eine nachträgliche Korrektur, die eine andere Gemeinsamkeit völlig unterschlägt: die hier wie dort durchgeführten Space-Art-Aktionen.[i]Aus dem Diagramm selbst ist dies freilich so wenig ablesbar wie die späterhin konstatierten Unterschiede zu „Nul“, zu „GRAV“ oder „Nove Tendencije“.[ii]
In Radius Zero fand hingegen eine andere, an „artesischen Brunnen“ gemachte Beobachtung Macks ihren sichtlichen Niederschlag: Dass sich nämlich zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten ähnliche künstlerische Ideen manifestieren, die sich umstandslos dem Umkreis von „Zero“ zuordnen ließen.[iii]
[i] Vgl. Birnbaum, Obrist, Mack (wie Anm. 9), S. 19 f., 22.
[ii] Vgl. Hillings (wie Anm. 14), die ‒ teils unter Berufung auf Mack und Piene ‒ die Unterschiede zwischen den genannten Gruppen herausgearbeitet hat.
[iii] Vgl. Heinz Mack im Gespräch mit Stephan von Wiese, „ZERO e Azimuth. Un pozzo artesiano“, in: Zero. 1958‒1968 tra Germania e Italia, hrsg. von Marco Meneguzzo, Stephan von Wiese, Ausst.-Kat. Palazzo delle Papesse Centro Arte Contemporanea, Siena, Mailand 2004, S. 165 f.; „Christiane Hoffmans im Gespräch mit Heinz Mack”, in: Piene im Gespräch. Christiane Hoffmans in Gesprächen mit, hrsg. von Jürgen Wilhelm, München 2015, S. 79‒89, hier S. 83.
Um im Bild zu bleiben: Diese Gruppierungen, die wie Geysire vielerorts aus dem Boden schossen, verband eine „Art unterirdische Korrespondenz“.[i] Von daher wird verständlich, warum Mack nicht alle Künstlervereinigungen auf der Oberfläche seiner Zeichnung mit Pfeilen an „Zero“ binden musste. Von den dreizehn rund um „Zero“ angeordneten Gruppen waren die Düsseldorfer nur mit fünf direkt verknüpft. Dennoch: Wie kommunizierende Gefäße standen sie als transnational wechselnde Ausstellungsgemeinschaften in ständigem Austausch miteinander ‒ sei es in Briefen, in Telefonaten oder in persönlichen Gesprächen. Das diagrammatische Bild, das Mack zur Veranschaulichung dieser geistesverwandten Phänomene wählte, entstammte allerdings nicht der alten „aquatischen“ Symbolik, sondern einem modernen Netzwerkdenken.[ii]
[i] Hoffmans (wie Anm. 19), S. 83.
[ii] Vgl. Ulrich Pfisterer, Christine Tauber (Hrsg.), Einfluss, Strömung, Quelle. Aquatische Metaphern der Kunstgeschichte, Bielefeld 2018; Hartmut Böhme, „Einführung: Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion“, in: Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, hrsg. von Jürgen Barkhoff, dems., Jeanne Riou, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 17‒36.
Besonders deutlich tritt dieses multipolare Beziehungsgeflecht von gleichgesinnten Ideenträgern in einer anderen abstrakten Bildformel von Mack hervor, die ebenfalls als Plakatentwurf entstand. ZERO (Circles)[i], undatiert, ist eine Collage mit kreisrunden Versatzstücken aus Publikationen, ausgerichtet an der Achsensymmetrie, in Zeilen angeordnet und mit Doppelpfeilen engmaschig aufeinander bezogen. Die elf Scheiben ‒ optische Rotoren, Lichtreliefs, Texte und eine Schallfolie, alles Hinweise auf konkrete Arbeiten ‒ funktionieren gleichwohl nicht als Räderwerk.Der mit der Kunst verbundene Freiheitsanspruch von ZERO ließ sich ohnehin nicht mit einem mechanischen Getriebe veranschaulichen. Schon eher begriff sich ZERO als rotierende Kraft einer Bewegung, die 1962 in einer Berner Ausstellung 33 Künstler (rechts oben) auflisten konnte. Alle pfeilgeleiteten Verbindungen lenken direkt oder indirekt den Blick auf eine Telefonwählscheibe mittig am unteren Rand der Collage. Die Selbststilisierung als kommunikative Drehachse mit der Apparatrufnummer „Mack“ spricht für sich. In dem Bewusstsein, das Sprachrohr einer größeren Bewegung zu sein, versuchte ZERO, eine neue Zeit einzuläuten. Der abgebildete „ZERO-Wecker“[ii], 1961, schlägt die Stunde null. Später wird die Kunstgeschichte von der ersten deutschen Avantgardebewegung nach 1945 sprechen.[iii]
[i] Heinz Mack, ZERO (Circles), o. D. [nach 1963], Collage, Filzstift, Bleistift auf Karton, 74,5 × 100 cm, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.IV.31.
[ii] Das Objekt ZERO-Wecker von Heinz Mack, ca. 1961, 15 x 13 x 6 cm, Wecker mit Collage, befindet sich in der Sammlung der ZERO foundation, Inv. Nr. mkp.ZERO.2008.12.
[iii] Vgl. Kuhn 1991 (wie Anm. 13), S. 8; Renate Wiehager, „5-4-3-2-1-ZERO40. Countdown für eine neue Kunst in einer neuen Welt“, in: Günther Uecker. Die Aktionen, hrsg. von Klaus Gereon Beuckers, Petersberg 2004, S. 11‒38, hier S. 23.
Doch zurück zu Radius Zero: Die verschiedenen Künstlergruppierungen vertraten wenngleich nicht identische, wohl aber wahlverwandte Ideen; gemeinsam bezogen sie Position gegen die aktuelle Kunst. Für diese Art von Gesinnungsästhetik zirkuliert seit dem 19. Jahrhundert der metaphysische Begriff „Zeitgeist“. Mack sprach nüchtern-analytisch von „Ubiquität“ der Ereignisse.[i] Mit Blick auf sein Diagramm wird überdies klar: Den verschiedenen Künstlergruppierungen gelang es nicht, ihre Kräfte zu bündeln, um sich als international wirksame „Schule“ zu etablieren, und auch der Umstand, dass Mack, Piene und Uecker ab Dezember 1966 eigene Wege gingen, hatte darauf entscheidenden Einfluss.
[i] Vgl. Birnbaum, Obrist, Mack (wie Anm. 9), S. 18. ‒ Almir Mavignier machte dagegen aus seiner Verblüffung über dieses Phänomen keinen Hehl; vgl. ders., „Neue Tendenzen I. Ein überraschender Zufall“ (Original 1969), in: Tendencije 4 / Tendencies 4, Ausst.-Kat. Galerija Suvremene Umjetnosti, Zagreb [1968‒69], Zagreb 1970, o. S.
In der kritischen Rückschau, als der Höhepunkt der ZERO-Bewegung längst überschritten war, beschrieb Mack die Beziehungen der 14 Künstlergruppierungen untereinander als „Nachbarschaften“ ohne sichtliches Bedürfnis, die eigenen Grundstücksgrenzen überschreiten zu wollen.[i] Diese Metapher weckt Vorstellungen von ideellen Reichweiten und geistigem Eigentum. Letzteres wollte nicht mehr geteilt, sondern verteidigt werden. Die Gründe dafür sind in der unterschiedlichen DNA der Kollektive zu suchen. Jack Burnham (1931-2019) konnte daher zwei Blockbildungen im Umkreis von Zero unterscheiden: jene Künstlergruppen, die experimentelle Objektivität, Anonymität, Wahrnehmungspsychologie und Sozialismus bevorzugten (GRAV, die Gruppen T, N und MID sowie Equipo 47), und diejenigen, die verstärkt auf experimentelle Versuche („individual research“), Erkenntnis („recognition“), Poesie, Idealismus, Immaterialität, Leuchtkraft und Natur setzten (Zero, Nul und mit Yves Klein ein Teil der Neuen Realisten).[ii] So plausibel Burnhams paradigmatische Differenzierung auf den ersten Blick erscheinen mag, spiegelt sich darin doch die Blockbildung auf der politischen Weltbühne während der Zeit des Kalten Krieges wider, so wenig sich das anhand von Macks räumlicher Lagerbildung auch verifizieren lassen mag. Schließlich verschoben sich die Fraktionen zwischen 1957 und 1966 immer wieder. Die Bündnispolitik innerhalb der ZERO-Bewegung blieb stets unterschiedlichsten Eigeninteressen unterworfen. Sie war so wenig stabil wie die um Anerkennung rivalisierenden Kräfte auf dem weiten Feld der Avantgarde.
In ihrer künstlerischen Aufbruchsphase suchten die Düsseldorfer ZEROisten intensiven Kontakt zu anderen Gruppierungen als Bündnispartner zur Verbreitung, Etablierung respektive Durchsetzung der eigenen Position. Sie begrüßten die Beteiligung wichtiger Impulsgeber, etwa des gleichaltrigen Yves Klein (1928-1962) oder des Grand Seigneurs der Concetti spaziali Lucio Fontana (1899-1968), so wie sie umgekehrt mit zunehmendem Erfolg auf ästhetische Souveränität in der Außenwahrnehmung hinzuwirken suchten.
[i] So in einem Gespräch mit Anette Kuhn am 6. Februar 1992, vgl. Kuhn 1992 (wie Anm. 13), S. 12.
[ii] Vgl. Jack Burnham, Beyond Modern Sculpture. The Effects of Science and Technology on the Sculpture of this Century, New York 1969, S. 247.
Bezeichnend dafür war die Bestürzung der Düsseldorfer darüber, dass der Galerist Howard Wise (1903-1989) im November/Dezember 1964 ihre Werke zunächst in „enger Nachbarschaft“mit den einstigen Idolen präsentieren wollte.[i] Genealogische Kurzschlüsse nach dem Motto „aha, das sind die geistigen Väter“ sollten bei den US-amerikanischen Besuchern erst gar nicht aufkommen.[ii] Schließlich handelte es sich um die erste Einzelausstellung von Zero in New York.[iii] Für Beruhigung sorgte dann der Vorschlag, dass je ein Bild von Fontana und Klein ‒ beide Namen nennt Macks Diagramm ‒ im Büro des Galeristen aufgehängt werden könnten, so dass sich kein unmittelbarer Zusammenhang aufdrängte.[iv]
Diese Akzentverschiebung im Umgang mit geistesverwandten Mitstreitern lässt sich auch in Radius Zero ablesen. Ohne Anbindung sind in der Fußzeile die Pioniere aufgezählt – allen voran der schon erwähnte und in der Grafik in Rot herausgehobene Gründungsdirektor der Ulmer Hochschule für Gestaltung Max Bill. Die Einladung der ZEROisten zur Ausstellung Konkrete Kunst 1960 nach Zürich sollte ihm später das zwiespältige Lob eines „(zeitweisen) Förderers“ eintragen.[v] Neben Bill werden Fontana, Ad Reinhardt (1913-1967), Barnett Newman (1905-1970), Piero Dorazio (1927-2005) und Jesús Rafael Soto (1923-2005) genannt, alles Einzelgänger und für ZERO maßgebende Künstler, deren amikale Begegnungen für die Düsseldorfer von großer Bedeutung waren ‒ zumindest so lange, wie die eigene Karriere von ihnen nicht überschattet wurde.[vi]
[i] „Wir, d. h. Uecker u. ich, ‒ waren zien ziemlich erschrocken, zu hören, daß H.[oward] W.[ise] ein Bild von Fontana u. Yves in unsere Ausstellung hängen möchte.“ Heinz Mack in einem Brief an Otto Piene, 21. September 1964, 13Seiten, hier S. 12, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.1.2688_14 (Unterstreichungen im Original, die erste in Rot).
[ii] Mack (wie Anm. 28).
[iii] „Es ist doch unsere Ausstellung u. Fontana ist Fontana u. Yves ist Yves“. Mack (wie Anm. 28), S. 13, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.1.2688_15 (doppelte Unterstreichung im Original).
[iv] Vgl. Mack (wie Anm. 28).
[v] Vgl. Otto Piene, „ZERO 1989“, in: Gruppe Zero, hrsg. von Hubertus Schoeller, Ausst.-Kat. Galerie Schoeller, Düsseldorf 1988, S. 24‒27, hier S. 27; vgl. Konkrete Kunst (wie Anm. 7).
[vi] Heinz Mack, „Aus meinem Leben“ (2010), in: ders., Leben und Werk. Ein Buch vom Künstler über den Künstler /Life and Work. A Book from the Artist about the Artist. 1931‒2011, hrsg. von dems. und Ute Mack, Köln 2011, S. 8‒18, hier S. 12, 15; Mack zit. n. Birnbaum, Obrist, Mack (wie Anm. 9), S. 18 f.
Zwischen der polnischen Avantgarde der 1920er Jahre und der Konkreten Kunst US-amerikanischer Ausprägung behaupten Mack, Piene und Uecker in Radius Zero eine kunstgeschichtliche Schlüsselposition. Zur ganzen Wahrheit dieser (ambivalenten) Selbsthistorisierung gehört aber auch, dass Zero seine Impulse nicht von den angeführten Vorläufern empfangen haben will. Der Einspruch kam aus dem eigenen Lager. „Zero“ sei vital entstanden ‒ ohne Ahnenstolz wie historische Avantgarden.[i]
[i] Vgl. weiterführend Astrit Schmidt-Burkhardt, Stammbäume der Kunst. Zur Genealogie der Avantgarde, Berlin 2005.
Von Künstlern wie etwa Strzemiński hätten er und seine beiden Mitstreiter erst viel später durch die Pariser Galeristin Denise René erfahren, um einmal mehr in der Geschichte der Kunst das Gleichnis vom Phönix aus der (Nachkriegs)Asche zu beschwören.[i] Zeros „Wahlverwandtschaften“, so Piene nachdrücklich, seien ausschließlich persönliche Beziehungen gewesen; diese zeigten sich in ZERO-Veröffentlichungen, ZERO-Ausstellungen und ZERO-Aktionen.[ii]
[i] Historisch rückschauend stellt Mack Zero ungebrochen in die Tradition von Strzemiński; vgl. Hoffmans, Mack (wie Anm. 19), S. 86.
[ii] Vgl. Piene (wie Anm. 32), S. 24.
Es gibt Avantgardebewegungen, die ein diagrammatisches Bild ihrer selbst entwarfen, um sich von Anfang an ein Programm zu geben, und dann wiederum solche, die sich erst im Nachhinein der ästhetischen Prinzipien, ideologischen Grundierung und historischen Konstellationen vergewisserten, die ihren Erfolg begünstigt hatten. Zu Letzteren gehört ZERO. Rückschauend wie historisierend arbeitete Mack heraus, was die ZERO-Bewegung acht lange Jahre ideell verbunden hatte. Zwischen 19[63]/66 und 1970 entstanden, kam diesen Diagrammen lange Zeit nicht der Status von eigenständigen Werken zu, obwohl sie sich teils durch Signatur und Datierung durchaus als autonom zu erkennen gaben. Symptomatisch dafür ist, dass die Diagramme in der von den beiden Galeristen Otmar Neher und Walter Heseler organisierten Ausstellung nicht den Arbeiten zugerechnet wurden, die 1992 zum Verkauf standen. Mehr noch: Im Katalog kamen sie erst gar nicht vor.[i] Mit der Durchsetzung des „diagrammatic turn“ in der Kunstwissenschaft nach der Jahrtausendwende sollte sich diese Einstellung grundlegend ändern.[ii] Im Zuge einer Neubewertung von Schaubildern als ästhetische Artefakte werden Macks Diagramme nun nicht mehr länger als kunstlose Veranschaulichungen abstrakter Tatsachen respektive Zusammenhänge wahrgenommen. Im Gegenteil: Grafische Repräsentationen bilden als repräsentative Tableaus nun eine eigene Gattung in der Kunstgeschichte ‒ und mithin auch im Œuvre von Heinz Mack.
[i] Vgl. Zero – Eine europäische Avantgarde (wie Anm. 13).
[ii] Vgl. Astrit Schmidt-Burkhardt, Die Kunst der Diagrammatik: Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas, 2., erw. Aufl., Bielefeld 2017, S. 25‒28.
Endnotes
E Experiment
Regina Wyrwoll befragt Andreas Joh. Wiesand
Regina Wyrwoll Andreas Joh. Wiesand
„Künstler sind besonders neugierig“ Otto Piene[i]
[i] Helga Meister, ZERO in der Düsseldorfer Szene. Piene Uecker Mack, Düsseldorf 2006, S. 35.
Unser Beitrag, eine Art Frage- und Antwortspiel, könnte im ZERO-ABC selbst als eine Art Experiment wahrgenommen werden, wird er doch weitgehend ohne kunsthistorische Werkanalysen auskommen. Wie gleich zu sehen, wäre das aber vielleicht in Kauf zu nehmen, weil aus Experimenten nicht zwingend Ergebnisse für die Ewigkeit zu erwarten sind, wohl aber oft spannende Diskurse.
Regina Wyrwoll: Experimente in der Kunst: Sind sie die notwendige Voraussetzung, damit Neues entstehen kann?
Andreas Joh. Wiesand: Kunst und Literatur sind auf Veränderung angewiesen, zu denen Experimente beitragen können. Anders als beim regelbasierten wissenschaftlichen Experimentieren können diese Versuche Regelverstöße beinhalten, und gelegentlich müssen sie das sogar. Der Philosoph Otto Neumaier drückt es so aus: „Kunst ist auf ein Erweitern des Regelgebrauchs, auf ein Verändern der Regeln aus; so gehören zum Beispiel auch Werke der Dichtung jeweils zu einer Sprache, aber es wäre tödlich für sie, würde sich ihr Sprachgebrauch weitgehend mit jenem einer Alltagskommunikation decken.“[i]
Dass gerade bildende Künstler und Künstlerinnen mit den von ihnen verwendeten Techniken, Farben und anderen Materialien experimentieren, ist bekannt, spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Nicht alle solche Experimente führten dann allerdings zu den erhofften Ergebnissen oder wurden gar zu konstitutiven Elementen einer neuen künstlerischen „Bewegung“, als die ZERO heute teilweise benannt wird. Heinz Mack (*1931) ist dafür ein gutes Beispiel, denn vor der Abwendung vom Informel und Tachismus hatte er, wie er selbst schreibt, „[…] eine Zeitlang tachistisch gemalt, mein Atelier sah aus wie ein Schweinestall. Alle meine Experimente versetzten mich in eine unsichere Lage“, erinnert er sich, und diese Erfahrung führte dann zum Entschluss eines radikalen Neubeginns und dem Versuch „etwas zu schaffen das ganz einfach ist, so einfach wie möglich“.[ii]
Experimente liefern also nicht zwingend das ganz Neue, sind eher ein ergebnisoffener Bestandteil künstlerischer Arbeitsprozesse. John Coltrane, Jazz-Legende der 1950er und 1960er Jahre, drückte es so aus: „I’ve got to keep experimenting. I feel that I’m just beginning. I have part of what I’m looking for in my grasp, but not all.“[iii] Neue Themen und ein veränderter Einsatz von Materialien, Instrumenten oder Techniken können darauf beruhen, dass bisherige Versuche und daraus resultierende Erkenntnisse am Ende bewusst, manchmal radikal, verworfen werden. Was aber ZERO-Künstler, Künstlerinnen und viele andere, mindestens bis zur erfolgreichen Setzung künstlerischer „Markenzeichen“[iv], nicht an weiteren Experimenten hinderte.
RW: Waren die Ablehnung der gängigen Kunstrichtungen und diese Art des Experimentierens in der Nachkriegszeit ein ZERO-Alleinstellungsmerkmal?
AJW: Nein, es gab viele radikale künstlerische Initiativen in Deutschland und zahlreichen anderen Ländern. Zum Beispiel: Schon 1948 gründeten Künstler und Künstlerinnen aus drei Ländern die – sehr kurzlebige – Gruppe COBRA (Abkürzung für Copenhagen, Brüssel, Amsterdam). Ihr Programm war es, „Kräfte zu bündeln im Streit, der gegen die verkommenen ästhetischen Auffassungen geführt werden muss, die dem Entstehen einer neuen Kreativität im Weg stehen.“ Uwe M. Schneede schreibt dazu im Katalog der Hamburger Ausstellung COBRA:
[i] Otto Neumaier, Vom Ende der Kunst. Ästhetische Versuche, Wien 1997, S. 10; s. auch ders. (Hrsg.), Grenzgänge zwischen Wissenschaft und Kunst, Münster 2015.
[ii] Heinz Mack zit. n. Heike van der Valentyn (Hrsg.), Heinz Mack, Ausst.-Kat. Kunstpalast, Düsseldorf 2021, S. 41.
[iii] Zit. n. Plattencover zu John Coltrane, My Favourite Things, Atlantic 1361, 1961.
[iv] Vgl. Thomas Ayck im TV-Beitrag „Kunst als Markenzeichen“, bei Titel-Thesen-Temperamente, 3. November 1972, speziell mit Blick auf die Entwicklung von Heinz Mack und Günther Uecker.
„Die meisten dieser Künstler, noch nicht einmal dreißig Jahre alt, waren, ob in Belgien, Dänemark oder den Niederlanden, während des Kriegs von der zeitgenössischen Kunst abgeschnitten. Eine Auseinandersetzung, eine Entwicklung konnte nicht stattfinden. 1945 stehen sie vor dem Nichts.“[i]
[i] Uwe M. Schneede (Hrsg.), COBRA: 1948-51, Ausst.-Kat. Kunstverein in Hamburg, Hamburg 1982.
Einzelne COBRA-Mitglieder beteiligten sich ab 1957 an der Münchner Gruppe SPUR, die gegen den „kanonischen Rang abstrakter Kunst“ protestierte und Verbindungen zur Situationistischen Internationale unterhielt.[i] Zu SPUR stieß auch der spätere Kommunarde Dieter Kunzelmann.
RW: Blieb der kulturelle Aufbruch nach dem Zweiten Weltkrieg auf die bildende Kunst beschränkt?
AJW: Für die Literatur belegt schon die prominente Gruppe 47 das Gegenteil. Oft wurden in dieser Zeit Treffen und Gruppen in Opposition zu bestehenden Institutionen organisiert, teils aber auch mit öffentlicher Unterstützung, wie etwa die schon 1946 entstandenen und die Musikentwicklung bis heute prägenden Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt. Zudem gab es informelle Treffs mit avantgardistischen Ausstellungen, Konzerten, Lesungen oder Tanzdarbietungen, bei denen die Interdisziplinarität beziehungsweise das „intermediale“ Experiment zum Programm gehörten, wie das Beispiel des Ateliers Mary Bauermeister (1934-2023) in Köln zeigt, in dem Persönlichkeiten wie George Brecht (1926-2008), John Cage (1912-1992), Merce Cunningham (1919-2009), Mauricio Kagel (1931-2008), Nam June Paik (1932-2006) oder Karlheinz Stockhausen (1928-2007) im Diskurs standen, ebenso übrigens Heinz Mack und Otto Piene (1928-2014).[ii]
RW: Radikale Experimente waren aber schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und teilweise noch viel früher verbreitet?
AJW: Es gibt in der Tat viele solche und auch weiterführende Beispiele, am bekanntesten sind vielleicht Wassily Kandinskys (1866-1944) synästhetische Experimente mit Farben und Musik oder das suprematistische Gemälde Das Schwarze Quadrat auf weißem Grund, 1915, des Ukrainers Kasimir Malewitsch (1879-1935). Josef Albers (1888-1976) hat dies am Ende wohl inspiriert: Mit seinem auch durch familiäre Traditionen geformten Talent entwickelte er am Bauhaus in Weimar und später in Dessau zunächst mit „Glasstudien“ neue Ausdrucksformen, bis er nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten nach Amerika emigrierte. In einer amerikanischen Zeitschrift wurde der Arbeitsraum von Albers am Black Mountain College, North Carolina,1935 eher „als Labor denn als Atelier“ skizziert und über ihn heißt es:
[i] Vgl. Beate von Mickwitz, Streit um die Kunst, München 1996, S. 56-63.
[ii] Vgl. Historisches Archiv der Stadt Köln (Hrsg.), Das Atelier Mary Bauermeister in Köln 1960-62: intermedial, kontrovers, experimentell, Köln 1993.
„Er studiert wie ein Wissenschaftler, der entschlossen ist, Formen, Werte und Farbbeziehungen zu entdecken, die zuverlässig sind, und durch Ausprobieren das Ungewisse und Falsche auszuschließen.“[i] Bis er, während seiner Lehrtätigkeit in Yale, zu seinem heute gefeierten Hauptwerk fand – Hommage to the Square – vergingen dann allerdings noch etwa anderthalb Jahrzehnte.
[i] Grace Alexander Young in Arts and Decoration, Januar 1935, zit. n. Charles Darwent, Josef Albers – Leben und Werk, Bern, Wien 2020, S. 311.
RW: Legt das Beispiel von Josef Albers nicht nahe, dass künstlerische und wissenschaftliche Experimente vieles gemeinsam haben?
AJW: Die Frage nach Unterschieden oder Gemeinsamkeiten zwischen Experimenten der wissenschaftlichen Forschung und solchen in der künstlerischen Arbeit ist aktuell durchaus umstritten.
Katharina Bahlmann[i] durchforstet Kunsttheorie und Philosophie im Hinblick auf begriffliche Klarheit und Stolpersteine zum künstlerischen Experimentieren. Nach ihr „besteht das künstlerische Experiment in der Arbeit mit Differenzen, darin, die Möglichkeiten der Umlenkung des Blicks zu erforschen und darüber Bedeutung zu verhandeln.“[ii] Sie geht dabei auf Ähnlichkeiten zwischen künstlerischen und wissenschaftlichen Experimenten ein, die jeweils ihr eigenes, auch philosophisch geprägtes „Bezugssystem“ bearbeiten. Dabei bezieht sie sich unter anderem auf Thomas Kuhn[iii], der mit seinen Überlegungen zu den Bedingungen für einen „Paradigmenwechsel“, also den großen Umbruch in der Wissenschaft (und darüber hinaus), bekannt wurde; sie besteht am Ende aber darauf, „dass zwischen der Umgestaltung der wissenschaftlichen Welt und der Kunstwelt ein wesentlicher Unterschied besteht: Die Umgestaltung der wissenschaftlichen Welt wird zu einer Notwendigkeit, wenn immer mehr Fakten gegen eine bestehende Theorie sprechen. Das künstlerische Experimentieren bleibt von widerspruchslogischen Überlegungen hingegen unberührt. Eine künstlerische Sichtweise wird nicht widerlegt oder ungültig; sie verliert allenfalls an Bedeutung.“[iv] Wir dürfen aber annehmen, dass für einen „Paradigmenwechsel“ in der Kunst radikale Sichtweisen, Experimente oder Selbstermächtigungen allein nicht ausreichen.
Auch Nicole Vennemann[v] sieht künstlerische Experimente in einem Gegensatz zu ergebnisorientierten Experimenten in der Wissenschaft als von Künstlern und Künstlerinnen offen gestaltete Forschungshandlungen, innerhalb derer Partizipation möglich ist (wie zum Teil bei den ZERO-Künstlern).
Manche Fachleute scheinen inzwischen allerdings von dieser scharfen Trennung abzurücken. Die Ankündigung der Fachtagung Zufall und Einfall. Medien der Kreativität in Kunst und Wissenschaft der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik (DGAE), November 2023 in Linz, erklärte sie sogar zu „falschen Vorstellungen“[vi], denn:
[i] Katharina Bahlmann, „Das künstlerische Experiment zwischen Fortschritt und Wiederholung“, in: Experimentelle Ästhetik, (Kongress-Akten der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik, Bd. 2), hrsg. von Ludger Schwarte, 2011, http://www.dgae.de/kongresse/experimentelle-aesthetik/ (August 2023).
[ii] Bahlmann (wie Anm. 11).
[iii] Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962.
[iv] Bahlmann (wie Anm. 10).
[v] Vgl. Nicole Vennemann, Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst. Initiierte Ereignisse als Form der künstlerischen Forschung, Bielefeld 2018.
[vi] Zufall und Einfall. Medien der Kreativität in Kunst und Wissenschaft, Deutsche Gesellschaft für Ästhetik, 2023, http://www.dgae.de/dgae-plattform3/ (Juli 2023).
„Ebenso wenig wie ästhetische Formgestaltung aus dem Nichts entsteht, lassen sich wissenschaftliche Tatsachen durch deduktive Verfahren allein erreichen. Zwischen Kunst und Wissenschaft spannt sich vielmehr ein experimentelles Feld auf, in dem das Aleatorische, Serendipität, aber auch materielle Veranlassungen eine weit größere Rolle besitzen als gedacht.“[i]
[i] Deutsche Gesellschaft für Ästhetik (wie Anm. 15).
Mit einem Workshop wurde unter anderem versucht zu ermitteln, welche Rolle „medialen Auslösern“ in innovativen wissenschaftlichen und künstlerischen Prozessen zukommt: „Dass dem Experimentieren mit Verfahren sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft eine derart signifikante Bedeutung zukommt, legt den Schluss nahe, dass sich in beiden Bereichen das gewünschte Ergebnis oft nur indirekt und non-intentional einstellt.“[i]
RW: Solche Veränderungen in den künstlerischen und wissenschaftlichen Strategien sind vor allem im letzten Jahrzehnt so deutlich hervorgetreten. Was sind die Konsequenzen – oder geht es nur um neue Begrifflichkeiten?
AJW: Begriffe in Publikationstiteln auf der Homepage der DGAE[ii] zeigen jedenfalls, dass die Vorstellung vom „forschenden Künstler“ heute offenbar Allgemeingut geworden ist. Da tauchen zum Beispiel „Versuch“, „Transformation“, „Innovation“, „Fluidität“, „Encounter“ oder „Labor“auf. Nachdem vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten die Kunst- und Musikhochschulen ihre Curricula in diese Richtung aktualisiert beziehungsweise noch mehr „verwissenschaftlicht“haben[iii], finden sich heute Selbstbeschreibungen wie „Research Artist“[iv] oft in künstlerischen Biographien und auf Internet-Plattformen. Zudem hofft ein eigenes Genre, die sogenannte „SciArt“[v], mit eher gesellschaftlicher, sozialer und ökologischer Orientierung, auf eine Überwindung traditioneller Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft.
Das alles ist aber weniger neu als manche annehmen und Silvia Krapf will es bereits bei ZERO lokalisieren:
[i] Deutsche Gesellschaft für Ästhetik (wie Anm. 15).
[ii] Vgl. Homepage der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik, http://www.dgae.de/ (August 2023).
[iii] Mick Wilson, Schelte van Ruiten (Hrsg.), SHARE. Handbook for Artistic Research Education, Amsterdam 2013.
[iv] Vgl. www.gloriabenedikt.com (August 2023).
[v] Vgl. https://twitter.com, dort findet sich diese Beschreibung für „SciArt“: „Scientists and artists working together to stimulate the human imagination and make the world we live in more intelligible.“ (August 2023)
„Die Abwendung der Künstler vom subjektiven Ausdruck des abstrakten Expressionismus zeigte sich auch in der veränderten Rolle des Künstlers und der Kunst. So verstanden sie sich nicht mehr als rein intuitiv Schaffende, sondern als Wissenschaftler, die bestrebt waren, ihre Arbeit einer Analyse zu unterziehen. Kunstwerke entstanden aus dem Akt des Experimentierens und Erforschens heraus, Teamwork wurde propagiert.“[i]
[i] Silvia Krapf, „ZERO – Eine europäische Vision“, in: ZERO – Künstler einer europäischen Bewegung. Sammlung Lenz Schönberg 1956-2006, Ausst.-Kat. Museum der Moderne Salzburg, Mönchsberg 2006, S. 17-23, hier S. 22.
RW: Neben „Experiment“ und „Forschung“: Welche anderen Begrifflichkeiten bieten sich an, gerade für künstlerische Arbeitsweisen in den ZERO-Jahren?
AJW: Manches, was in künstlerischen Erprobungsphasen geschieht, könnte mit „(aus)testen“vielleicht sogar besser beschrieben werden als mit dem Begriff Experiment, weil hier – ähnlich wie bei technischen Vorhaben – weniger nach Ursachen oder Störfaktoren und eher nach von Künstlern oder Künstlerinnen erhofften Ergebnissen geforscht wird. Gelegentlich spielt auch der Zufall eine Rolle.[i]
Vor allem in der Musik (Jazz, neue Musik, manche Spielarten des Pop) und der darstellenden Kunst kommt als weitere experimentelle Vorgehensweise die Improvisation hinzu. Spielarten davon finden sich aber auch in der bildenden Kunst, über ZERO, Fluxus und Happening hinaus. So waren seit den 1960er Jahren etwa die österreichischen Aktionisten um Hermann Nitsch (1938-2022) (Orgien-Mysterien-Spiele) oder Otto Muehl (1925-2013) bekannt für ihre schwer kalkulierbaren, teils schockierenden Spektakel, die oft zu Konfrontationen mit der Polizei oder Justiz führten. Muehl hat in einem Gespräch diese experimentelle Praxis des Aktionismus einmal als „therapeutisches Ausagieren“ beschrieben, das er als eine Art Forschung betrieben habe.[ii]
Mack, Piene, Uecker (*1930) und andere in ihrem Umfeld zählten zu jenen künstlerischen Persönlichkeiten, die kulturelle Traditionen hinterfragten und über Versuche oder Experimente alte Images in neue Anschauungen und Bilder transformieren konnten. Dabei handelte es sich aber nicht um ein Alleinstellungsmerkmal von ZERO.
RW: Schon 1966 hat sich ZERO auf Betreiben von Heinz Mack als Gruppe aufgelöst – und doch gibt es ZERO nach wie vor, jedenfalls in der Kunstwelt. Wie lässt sich das erklären?
AJW: Wir sollten bestimmte Begrifflichkeiten im Zusammenhang mit ZERO nicht auf die Goldwaage legen, vielmehr als das verstehen, was sie häufig sind, nämlich Selbstbeschreibungen oder oft sogar spätere Zuschreibungen. Das trifft auch für den jetzt häufig genutzten Terminus „ZERO-Bewegung“ zu: In der Soziologie und Sozialpsychologie werden „Bewegungen“ als kollektive Akteure oder organisierte gesellschaftliche Systeme gesehen, die mit bestimmten Mobilisierungsstrategien und Aktionsformen versuchen, den sozialen Wandel zu beeinflussen, sei es vor- oder rückwärtsgewandt. Bei ZERO fehlte es aber sowohl am Kollektiv wie an der zielgerichteten sozialen Aktion – die Initiatoren verstanden sich als durchaus konkurrierende Individuen mit eigenständigen künstlerischen Zielen und Handschriften, die zudem, anders als der Fluxus, in alter künstlerischer Tradition dem Werkbegriff verpflichtet blieben. Eventuell könnte man ihre Ablehnung überkommener Strukturen und Denkweisen noch als Indiz für eine „Bewegung“ werten, für die aus Sicht der Systemtheorie Proteste als „Elementaroperationen“[iii] gelten. Piene, Mack und Uecker nahmen zwar in ihrer „Mobilisierungskommunikation“[iv] für Kunstevents den Wunsch oder sogar Hunger vor allem jüngerer Leute in der Nachkriegsbevölkerung nach sozio-kultureller Veränderung teilweise auf, doch ging es zum Beispiel bei der ZERO-Demonstration am 5. Juli 1961 in der Düsseldorfer Altstadt nicht um politischen oder sozialen „Protest“, sondern primär – und damit selbstreferentiell – um PR (Public Relations) für die Publikation ZERO 3 vor der Galerie Schmela.[v]
RW: Welcher andere Begriff wäre dann für eine Beschreibung der ZERO-Zusammenarbeit besser geeignet?
AJW: Günther Uecker lehnte sogar Bezeichnungen wie „Gruppe“ oder „Zusammenschluss“ ab, weil die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern und Künstlerinnen damals so „offen“ und informell ablief.[vi] Auch deshalb könnte man vielleicht ganz neutral von einer ZERO-Initiative oder einer – anfangs eher regionalen, dann bald europaweiten – künstlerischen „Plattform“sprechen. Heute würde eventuell sogar der Begriff einer „Community“ passen[vii], bei der es sich um eine Gruppe mit gemeinsamen oder ähnlichen Interessen, Werten oder Vorstellungen handelt, in der regelmäßig Erfahrungen ausgetauscht werden und wo die Beteiligten für bestimmte Ziele aktiv werden. Zu gemeinsamen Zielen kann, legitimer Weise der Wunsch gehören, bekannter zu werden, sich einen Markt im oft für Neues verschlossenen Kunstbetrieb zu erobern und diesen dadurch nachhaltig zu verändern, was bei ZERO wichtige Motive für die Zusammenarbeit waren, wie Interviews mit den Protagonisten nahelegen. Ein durchschlagender Erfolg auf dem Kunstmarkt konnte sich zwar in den wenigen gemeinsamen Jahren noch nicht einstellen, dafür aber umso mehr im Anschluss an die Trennung 1966, nach der die ZERO-Initiatoren individuell Karriere in Europa und in den USA machten.
RW: Das wirft ein Schlaglicht auf die kulturelle Situation 15–20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie müssen wir uns das „Kunstklima“ in dieser Zeit vorstellen?
AJW: Im Grunde existierte im ersten Jahrzehnt der deutschen Nachkriegszeit ein für radikal Neues offener Kunstmarkt praktisch noch nicht – in der Literatur waren da manche Verlage schon mutiger, wie anfangs etwa Rowohlt mit seinen „Rotationsromanen“ auf Zeitungspapier. Ebenso wenig gab es noch kaum eine solche Bestrebungen fördernde Kulturpolitik und auch die meisten einschlägigen Preise oder Stipendien entstanden erst später.[viii] Und der Mangel beschränkte sich keineswegs nur auf das Materielle, vielmehr gab es auch große sozio-kulturelle Defizite. Der Kunstwissenschaftler und Psychologe Friedrich Wolfram Heubach geißelte ästhetische Tendenzen und das intellektuelle Klima der 1950er Jahre als „miefige Verdrängungskultur“ mit der „kaum zufälligen Koinzidenz von Geschichtsverleugnung und Informel, Konflikt-Tabuisierung und Abstraktion, Intellektuellenfeindlichkeit und École de Paris“, begleitet von „Beschwörungen eines obskuren abendländischen Erbes“, von „militanter Bigotterie“ und der Suche nach „Eigentlichkeit“ oder „Tiefe“.[ix] Laut Heubach waren daher neue, gegen solche Verhältnisse gerichtete Gruppierungen wie Happening, Fluxus und Situationismus ebenfalls kein Zufall. Eine Ausstellung im Wuppertaler Von der Heydt-Museum[x] legte 2022 nahe, dass ZERO als experimenteller Vorreiter dieser und weiterer künstlerischer Initiativen in jener Zeit gesehen werden könnte.
[i] So bei Heinz Macks Entdeckung des Lichtreliefs durch den versehentlichen Fußtritt auf eine Aluminiumfolie, vgl. Aussage von Mack, in Meister (wie Anm. 1), S. 61.
[ii] Zum Verhältnis Kunst und Psychoanalyse s. a. Harald Falckenberg (Hrsg.), Otto Mühl. [sic] Retrospektive, Frankfurt 2005, S. 29-31.
[iii] Vgl. Niklas Luhmann, Protest, Frankfurt a. M. 1996.
[iv] Vgl. Heinrich W. Ahlemeyer, „Was ist eine soziale Bewegung? Zur Distinktion und Einheit eines sozialen Phänomens“, in: Zeitschrift für Soziologie, Bd. 18, Nr. 3, 1989, S. 175–191.
[v] Otto Piene, in Meister, (wie Anm. 1), S. 35 f.
[vi] Günther Uecker, in Meister, (wie Anm. 1), S. 77.
[vii] Hier als „analoge“ Gruppierung mit unterschiedlichen künstlerischen Interessen und Handschriften verstanden, damit also abzugrenzen von heutigen „virtual communities“, die sich oft über globale Herausforderungen verständigen, vgl. etwa Oliver Basciano, „What Does the ‚Global South‘ Even Mean?“, in: ArtReview, 23. August 2023, ebenso natürlich von künstlerischen „Kollektiven“, à la documenta fifteen.
[viii] Vgl. Karla Fohrbeck, Andreas Joh. Wiesand (Hrsg.), Handbuch der Kulturpreise und der individuellen Künstlerförderung, Köln 1978, liefern dazu Daten für den Zeitraum von 1945 bis in die späten 1970er Jahre.
[ix] Friedrich Wolfram Heubach, „Die Kunst der sechziger Jahre – Anmerkungen in ent/täuschender Absicht“, in: Die 60er Jahre. Kölns Weg zur Kunstmetropole. Vom Happening zum Kunstmarkt, hrsg. von Wulf Herzogenrath, Gabriele Lueg, Ausst.-Kat. Kölnischer Kunstverein, Köln 1985, S. 113 f.
[x] Vgl. ZERO, POP und Minimal – Die 1960er und 1970er Jahre, Von der Heydt-Museum, Wuppertal 10.04.2022 – 16.07.2023.
RW: Liest man die Kataloge der vielen, auch internationalen ZERO-Ausstellungen durch die Jahrzehnte, fällt auf, dass die Kunstwissenschaft und Kunstkritik, darunter viele Museumsleute sich schwertun, so etwas wie eine gemeinsame „ZERO-Handschrift“ zu identifizieren.
AJW: Die Ausstellung ZERO aus dem Frühjahr 2015, mit Arbeiten von rund 40 Künstlern (und nur 3 Künstlerinnen!), im Berliner Martin-Gropius-Bau und im Stedelijk Museum, Amsterdam, gilt immer noch als Meilenstein auf dem Weg zu einem besseren Verständnis dieser Kunstinitiative. Die Ausstellung verdeutlichte, dass dieses Verständnis weniger – wie bei vielen anderen künstlerischen Gruppierungen des 20. Jahrhunderts – über Gemeinsamkeiten in Sujets und Techniken oder Aktionsformen der Beteiligten zu gewinnen ist. Vielmehr konstatierte der Ausstellungskatalog, trotz einiger konzeptioneller Gemeinsamkeiten[i], eine große „Heterogenität“ der Werkkomplexe. Auch ein in Berlin parallel zu der Schau gemeinsam mit der Akademie der Künste veranstaltetes wissenschaftliches Symposium tat sich schwer damit, schlüssige Analyseinstrumente für ZERO-Kunst zu entwickeln. In einem Bericht von Barbara Wiegand für Deutschlandfunk Kultur[ii] wurde die Vorgehensweise der Kuratoren der Ausstellung skizziert, die etwa 200 Werke nach Themen wie Farbe, Licht, Struktur oder Bewegung geordnet hatten und durch verschiedene Forschungserträge zu demonstrieren suchten, was ZERO ausmacht:
[i] Darunter könnte z. B., wie es Barbara Könches beim Workshop ZERO-ABC am 2. September 2023 in Düsseldorf formulierte, ein „neu gewonnenes räumliches Denken“ in der Kunst verstanden werden.
[ii] Barbara Wiegand, „ZERO-Kunst im Martin Gropius Bau. Aus der Leere wollten sie Neues schaffen“, in: Deutschlandfunk, 20.03.2015, https://www.deutschlandfunkkultur.de/zero-kunst-im-martin-gropius-bau-aus-der-leere-wollten-sie-100.html (August 2023).
Im gleichen Bericht wird Heinz Mack zitiert, der davon spricht, dass er und Otto Piene schon früh bemerkten, wie wenig ihre, auch philosophische, Ausbildung dafür taugte, wirklich Neues zu schaffen. Das habe bei ihnen zu der Erkenntnis geführt:
„Wir müssen das alles vergessen, was wir gelernt haben. Und wir müssen einen Versuch machen, ganz von vorne zu beginnen, den Anfang suchen. Und das in einer Situation, wo der Horror vacui, die Leere um uns herum war. In dieser Leere erste Entdeckungen zu machen, Experimente zu machen und einen neuen Anfang zu finden, das war ein ganz wesentliches Moment.“[i]
[i] Zit. nach Wiegand (wie Anm. 34).
RW: Zielen künstlerische Tests oder Experimente allein auf ästhetische Innovationen oder nehmen sie manchmal auch Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungen?
AJW: Der Einfluss von Künstlern, Künstlerinnen und Intellektuellen auf gesellschaftliche – dabei nicht nur auf kulturelle, sondern auch auf wirtschaftliche und technische – Entwicklungen sollte nicht unterschätzt werden: Sie agieren oft als Impulsgebende an Schnittstellen von Kommunikationsprozessen und sind gleichzeitig Schöpfer neuer Botschaften und Anschauungen mit der Fähigkeit, diese in ästhetische Formen zu übersetzen. Ihr Einfluss kann entscheidend sein, wenn es einerseits darum geht, neue technische Mittel zu erproben und andererseits darum, alternative gesellschaftspolitische Perspektiven aufzuzeigen, heute zum Beispiel im Hinblick auf die Bedeutung und die Folgen der „Globalisierung“ oder, in früheren Zeiten, bei überfälligen politischen Veränderungen, die auch die Köpfe und Herzen verschiedener Bevölkerungsschichten erreichen müssen: Die politischen Umbrüche in Mittel- und Osteuropa seit etwa 35 Jahren liefern viele Beispiele für solche „Geburtshilfe“ aus Kunst und Literatur.
Die Lage in Deutschland in den 1950er Jahren, kurz nach dem Ende des NS-Regimes und der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, könnte ein ähnliches Szenario nahelegen: War hier nicht ein Neubeginn fällig, der hergebrachte politische Anschauungen und ebenso unklare künstlerische Positionen radikal in Frage stellt? Dieser Neubeginn gelang damals, aufs Ganze gesehen, nur teilweise, Adenauers Motto „Keine Experimente“ war angesagt – obwohl die schon wenige Jahre nach dem Krieg einsetzende Planung einer deutschen Wiederbewaffnung schon so etwas wie ein großes Experiment darstellte ….
RW: Wie entstehen solche Innovationen durch Kunst?
AJW: Gesellschaftliche Veränderungen können von „ästhetischen Irritationen“ bis hin zum Umsturz traditioneller Bilder und Überzeugungen abhängen, die Innovationen im Wege stehen. Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Michael Hutter hat solche Experimente und Prozesse über Jahrzehnte erforscht. Neben den bekannten künstlerischen, wirtschaftlichen und technologischen Innovationen wie denen der Bauhaus-Bewegung, auf die sich auch Mack[i]und andere im ZERO-Umfeld bezogen, verweist Hutter beispielsweise auf künstlerische und literarische Erfindungen vom Mittelalter über die Renaissance bis zum 19. Jahrhundert und ihre Rolle für unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit, die „zu den grundlegendsten kognitiven Konventionen in der menschlichen Interaktion“ gehört.[ii] Seinen Beobachtungen und denen anderer Forschenden zufolge leisteten etwa Künstler wie Ghirlandaio (1448-1494) oder Velásquez (1599-1660) entscheidende Beiträge zu einem Weltbild, in dem die traditionelle Unterscheidung zwischen einer himmlischen und einer irdischen Sphäre überwunden werden konnte. Die künstlerische Erfindung der Zentralperspektive ermöglichte nun neue Techniken, zum Beispiel in der Geometrie, im Bauwesen und in der Raumplanung; wirtschaftlich motivierte Expeditionen – und dabei allerdings auch koloniale Eroberungen – rund um den Globus konnten vorbereitet werden.
RW: Heute hat die immer rascher fortschreitende Entwicklung neuer Technologien eine große Bedeutung in gesellschaftlichen Umbrüchen. Spielen auch da Künstler und Künstlerinnen eine Rolle?
AJW: Einige Beobachter kommen – wie zuvor am Beispiel der DGAE angedeutet – zum Schluss, dass nur Kunst, Wissenschaft und Technologie gemeinsam die Grundlage für Kreativität, Innovation und Produktivität in der Gesellschaft bilden können. Von den Beteiligten manchmal gar nicht intendierte Innovationen in der Entwicklung und künstlerischen Validierung neuer Technologien hat es im Laufe der Geschichte immer wieder gegeben. Nur gelegentlich versuchten Kunstschaffende, dieses Potenzial ihrer Arbeit auch der Politik zu verdeutlichen; so nennt Günter Drebusch (1925-1998) vom Deutschen Künstlerbund zum Beispiel Willi Baumeister (1889-1955), der die Siebdruck-Technik um 1951 zuerst in Deutschland bekannt gemacht habe und fährt fort: „Wer denkt daran, dass die Anwendung von Silikonkautschuk und Hartschaum in der modernen Gießereitechnik ursprünglich von Bildhauern für komplizierte Gusstechniken entwickelt wurde? Welchem Architekten oder Werbefachmann fallen schon Raoul Hausmann und John Heartfield ein, wenn sie sich der Fotomontage bedienen? Wen interessiert es noch, dass die heute verbreitetste Drucktechnik, das Offset-Verfahren, im Grunde auf einer Erfindung beruht, die von Künstlern gemacht und fortentwickelt wurde?“. [iii]
Andere heben die innovative Rolle der Kreativen bei der künstlerischen Erprobung „neuer Medien“ hervor, die heute auch nicht-lineare Formen der Kommunikation ermöglichen.[iv]Führende Unternehmen des Kreativsektors haben dieses Potenzial künstlerischer Forschung und Produktivität seit einiger Zeit erkannt, so etwa Edgar Bronfman, CEO von Warner, auf der Freedom Foundation Convention in Aspen 2005: „Technology shapes music and music influences technology. The best proof for that is the iPod.“[v] Wobei dieses Beispiel aber ironischerweise verdeutlicht, dass manche technologischen Innovationen und darauf beruhende Konsumgüter eine relativ kurze Halbwertzeit haben können, während damit verknüpfte künstlerische Innovationen durchaus länger überleben.
RW: Kann man ZERO in solche Prozesse der Inwertsetzung und teilweise auch der Popularisierung neuer Technik einordnen?
AJW: Otto Piene, der 1972 Professor für Umweltkunst am Massachusetts Institute of Technology (MIT) wurde und seit 1974 dort das Center for Advanced Visual Studies (CAVS) leitete, kommt unter den ZERO-Initiatoren dieser – heute nicht mehr exotischen – künstlerischen Rolle durch seine Experimente und Strategien, Kunst mit technischen Innovationen zu verbinden, wohl am nächsten. Dies war im Kunst-Diskurs allerdings lange verpönt, woran die Zeitzeugin Marita Bombek (Universität Köln) erinnert: „Das war ein Tabu. Darüber habe ich damals immer mit ihm gestritten“, und sie fährt fort: „Er dachte nicht nur disziplinübergreifend, sondern handelte auch so.“[vi]
[i] „Im Bauhaus dachte man konstruktiv und positiv über ein harmonisches Zusammenleben in der Zivilgesellschaft nach. Dass Kunst nicht nur für Einzelgänger und romantische Elfenbeinturm-Bewohner galt, sondern gesellschaftliche Imperative und moralische Forderungen stellen konnte, hat mich am Bauhaus sehr beeindruckt. Nach all den Kriegsereignissen war die Klarheit dieser Bildsprache mehr als willkommen.“ Heinz Mack, zit. n. Meister (wie Anm. 1), S. 52.
[ii] Michael Hutter, „Structural Coupling between Social Systems: Art and the Economy as Mutual Sources of Growth“, in: Soziale Systeme, Bd. 7, Nr. 2, 2001, S. 290-312, bietet einen Überblick zu diesen Forschungsergebnissen.
[iii] Vortrag bei der Tagung „Kunst als Wirtschaftsfaktor“ der CDU/CSU Bundestagsfraktion im Juni 1983, zit. n. Karla Fohrbeck, Andreas Joh. Wiesand, Von der Industriegesellschaft zur Kulturgesellschaft?, München 1989, S. 81.
[iv] Vgl. Dieter Daniels, Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet, München 2002.
[v] Zit. nach Andreas Joh. Wiesand, Michael Söndermann, The „Creative Sector“ – An Engine for Diversity, Growth and Jobs in Europe. An overview of research findings and debates prepared for the European Cultural Foundation, Amsterdam 2005, S. 15.
[vi] Marita Bombek zit. nach Robert Filgner, „‚Ja, ich träumte von einer besseren Welt – sollte ich von einer schlechteren träumen?‘“, in: Kölner Universitätsmagazin, Nr. 2, 2015, S. 50-51, hier S. 50.
Stephen Wilson, selbst vom MIT, analysiert diese künstlerischen Potenziale so:
„At the early stages of an emerging technology, the power of artistic work derives in part from the cultural act of claiming it for creative production and commentary. In this regard, the early history of computer graphics and animation in some ways mimics the early history of photography and cinema.“[i]
[i] Stephen Wilson, Information Arts. Intersections of Art, Science and Technology, Cambridge, London 2002, S. 10.
RW: Zum Abschluss die Frage: Gab es auch eine „europäische Stunde ZERO“?
AJW: Tatsächlich könnte man als eines der wichtigsten gemeinsamen „Experimente“ der deutschen ZERO-Initiatoren vielleicht ihre – schnell geglückte – europäische Vernetzung ansehen. Das war ja keine Selbstverständlichkeit in der Nachkriegszeit, in der die NS-Jahre noch nicht wirklich aufgearbeitet waren. Sie hatten keine Scheu, sich, mit dem Ziel einer größeren Sichtbarkeit ihrer Kunst, mit Kollegen (und nur wenigen Kolleginnen) aus vielen anderen Ländern auszutauschen und auch zu verbünden, vor allem für Ausstellungen in verschiedenen Orten Europas. Das wurde dann sowohl von ihnen selbst im ZERO-Manifest von 1963 wie später erneut in einer Rückschau von Thekla Zell im Katalog der Berliner Ausstellung von 2015 als „Wanderzirkus ZERO“ apostrophiert. Allerdings sind, vielleicht abgesehen von ähnlichen Entwicklungen in den Niederlanden, die wenigen gemeinsamen Jahre der ZERO-Protagonisten wohl eher als Phänomen der deutschen Kunstszene in der Mitte des 20. Jahrhunderts einzuordnen. Trotzdem konnte ZERO danach, über die Jahrzehnte hinweg, seine Bedeutung als eine spezielle Düsseldorfer „Dachmarke“ mit internationaler Ausstrahlung behaupten und weiterentwickeln.
Zum Experiment
Endnotes
F Feuer
Das Element Feuer in den Werken der ZERO-Künstler*innen
Sophia Sotke
Den größten Wald- und Buschbränden in der Geschichte der Europäischen Union fielen in diesem Sommer über 174.000 Hektar Land in Griechenland zum Opfer.[i] Ebenso erlebte Kanada im Jahr 2023 die verheerendste Waldbrandsaison seit Beginn der Aufzeichnungen.[ii] Diese Katastrophen werden unter anderem bedingt durch Hitzewellen, durch die menschengemachte globale Erwärmung verstärkt, wobei die ökologischen Folgen für Flora und Fauna verheerend sind. In diesem Zusammenhang erleben wir in unserer hoch technologisierten Zivilisation das Feuer als überwältigende, elementare Naturgewalt, so wie es die Menschen in der Antike erlebt haben müssen. Auch die Christen nahmen das Naturelement über Jahrhunderte als „Strafe Gottes“ wahr, als Fegefeuer und Glut der Hölle.[iii] Gebändigt und gehütet ist das Feuer aber die Basis von Technik und Kultur: als Herd- und Schmiedefeuer und vor allem als Lichtquelle. Diese Duplizität im Charakter der Elemente beschrieb bereits Ovid (43 v. Chr.-17 n. Chr.) in den Metamorphosen (1. Jh. n. Chr.). Seine naturphilosophischen Betrachtungen beschreiben die Natur als
[i] Vgl. Seasonal Trend for European Union – Fires mapped in EFFIS of approx. 30 ha or larger, in: Copernicus. Europe’s eyes on Earth. https://effis.jrc.ec.europa.eu/apps/effis.statistics/seasonaltrend(6.10.2023).
[ii] Vgl. Dan Stillman, „This is Canada’s worst wildfire season on record, researchers say“, in: The Washington Post, 15. September 2023. https://www.washingtonpost.com/weather/2023/09/13/canada-wildfire-smoke-climate-change/(6.10.2023).
[iii] Gernot Böhme, Harmut Böhme, Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 2014, S. 287.
Einer Generation angehörig, deren Aufwachsen auch von der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs (1939-1945) bestimmt war, erlebten die ZERO-Gründer Heinz Mack (*1931) und Otto Piene (1928-2014) während ihrer Kindheit und Jugend das Element Feuer in seinen negativen Implikationen. So machte Mack ein Foto mit seiner „Ziehharmonika-Agfa“, als die Stadt Krefeld bombardiert wurde. Dies führte – unbewusst, so Mack – zur späteren Zeichnung Schwarze Strahlung, 1960, deren Kohleschraffuren wie die Lichtstreifen der Flakscheinwerfer in die Höhe ragen.[i] Und als Piene seine Lichtballette entwickelte, berief er sich auf seine Erfahrungen als jugendlicher Luftwaffenhelfer[ii]: „Wir haben es bisher dem Krieg überlassen, ein naives Lichtballett für den Nachthimmel zu ersinnen, wie wir es ihm überlassen haben, den Himmel mit farbigen Zeichen und künstlichen und provozierten Feuerbrünsten zu illuminieren.“[iii]
[i] Heinz Mack, Leben & Werk, Köln 2011, S. 54-55, hier S. 68.
[ii] Thomas Kellein: Zwischen Sputnik-Schock und Mondlandung. Künstlerische Großprojekte von Yves Klein zu Christo, Stuttgart 1989, S. 62.
[iii] Otto Piene, „Wege zum Paradies“, in: ZERO 3, hrsg. von Heinz Mack, Otto Piene, Düsseldorf 1961, o. S.
In der ZERO-Kunst finden wir instabile und flüchtige Substanzen wie das Feuer, den Rauch, und darüber hinaus auch Eis, Wasser, Nebel, Wind und Licht, womit die Künstler eine „Immaterialisierung“ ihrer Werke anstrebten.[i] Sie erklärten die vier Elemente zu den Materialien ihrer Kunst, um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur zu harmonisieren.[ii]Diese Absicht veranschaulichten Mack und Piene in der Publikation ZERO 3, deren erste Seiten Abbildungen der Sterne im Nachthimmel, der Sonne hinter einem Wolkenschleier, der Meeresoberfläche mit Reflexen des Sonnenlichts, einer geschlossenen Schneedecke sowie Sanddünen in der Wüste zeigten.[iii] Mack, Piene, Uecker und ihren Künstlerfreund*innen ging es darum, den gesamten Kosmos zu berühren, was ihre Werke, Texte und Projekte verdeutlichen.
[i] Ulrike Schmitt, Der Doppelaspekt von Materialität und Immaterialität in den Werken der ZERO-Künstler 1957–67, Diss. Köln 2013, S. 12.
[ii] Caroline de Westenholz, „ZERO ON SEA“, in: ZERO 5. The Artist as Curator. Collaborative Initiatives in the International ZERO Movement, 1957-1967, hrsg. von Tiziana Caianiello, Mattijs Visser, Ghent 2015, S. 271-395, hier S. 376.
[iii] Heinz Mack, Otto Piene (Hrsg.), ZERO 3, Düsseldorf 1961.
Ein in diesem Zusammenhang wichtiger Text ist das Sahara-Projekt von Heinz Mack, konzipiert 1958/59 und erstmals publiziert 1961 in ZERO 3. Mack entwarf darin einen Jardin Artificiel mit dreizehn Stationen, in denen seine skulpturalen Objekte mit dem Raum und dem Licht der Wüste interagieren. Das Projekt beruht auf der Überlegung, dass künstlerische Artefakte, die das Licht auf ihrer Oberfläche fangen, sammeln und potenzieren, in einem immensen, lichtdurchfluteten Raum wie der Sahara zu vibrierenden „Lichterscheinungen“ werden. Im Sahara-Projekt finden sich viele Vorschläge zur Integration von Feuer in den Jardin Artificiel: Raster aufsteigender Rauch- und Feuersäulen, Katapulte des Lichtes und künstliche Sonnen.[i]
[i] Vgl. Heinz Mack, Das Sahara-Projekt, 1959 (Archiv Mack).
In den Jahren nach der Konzeption seines Projektes reiste Mack mehrfach in die Sand- und Eiswüsten der Welt, um seinen Jardin Artificiel zu verwirklichen, wobei seine Expeditionen in die größten Sandmeere der Sahara, das Grand Erg Oriental sowie Occidental, besonders hervorzuheben sind. In Tunesien drehte er mit Hans Emmerling (1932-2022) und Edwin Braun 1968 Teile des vielfach ausgezeichneten Films Tele-Mack und 1976 fand die Expedition in künstliche Gärten nach Algerien statt, welche der Fotograf Thomas Höpker (1936-2024) für den Stern und in einem opulenten Bildband dokumentierte.[i]
[i] Tele-Mack, 1968, Regie: Hans Emmerling, Heinz Mack, Kamera: Edwin Braun, 45 Min., 40 Sek., Institut für Moderne Kunst Nürnberg, produziert von Telefilm Saar GmbH im Auftrag des Saarländischen Rundfunks und WDR/Westdeutsches Fernsehen; Axel Hecht, „Heinz Mack / Thomas Höpker. Expedition in künstliche Gärten“, in: SternNr. 45 (Jg. 29), 4.-10.11.1976, S. 36-56 (Archiv Mack); Henri Nannen (Hrsg.), Expedition in Künstliche Gärten, Hamburg 1977.
1997 realisierte Mack weitere Stationen des Sahara-Projektes in der Wahiba-Wüste des Oman. Er installierte dort eine 14 Meter hohe Lichtstele aus 21 Aluminiumreflektoren, die durch dünne Nylonseile verspannt und gehalten wurden. Er positionierte die Stele auf dem Kamm einer hohen Sanddüne und wartete die Abenddämmerung ab, um das perfekte Foto zu machen. Während des Sonnenuntergangs, der in der Wüste nur wenige Minuten dauert, gelang es Mack, eine unverwechselbare, einmalige Lichterscheinung fotografisch festzuhalten. Die untergehende Sonne wurde in jedem der 21 Reflektoren als roter Lichtball vielfach multipliziert, während Himmel und Sand sich im gleichen Ton einfärbten.[i] In ihrer Bezogenheit auf das rote Abendlicht steht auch die Große Lichtstele, wie Mack sie in der Wahiba Wüste fotografierte, im Zusammenhang mit dem Element Feuer, mit der Glut der Sonne, die den Rhythmus von Tag und Nacht bestimmt, die Leben, Licht und Farbe auf unserem Planeten bedingt.
[i] Uwe Rüth: „Heinz Mack und sein Sahara-Projekt“, in: MACK – Licht der Wüste, Licht des Eismeers, hrsg. von ders., Marl 2001, S. 17-62, hier S. 34.
Das Foto der Großen Stele in der Wahiba-Wüste bringt ferner den medialen Aspekt des Sahara-Projektes zum Vorschein. Mack brachte die Spiegelreflektoren in die Wüste, installierte dort seine Lichtstele und fotografierte sie. Danach deinstallierte er die Stele und transportierte das Material in Einzelteilen zurück ins Atelier.[i] Die Lichtstele wurde lediglich für einen kurzen Zeitraum in der Wahiba-Wüste zur visuell erfahrbaren Realität, während die Rezeption der Betrachter*innen allein über die fotografische Wiedergabe erfolgt.
[i] Sophia Sotke, Mack – Sahara. Von ZERO zur Land Art – Das Sahara-Projekt von Heinz Mack, 1959-1976, München 2022, S. 104.
Als 1969 Tele-Mack im Westdeutschen Rundfunk ausgestrahlt wurde, plädierte Mack, der Filmsei keine Reportage über eine Kunstausstellung, sondern der Film selbst sei die Ausstellung: „Premiere und Ausstellungsdauer sind identisch.“[i] Es ginge darum, Kunstwerke ausschließlich und nur einmalig im Fernsehen zu zeigen. „Alle Objekte, die ich in dieser Ausstellung zeigen werde, können nur durch das Fernsehen dem Publikum bekanntgemacht werden und werden auch von mir wieder zerstört“[ii], so Mack.
[i] Mack zit. n. Eo Plunien, „Silberstelen in der Sahara“, in: Unbekannt, 23.1.1969 (Archiv Mack).
[ii] Mack zit. n. Barbara Hess, „Abendschau. Drei Filme über Kunst“, in: Ready to Shoot. Fernsehgalerie Gerry Schum, hrsg. von Ulrike Groos u. a., Köln 2003, S. 9-21, hier S. 19.
Im Film Tele-Mack wird ein weiteres Werk von Mack gezeigt, das gleichsam die lichtvolle und destruktive Kraft des Feuers nutzte. Erstmals 1963 für die Messe Foire de Paris entworfen, bestand das Feuerschiff aus einem Floß mit einem dachstuhlartigen Holzgerüst, das auf dem Wasser in Aktion geriet. Es verband die Elemente Feuer und Wasser, wobei das Wasser zur Reflexionsfläche des Feuers wurde. Auf dem Holzgerüst waren Feuerwerkskörper montiert, an den Streben waren mit Phosphor getränkte Elemente angebracht und auf dem First wurden Wannen voller Benzin zu einem Feuerkamm entzündet. Mack hatte eine Choreografie des Feuers vorbereitet, die er mittels Fernsteuerung präzise bestimmte. Auf einem Baggersee nahe Mönchengladbach inszenierte Mack das Feuerschiff für den Film Tele-Mack, indem er es an einer Schnur auf einen See gleiten ließ, um die Pyrotechnik darauf stündlich zu entzünden. „Aber es war ein feuchter Abend, und die Fernzündung funktionierte nicht“, erinnerte sich Hans Emmerling. „So mussten wir das Schiff wieder an Land ziehen und mit einer Fackel anzünden. Als alles brannte, haben wir es mit drei Kameras aufgenommen.“[i] Als Konstruktion, die zunächst ein Lichtspektakel aufführte, um sich schließlich selbst zu zerstörten, ist das Feuerschiff ein immaterielles Lichtereignis, welches die Materialität des Werks überwindet.[ii] „Obwohl es so scheinen mag, dass ich meine Arbeit ausschließlich dem Licht gewidmet habe“, schrieb Mack 1966, „so muss ich jedoch erklären, dass es allein meine Absicht stets war und noch immer ist, Gegenstände zu machen, deren Erscheinungsweise immateriell ist […].“[iii] Neben Licht und Bewegung dient ihm hierzu das Feuer.
[i] Hans Emmerling im Gespräch mit Annette Bosetti, in: Jürgen Wilhelm (Hrsg.), Mack im Gespräch, München 2015, S. 55-62, hier S. 60.
[ii] Das Feuerschiff wurde 1968 für den Film Tele-Mack auf einem Baggersee nahe Mönchengladbach aufgezeichnet, weitere Aufführungen fanden 1979 bei Lichtfesten in Duisburg und Stuttgart, sowie 2010 im Düsseldorfer Medienhafen statt.
[iii] Heinz Mack, Licht ist nicht Licht, 1966 (Archiv Mack), S. 1.
1960 veranstaltete Mack eine Hommage à Georges de La Tour in der Galerie Diogenes, Berlin. Ein Bild des Barock-Künstlers, in dessen Malerei das Kerzenlicht omnipräsent ist, wurde an die Wand projiziert.[i] Mack zeichnete die Konturen der dargestellten Kerze nach und malte sie mit phosphoreszierender Farbe aus. Nach der Eröffnungsrede schaltete er die Projektion des Bildes aus, sodass nur noch das phosphoreszierende Wandbild der Kerze in der Dunkelheit zu sehen war. Darüber hinaus stellte er 200 brennende Kerzen in strenger, serieller Ordnung auf einen zwei Quadratmeter großen Spiegel im Souterrain der Galerie. „Am Abend der Vernissage füllten etwa ebenso viele Menschen die Souterrain-Räume und es entstand bald eine große Wärme“[ii], erinnerte sich Mack. Mittels eines weißen Tischtuchs, das zwei junge Frauen zunächst in eine Wasserschale tauchten, wurde das Fakir ähnliche „Feuerbrett“ gelöscht, indem sie das Tuch über die wabernde, vibrierende Feuerfläche spannten, um es dann in dem Moment fallen zu lassen, als Mack beim Countdown „ZERO“ ausrief. „In der so unvermittelt eintretenden Dunkelheit projizierte unser inneres Auge ein irreales Nachbild.“[iii] Die Kerzeninstallation wiederholte Mack in abgewandelter Form 1966 in der Galerie Schmela in Düsseldorf.
[i] Das Werk „Die Auffindung des Heiligen Sebastian“, um 1649, ist eine Kopie des Werkes von Georges de la Tour in der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin.
[ii] Heinz Mack, „Kommentar zur ‚1. Hommage à Georges de la Tour‘ in der Galerie Diogenes, Berlin 1960“, in: MACK. lichtkunst, Köln 1994, hrsg. von Kunstverein Ahlen e.V., S. 180-181, hier S. 181.
[iii] Mack (wie Anm. 21).
Auch Otto Piene, dessen „Feueratelier“ sich in der ZERO foundation befindet, nutzte die destruktive Kraft des Feuers als Strategie künstlerischer Kreation. 1957 hatte er begonnen, Schablonen mit gestanzten Löchern zu verwenden, um Farbe auf die Leinwand aufzutragen.[i]An diese Rasterbilder knüpften ab 1959 seine Rauchzeichnungen an, für die Piene den Rauch eines Kranzes von Kerzen oder Petroleumlampen durch Raster auf das Papier „siebte“. Der durch die Löcher schwelende Rauch hinterließ eine punktförmige Struktur auf der Oberfläche, die ein seriell strukturiertes Spiel von Licht und Schatten evozierte. Piene verwendete darüber hinaus eine Technik des Gelierens der Farbe auf der Leinwand mithilfe von Feuer. Er entzündete auf die Leinwand aufgetragene Lacke, um eine dichte schwarze Oberfläche mit subtilen Farbvariationen und manchmal figurativen Formen zu schaffen. Seine Feuerbilder zeigen die Krusten und Blasen, welche die Hitze auf der Leinwand hinterließ, und werden häufig von runden Formen dominiert, die an die Sonne oder den Mond erinnern. Poetische Titel wie Die Sonne brennt (1966) nehmen Bezug auf die Gestirne und die Elemente.[ii]
[i] Vgl. Edouard Derom: „The New Definition of Painting”, in: ZERO. Countdown to tomorrow, 1950s-60s, hrsg. von Solomon R. Guggenheim Museum, New York 2014, S. 88.
[ii] Vgl. Susanne Rennert, Stephan von Wiese (Hrsg.), Otto Piene, Retrospektive, 1952-1996, Ausst.-Kat. Museum Kunstpalast, Köln 1996, S. 51; vgl. auch Edouard Derom: „Burning, Cutting, Nailing”, in: Solomon R. Guggenheim Museum (wie Anm. 23), S. 142.
Manfred Schneckenburger (1938-2019) bezeichnete Piene als „Magier“ der Elemente Feuer, Luft und Licht. Piene sei „der präziseste künstlerische Stratege für die diversen Kreuzungen des Tafelbildes mit den neuen Verfahren, Licht, Feuer und Rauch […].“ Seine Bilder seien „Manifestation der Elemente selbst“, denn Piene erkunde die natürlichen Schmelzprozesse von Pigment, Rauch, Fixativ und Feuer. Daraus entstünde eine Malerei, in der das Fließen, Strömen, Gelieren, Absterben und die Blasenbildung noch im Moment ihrer Gerinnung angehalten werden. Damit verwandele Piene das Tafelbild in ein Instrument zum Einfangen, Strukturieren und Nuancieren einer immateriellen optischen Energie.[i]
[i] Manfred Schneckenburger, „Die schiere Schönheit und der Wolkenzug“, in: Otto Piene, hrsg. von Ante Glibota, Paris, Hong Kong 2011, S. 87-89, hier S. 87-88.
Die beiden ZERO-Gründer Mack und Piene waren nicht die einzigen, welche die Destruktion durch Feuer zur Kreation ihrer Kunstwerke nutzten. Besonders die Mitglieder der Nouveaux Réalistes, die sich 1960 um den Kritiker Pierre Restany (1930-2003) zusammentaten, wie Arman (1928-2005) und Niki de Saint Phalle (1930-2002), verwendeten Feuer und Destruktion als Strategie künstlerischer Schöpfung.[i] Der Schweizer Daniel Spoerri (*1930) fügte dem Magazin ZERO 3 eine Pyromanische Anleitung hinzu. Auf der letzten Seite der Publikation wurden die Leser*innen dazu aufgefordert, das Heft mit einem beigefügten Streichholz zu verbrennen. Nachdem detailliert erklärt wurde, wie man ein Streichholz anzündet, hieß es dort:
[i] Arman collagierte einen explodierten Feuerwerkskörper auf Papier oder sprengte in einer spektakulären Aktion einen Sportwagen, den er dann als quasi-zerstörtes Readymade an der Wand präsentierte (White Orchid, 1963). Einen ähnlich destruktiv-kreativen Ansatz verfolgte Niki de Saint Phalle ab 1960 mit ihrer Serie der Tirs, vgl. Pierre Restany, „Die Beseelung des Objekts“ (1961), in: ZERO und Nouveau Réalisme. Die Befragung der Wirklichkeit, hrsg. von Stiftung Ahlers Pro Arte, Kestner Pro Arte, Hannover 2016, S. 57-64.
„Unterwerfen Sie die vorliegende Zeitschrift Zero 3 demselben Prozeß, indem Sie die vorhandene Hitze ausnützen. Dazu müssen Sie das flache Stäbchen nah genug an die Broschüre halten, die bewußt aus einem Material hergestellt wurde, das demselben Verwandlungsprozeß unterliegt.“
Darüber war ein Sonnenblumenkern geklebt und mit dem Hinweis versehen: „Jean Tinguely empfiehlt Ihnen, diesen Sonnenblumenkern in gute Erde zu pflanzen, bevor Sie folgende Anleitung befolgen.“[i] Die destruktive Geste des einen wird hier durch den kreativen Impuls des anderen Künstlers wieder aufgehoben.
[i] Daniel Spoerri, „Pyromanische Anleitung“, in: Mack, Piene 1961 (wie Anm. 10), o. S.
Ähnlich wie Macks Feuerschiff zeigen die selbstzerstörenden Installationen von Jean Tinguely (1925-1991) die Kraft des Feuers und der Explosion als ephemeres Kunstereignis. 1960 veranstaltete er im Garten des Museum of Modern Art die aufsehenerregende Homage to New York, bei der sich eine kinetische Skulptur von monumentaler Größe in einem automatisierten Prozess selbst zerstörte.[i] Nach dem Erfolg in New York wurde das amerikanische Fernsehen auf Tinguely aufmerksam und produzierte in der Wüste von Nevada einen Film über seine Study for an End of the World, No. 2,1962. Gemeinsam mit Niki de Saint Phalle versammelte er Trümmer, Schrott, Sperrmüll, Feuerwerkskörper und Dynamit auf dem Jean Dry Lake in Nevada. Der Aufbau der Skulptur sowie ihre spektakuläre Explosion wurden von dem Sender NBC aufgezeichnet.[ii] Wie bei Macks Feuerschiff aus dem Film Tele-Mack erfolgt die Rezeption dieses Werks ausschließlich über die filmische Wiedergabe. Anders als das ephemere, eindrückliche Lichtereignis, das Mack bezweckte, verstand Tinguely seine „Studie zum Weltuntergang“ aber als soziopolitischen Kommentar zu einer Welt der überflüssigen und entsorgten Konsumgüter.[iii]
[i] Vgl. Tiziana Caianiello, „Between Media: Connections between Performance and Installation Art, and their Implications for Conservation“, in: Beiträge zu Kunst und Kulturgut 1/2018, S. 102-110, hier S. 103-104.
[ii] Die erste Study for an End of the World fand 1961 im Louisiana Museum, Humlebæk, Dänemark, statt, vgl. Emily Eliza Scott, „Desert Ends“, in: Ends of the Earth, Land Art to 1974, hrsg. von Philipp Kaiser, Miwon Kwon, München, London, New York 2012, S. 67-91, hier S. 68.
[iii] Vgl. Scott (wie Anm. 29), S. 76.
Während Tinguely und Saint Phalle die Explosion zelebrierten, nutze Yves Klein (1928-1962) das Feuer zur Fertigung von Malerei, Skulptur und Architektur. Sein erstes Experiment mit dem Feuer war das Tableau de feu blue d’une minute (1957), eine blau bemalte Holztafel, auf der er sechszehn bengalische Feuer entzündete. Bei dessen Präsentation in der Galerie Colette Allendy schuf Klein ein virtuelles IKB[i] als Nachbild im Auge des Betrachters, da sich das Feuer mit dem Blau zu einem immateriellen Monochrom verband. Ab 1961 entstanden dann seine Peintures de Feu, die er mit Flammenwerfern fertigte.[ii] Im Krefelder Museum Haus Lange fand 1961 die Ausstellung Yves Klein – Monochrome und Feuer statt, wobei im Garten des Hauses eine Feuermauer mit 100 Flammen sowie Feuerfontänen präsentiert wurden.[iii] Klein betrachtete das Feuer, wie alle vier Elemente, als zentrales Element der Architektur, was er in dem Projekt für eine Luftarchitektur, gemeinsam mit dem Architekten Werner Ruhnau, in ZERO 3 zum Ausdruck brachte.[iv]
[i] International Klein Blau ist ein von Yves Klein erfundenes tiefes Blau, vgl. Robert Fleck, Yves Klein – L’aventure allemande, Paris 2018, S. 24-25.
[ii] Colette Angeli: „Peindre avec le feu. Aubertin, Burri, Klein, Peeters, Piene“. In: Le Ciel Comme Atelier. Yves Klein et ses Contemporains, hrsg. von Claire Bonnevie, Metz 2020, S. 82-83.
[iii] Vgl. Antje Kramer-Mallordy, Rotraut Klein-Moquay, Yves Klein Germany, Paris 2017, S. 193.
[iv] Yves Klein, Werner Ruhnau, „Projekt für eine Luftarchitektur“, in: Mack, Piene 1961 (wie Anm. 10), o. S.
Die Werke der ZERO-Künstler, die das Feuer integrieren, befinden sich in einem Spannungsfeld zwischen Kreation und Destruktion. Während Tinguely und Saint Phalle ihre Arbeiten mittels destruktiver Gesten schufen[i], zelebrierten Mack mit seinem Feuerschiff, Piene mit seinen Feuerbildern und Klein mit seinen Feuerfontänen das Licht und die Farbe des Elements Feuer. Das Licht der Kerzenflamme findet sich in Bernard Aubertins (1934-2015) Tableaux-feu de poche[ii]und Macks Hommage à Georges de La Tour. Darüber hinaus beschäftigten sich weitere ZERO-Künstler mit der Kraft des Feuers, deren Werke und Projekte an dieser Stelle nicht vertieft wurden, etwa Henk Peeters mit seinen Pyrographien oder Günther Uecker mit der Beschießung des Meeres mit Feuerpfeilen (1970).[iii] Gemeinsam haben alle Künstler, dass sie mit dem Feuer eine Immaterialisierung ihrer Werke anstrebten. Im Zusammenhang mit den auf sie einwirkenden Kräften und Energien rufen die Materialien dieser Kunstwerke selbst unabhängige, mit der Zeit veränderliche Konstellationen hervor, sodass sich das Werk erfassen lässt als das zeitweilig die Objektgrenzen Überschreitende und bei der Betrachtung aktuell in Erscheinung Tretende.[iv]Bei ephemeren, destruktiven Arbeiten wie dem Feuerschiff oder Study for an End of the World No. 2 verlagert sich die Existenz des Kunstwerks deshalb vom realen Objekt in die mediale Wiedergabe.
[i] Restany (wie Anm. 26), S. 64.
[ii] Die Tableau-feu de poche von Bernard Aubertin wurden nur kreiert, um danach wieder verbrannt zu verbrennen. Das Streichholz wurde deshalb zum Signet Aubertins, vgl. Angeli 2020 (wie Anm. 32), S. 82-83. Mack betitelte sein Werk Der Engel des Bösen, um 1968, mit einem Gruß an Aubertin, da es sich um ein Projekt für ein zehn Meter hohes Streichholz handelte, vgl. Kunstverein Ahlen 1994 (wie Anm. 21), S. 182-183.
[iii] Zu Peters vgl. Angeli (wie Anm. 32), zu Uecker vgl. Katrin Salwig, Klaus Gereon Beuckers: „Verzeichnis der Aktionen von Günther Uecker, 1958-1975“, in: Günther Uecker, die Aktionen, hrsg. v. Klaus Gereon Beuckers, Petersberg 2004, S. 219-228.
[iv] Schmitt (wie Anm. 8), S. 12.
Zu Feuer
Endnotes
G Galerien
ZERO und die Galerien nach 1966 am Beispiel der Galerie Hubertus Schoeller
Nadine Oberste-Hetbleck
Die Kunstmarktforschung als verhältnismäßig junger, interdisziplinärer akademischer Bereich untersucht unter anderem die unterschiedlichen Einflüsse der Akteur*innen und Netzwerke im Kunstmarkt auf die Kanon-Bildung in der bildenden Kunst. Dazu zählen als eine relevante Gruppe auch Galerist*innen, die junge Künstler*innen häufig seit dem Beginn ihrer beruflichen Laufbahn begleiten: In Galerien werden ihre Werke oft erstmalig der Öffentlichkeit präsentiert und verkauft, es werden Ausstellungskataloge erarbeitet und produziert, großformatige Werke (vor-)finanziert und Kontakte zu Ausstellungseinrichtungen vermittelt. Galerist*innen arbeiten als Gatekeeper des Kunstmarktes. Der Soziologe Hans Peter Thurn verweist darauf, dass der „Galerist […] in das Gewand eines Öffentlichkeitsarbeiters“ für die Kunstschaffenden schlüpfe.[i] Dies bedeutet, dass Galerist*innen Ansprachen halten, Texte verfassen, Editionen herausgeben und weitere Aktivitäten verfolgen, um künstlerische Positionen bekannt zu machen und die jeweiligen Werke zu vermitteln. Um die Leistungen der einzelnen Akteur*innen und die Zusammenarbeit zwischen Künstler*innen und Galerist*innen sichtbar zu machen, bedarf es eingehender, quellenbasierter Studien. Das ZADIK | Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung mit seinem Spezialarchiv zum Kunstmarkt bietet mit Blick auf die Erforschung der ZERO-Bewegung reichhaltiges Archivmaterial zu verschiedenen, mit ZERO verbundenen Galerien, so beispielweise Rochus Kowallek, Frankfurt am Main (A 18), Galerie art intermedia (Helmut Rywelski), Köln (A 103) oder Galerie Schoeller, Düsseldorf (A 71).
Dank der Forschungsleistungen der letzten Jahre, so beispielsweise Thekla Zells äußerst fundierter Studie, gibt es bereits tiefere Erkenntnisse zur Zusammenarbeit einiger Künstler mit den Galerien in der für die Konstituierung von ZERO wichtigen Zeit vom Ende der 1950er bis Anfang der 1960er Jahre. Noch eingehender zu beleuchten, bleibt aber der Blick auf die Jahre nach dem „offiziell“ deklarierten Ende der Zusammenarbeit im Kontext von ZERO durch die Künstler Heinz Mack (*1931), Otto Piene (1928-2014) und Günther Uecker (*1930) im Jahr 1966. Hierzu möchte der vorliegende Beitrag exemplarisch Impulse geben und zu weiterer Forschung animieren.
[i] Hans Peter Thurn, Der Kunsthändler. Wandlungen eines Berufes, München 1994, S. 124.
Bekannt ist, welche Bedeutung von Anbeginn die öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen für die Etablierung von ZERO hatten, begonnen mit den Abendausstellungen, die – um mit Thekla Zell zu sprechen – „im Sinne einer Proto-Galerie als Schleuse in die Öffentlichkeit“[i]fungierten. Zell führt weiter auch den kooperativen Gedanken der Künstler aus, die sowohl in der Galerie Schmela und Galerie 22 in Düsseldorf als auch in den Abendausstellungen ihre Werke präsentierten, und zeichnet den Übergang vom Atelier beziehungsweise den Abendausstellungen in die Galerie nach, der sich beispielsweise mit der dritten Ausgabe der Zeitschrift ZERO 3 im Jahr 1961 zeigte: Diese Ausgabe wurde nicht mehr im Atelier präsentiert, sondern in der Galerie Schmela[ii] und war gleichzeitig die erste umfassende Dokumentation sowie der Abschluss der ersten Konstituierungsphase von ZERO. Dazu gab es die Veranstaltung Zero Edition Exposition Demonstration: die erste, von Mack, Piene und Uecker organisierte Veranstaltung der neuen Bewegung, die unter der Bezeichnung ZERO stattfand.[iii] Nicht nur weil er gemeinsam mit seiner Frau Monika Schmela die ersten deutschen Galerieeinzelausstellungen von Mack, Piene und Uecker organisierte,[iv] waren Alfred Schmelas Aktivitäten zur Konstituierung und Etablierung von ZERO in Deutschland wesentlich. Dies führte auch zu Otto Pienes bekanntem Ausspruch „Zero war für ihn genauso wichtig, wie er für Zero.“[v], der in der 1993 erschienenen Publikation Zero. Mack, Piene, Uecker des Kunstkritikers Heiner Stachelhaus nachzulesen ist. Darüber hinaus gab es weitere wichtige Protagonisten wie Rochus Kowallek mit der d(ato) galerie oder Galerie d, Gerhard von Graevenitz und Jürgen Morschel mit der Galerie nota sowie Kurt Fried mit dem Studio f. Ihr Einsatz wurde ebenfalls bei Zell tiefergehend herausgearbeitet.
[i] Thekla Zell, EXPOSITION ZERO. Vom Atelier in die Avantgardegalerie, zur Konstituierung und Etablierung der Zero-Bewegung in Deutschland am Beispiel der Abendausstellungen, der Galerie Schmela, des studio f, der galerie nota und der d(ato) Galerie, Diss. Kiel 2018, Wien 2019, S. 131.
[ii] Vgl. Zell (wie Anm. 1), S. 127.
[iii] Vgl. Zell (wie Anm. 1), S. 134; Wiederholt wurde die Demonstration in der Galerie A in Arnheim, 09.-30.12.1961, siehe: „Chronologie“, in: ZERO – Internationale Künstler-Avantgarde der 50er/60er Jahre, hrsg. von museum kunst palast Düsseldorf, Ausst.-Kat. Ostfildern 2006, S. 276. Tiziana Caianiello, „Ein „Klamauk“ mit weitreichenden Folgen. Die feierliche Präsentation von ZERO 3“, in: 4 3 2 1 ZERO, hrsg. von Dirk Pörschmann, Mattijs Visser, Düsseldorf 2012, S. 510-526, hier S. 513 verweist darauf, dass es bereits vorher 1959 im Rotterdamse Kunstkring eine Ausstellung mit dem Titel Zero ohne Beteiligung der Düsseldorfer Künstler gegeben hatte.
[iv] Zell (wie Anm. 1), S. 133.
[v] Otto Piene, in: Heiner Stachelhaus, Zero. Heinz Mack, Otto Piene, Günther Uecker, Düsseldorf 1993, S. 155.
Auch wenn die gemeinsame Ausstellung ZERO in Bonn 1966 (25.11.-31.12.1966) mit dem ZERO-Mitternachtsball als begleitendes Fest unter dem Motto „ZERO ist gut für dich“ im Bahnhof Rolandseck (25./26.11.1966) mit rund 2.000 Besucher*innen[i] „offiziell“ als Ende der Kooperation von Mack, Piene und Uecker und damit von ZERO gilt, arbeiteten sowohl der ursprünglich engere Kern als auch jene, welche unter dem Begriff ZERO ausgestellt hatten, als einzelne Künstlerpersönlichkeiten weiter und es kam zudem zu weiteren gemeinsamen Aktionen von Mack, Piene und Uecker. Diese Aktivitäten sowie die Arbeit von Galerien, Ausstellungshäusern, Sammler*innen und Auktionshäusern waren wesentlich für die Rezeption sowie für die weitere und vor allen Dingen nachhaltige Etablierung dessen, was heute unter ZERO im kunsthistorischen Kanon verankert ist.
Beispielhaft werden dazu die Aktivitäten des Galeristen Hubertus Schoeller untersucht. Sein Archivbestand im ZADIK umfasst neben eigenen Einladungskarten, Pressezusammenstellungen und Korrespondenzen auch Unterlagen zu Ausstellungsvorbereitungen[ii], Katalogarbeiten[iii]sowie Festen. Wertvolle zusätzliche Hinweise gab das im Juli 2023 mit Schoeller geführte Interview, welches an verschiedenen Stellen herangezogen wird.[iv]
[i] Vgl. Thekla Zell, „Wanderzirkus ZERO“, in: ZERO, hrsg. von Dirk Pörschmann, Margriet Schavemaker, Ausst.-Kat. Martin-Gropius-Bau, Berlin,, Köln 2015, S. 19-178, hier S. 169.
[ii] Korrespondenzen über Leihgaben/Akquisition von verkäuflichen Werken, Hängepläne.
[iii] Dazu zählen Anfragen zur Veröffentlichungsgenehmigung, Bitten um Unterstützung bei der Erstellung der ZERO-Ausstellungslisten, Materialsammlungen zu den historischen Ausstellungen, Korrekturfahnen, Unterlagen zur Katalogdistribution.
[iv] Hubertus Schoeller im Gespräch mit Nadine Oberste-Hetbleck, Düsseldorf 11.07.2023.
Hubertus Schoeller stieg 1974 in die Düsseldorfer Galerie Ursula Wendtorf und Franz Swetec in der Bilker Straße 12 ein,[i] also zu einer Zeit als ZERO bereits zur „Geschichte“ gehörte. Die Galerie besaß zu diesem Zeitpunkt keinen spezifischen Programmfokus, wenngleich ZERO-Künstler in den fünf Jahren des Bestehens eine größere Präsenz hatten, wie anhand der Ausstellungseinladungen nachzuvollziehen ist.[ii]
Bereits im Folgejahr übernahm Schoeller die Galerie und zog später, im März 1980, mit dem geänderten Namen Galerie Hubertus Schoeller „in die neuen, von Nils Sören Dubbick kongenial zum Galerieprogramm gestalteten Räume in der Düsseldorfer Poststraße 2. Dort präsentierte er bis zu seiner letzten Ausstellung im August 2003 mehr als fünfzig Künstler:innen aus den USA, Argentinien, Brasilien, Russland und fast allen europäischen Ländern.“[iii]
[i] Schoeller führte nach der Übernahme zur Ausstellung 33 Sovak die Galerie zunächst unter dem Namen Galerie Ursula Wendtorf und Franz Swetec, Inhaber Hubertus Schoeller weiter. 1976 folgte die Umbenennung in Galerie Schoeller vorm. Wendtorf + Swetec.
[ii] Piene war mit drei Einzelausstellungen vertreten, auch Uecker hatte eine Einzelpräsentation. Mack trat erst in einer Gruppenausstellung Ende 1974 in Erscheinung. Darüber hinaus finden sich mit Hermann Bartels, Hermann Goepfert, Walter Leblanc, Oskar Holweck und Ferdinand Spindel weitere Künstler, die unter dem Begriff ZERO an anderen Stellen ausstellten.
[iii] Siehe Bestandsbildnerprofil des ZADIK zum Bestand A 71, https://zadik.phil-fak.uni-koeln.de/archiv/bestandsliste/a-71-schoeller-duesseldorf. (04.01.2024)
Wenn bisher und im Folgenden von Künstlern die Rede ist, dann auch vor dem Hintergrund, dass in der Galerie Schoeller fast ausschließlich männliche Künstler vertreten waren. Ausnahmen bildeten beispielsweise Aurélie Nemours oder Hannelore Köhler mit einer Einzelausstellung und einzelne Künstlerinnen in Gruppenausstellungen.[i] Insgesamt handelte es sich aber um ein stärker von männlichen Positionen geprägtes Programm, was auch die damalige Situation im Kunstmarkt widerspiegelte.
[i] Vera Molnar, Nelly Rudin, Dadamaino, Garcia Varsco waren in jeweils einer Gruppenausstellungsbeteiligung bei Schoeller zu sehen. In der Zeit, als die Galerie noch Ursula Wendtorf und Franz Swetec gehörte, tauchten im Programm die Künstlerinnen Gerlinde Beck, Rune Mields, Claudia Kinast, Mira Haberernova oder Karina Raeck auf.
Was vertrat die Galerie inhaltlich? Kurz zusammengefasst kann festgehalten werden, dass die „Reduktion auf das Wesentliche und die materielle Perfektion für Schoeller den Kern des von ihm vertretenen Kunstprogramms ausmachten“[i]. In den Jahren seit seinem Galerieeinstieg und besonders seit dem Umzug in die neuen Räume spezialisierte er sich auf die konstruktiv-konkrete und die Kunst der Gruppe ZERO.
[i] Siehe Bestandsbildnerprofil des ZADIK zum Bestand A 71 (wie Anm. 13).
Die Rolle, welche ZERO in der Galerie Schoeller spielte, lässt sich bereits am Ausstellungsprogramm mit Blick auf Mack, Piene und Uecker ablesen.[i] Hinzu kamen die Ausstellungsprojekte außerhalb der Galerie wie beispielsweise das Gemeinschaftsprojekt ZERO – eine europäische Avantgarde[ii] 1993, die Schoeller unterstützte, sowie die Kunstmessepräsentationen beispielsweise in Köln oder Basel. Schaut man über diese drei Künstler hinaus, finden sich viele weitere Künstler im Programm der Galerie, die im Kontext von ZERO ausgestellt haben. So wurden beispielsweise Christian Megert (*1936), Bernard Aubertin (1934-2015), Hermann Goepfert (1926-1982), Jef Verheyen (1932-1984), Hermann Bartels (1928-1989) und Walter Leblanc (1932-1986) oder Almir Mavignier (1925-2018), Jesús Rafael Soto (1923-2005), Dadamaino (1930-2004), Uli Pohl (*1935) sowie die Gruppe Nul mit Jan Schoonhoven (1914-1994), Armando (1929-2018), Jan Henderikse (*1937) und Henk Peeters (1925-2013) präsentiert.
[i] Von den drei ZERO-Kernkünstlern erhielt Piene nach der Galerieübernahme durch Schoeller 1976/77 als erster eine Einzelausstellung – es folgten sechs weitere Einzelpräsentationen (1980, 1984, 1987/88, 1991, 1995, und 2000) und zusätzlich drei Gruppenausstellungen (1977/78, 1978/79, and 1988). Macks Werke wurden in drei Einzelausstellungen (2001, 98, 93/94) und fünf Beteiligungen an Gruppenausstellungen (1977/78, 1978/79, 1981/82, 1986, und 1988) präsentiert. Uecker war an drei Gruppenausstellungen (1978/79, 1981/82, and 1988) beteiligt.
[ii] Die Ausstellung wurde an drei Stationen – Galerie Neher Essen, Galerie Heseler München und dem Mittelrhein-Museum Koblenz – gezeigt und durch einen Katalog begleitet.
Schoeller selbst sieht sich in Düsseldorf nach Alfred Schmela und seinem Kollegen Hans Mayer, der den Boden für die konkrete Kunst und ZERO nach dem Ende der Kooperation der drei Künstler Mack, Piene und Uecker 1966 geebnet hatte, als Solitär in der nachhaltigen Galerie-Repräsentanz von ZERO in Deutschland:
„Es gab welche, die Mack oder Uecker ausgestellt haben, aber als Einzelkünstler und das, was sich kommerziell verkaufte. Aber die Künstler, die nicht in vorderster Front standen, wie Hermann Bartels aus Düsseldorf oder Uli Pohl oder Hermann Goepfert, da bin ich der einzige [Galerist] gewesen, der sie ausgestellt hat und versucht hat, ZERO in der Breite und Vielzahl seiner Künstler systematisch zu dokumentieren und aufzuarbeiten. […] Aber posthum, nach der ZERO-Zeit.“
Das vom ZADIK bereits im Rahmen von zwei themenmonografischen Ausstellungen in Ansätzen aufgearbeitete Wirken Schoellers soll im Folgenden vertieft werden. Im Zentrum steht ein Projekt von Schoeller, welches in seinem Einsatz für die Sichtbarmachung von ZERO herausragte und zunächst mit einer Ausstellung begonnen hatte, die anlässlich der 700-Jahr-Feier der Stadt Düsseldorf im Rahmen einer „parallel“-Aktion der Düsseldorfer Galerien zum Thema Düsseldorfer Künstler präsentiert wurde.[i] Unter dem Titel Gruppe Zero zeigte Schoeller vom 16. September bis zum 16. November 1988 insgesamt 42 Arbeiten von 32 Künstlern, alle Werke datierten aus der Zeit 1957-60.
[i] Ute Grundmann, „Die Kunst im Kontrast“, in: NZR (Neue Rhein/Ruhr Zeitung), Nr. 217, 16.09.1988: „Seit 1983 begleiten sie [parallel-Aktionen] große Ausstellungen mit einer gemeinsamen Aktion.“.
Schoeller sprach dazu vorbereitend unter anderem auf den Messen wie in Basel mit Besitzer*innen von Werken aus der Zeit – Sammler*innen, Künstler*innen – und bemühte sich um Exponate, die auch verkäuflich sein sollten. Unterstützt wurde er insbesondere von Piene, der unter anderem das Plakat zur Ausstellung gestaltete[i] und auch als Leihgeber für Exponate fungierte. Der Blick auf die Leihgeber*innenliste zeigt, dass grundsätzlich ein größerer Teil der Werke von Künstlern geliehen wurden – teilweise die eigenen Werke, aber teilweise auch Arbeiten von den Künstlerkollegen, die sie besaßen. Ferner unterstützte das städtische Museum Leverkusen Schloss Morsbroich mit einer Leihgabe. Die Werke selbst stammten nicht nur aus der Zeit, sondern hatten oft auch konkrete historische Bezüge: Almir Mavigniers Verschiebung eines Zentrums (Störung) war ebenso wie Yves Kleins rotes, rundes Keramikobjekt o.T.[ii] auf der 7. Abendausstellung 1958 ausgestellt gewesen, Verheyens Bild ohne Titel auf der Biennale Sao Paulo 1967, Ueckers Skulptur Dancer of New York war in Amsterdam bei der Ausstellung Null 1965 und in der bereits thematisierten Ausstellung von Mack, Piene und Uecker in Bonn 1966 zu sehen gewesen.
[i] Brief von Hubertus Schoeller an Otto Piene, Düsseldorf, 09.08.1988; mit handschriftlicher Antwort von Piene an Schoeller, 16.08.1988. Das Plakat wurde für 15,- DM – signiert für 50,- DM – in der Galerie verkauft.
[ii] Leihgeber des letzteren Werks war niemand anderes als Architekt Werner Ruhnau, wie die Presse kommunizierte, siehe Helga Meister, „Aus der Jugend der ZERO-Stars“, in: WZ (Westdeutsche Zeitung), 05.11.1988.
Die lokale Presse lobte die Schau als „museumsreife Ausstellung“[i], es war von einem „Andrang […] auf die „Zero“-Ausstellung der Galerie Schoeller“[ii] die Sprache. Schoeller hatte bewusst die Kooperationsveranstaltung der Düsseldorfer Galerien gewählt, um möglichst viel Aufmerksamkeit für seine Ausstellung zu erhalten. Im Anschluss an das positive Echo entschied er sich, nachträglich einen Katalog zum Ausstellungsprojekt zu veröffentlichen. Auch hier spielte Piene eine Rolle, wie Schoeller sich erinnert:
[i] Meister (wie Anm. 20); ebenso o.V., „Von Galerie zu Galerie. Die goldenen Jahre der Avantgarde“, in: Düsseldorfer Hefte, Nr. 19, 01.10.1988.
[ii] b.m., „Auftrieb bei ‚parallel‘“, in: Rheinische Post, Nr. 218, 19.09.1988.
„Ich hatte die ZERO-Ausstellung gemacht und dann fand Piene sie so wichtig, dass er sagte, ich müsste den Katalog noch dazu herausgeben. Das habe ich dann auch gemacht. Ohne Piene wäre der ganze Katalog nicht entstanden. Die Zusammenarbeit war sehr eng, er hat mich viel unterstützt und ich ihn auch, das war wechselseitig. Es gab den Vorteil, dass die Katalogkonzeption posthum nach der Ausstellung war und ich Zeit hatte zu arbeiten. Was man heute mittlerweile schnell über das Internet herauskriegen kann, war damals grundsätzlich sehr schwierig zu ermitteln und ging nicht so schnell.“
In der Tat lässt sich anhand der Archivalien bestehend aus Korrespondenz mit Galerien, Museen, Sammler*innen und Wissenschaftlicher*innen nachvollziehen, dass Schoeller mehr als ein halbes Jahr intensive Recherche, Konzeption und Redaktion betrieben hat.[iii] Charakteristisch für den Katalog Schoellers ist sein Anspruch über eine reine Dokumentation der Ausstellung hinauszugehen: Neben der Reproduktion der ausgestellten Werke und Installationsfotos enthielt er Statements der drei ZERO-Künstler[iv] zum damals gegenwärtigen Stand von ZERO, eine archivarische Dokumentation mit Einladungen aller Abendausstellungen[v], den Covern der ZERO-Hefte mit Inhaltsverzeichnissen und historischen Fotos aus der ZERO-Zeit. Darüber hinaus – und hier war der arbeitsintensive Einsatz gefragt – hatte Schoeller ein chronologisch sortiertes „Verzeichnis der Ausstellungen der Gruppe Zero“ erstellt. Daraus überführte er dann die Künstler*innen in ein alphabetisch sortiertes Verzeichnis, aus dem zu entnehmen ist, an welchen ZERO-Ausstellungen sie in chronologischer Reihenfolge teilgenommen hatten. Wieso kam es dazu? Schoeller erinnert sich:
[iii] Vgl. ZADIK, A 71, VIII: Zero-Katalog, Zero Ausstellung 1959-1996: Hier sind Schreiben für den Zeitraum vom 19.04. bis 28.09.1989 gesammelt. Notizen auf den Schreiben zeigen, dass viele Informationen auch mündlich bzw. telefonisch eingeholt wurden.
[iv] Schoeller 2023 (wie Anm. 10): „Und dann hatte ich Mack, Piene, Uecker gebeten, ihre Sicht der Dinge zu ZERO heute wiederzugeben. Piene schreibt dann ganz klar: ZERO ist heute noch gültig, Mack sagt, das war eine wichtige Periode, aber es ist vorbei und Uecker geht gar nicht darauf ein, was auch eine Antwort ist.“.
[v] Schoeller 2023 (wie Anm. 10): „Ferner waren alle 9 Einladungen der Abendausstellungen enthalten, die ich von Piene erhalten hatte.“.
„Mich hatte immer gestört, dass, wenn Sie Mack, Piene, Uecker fragen, wer gehört zu ZERO, Sie drei unterschiedliche Antworten erhalten. ZERO war ja nie eine feste Gruppe, sondern ein Freundeskreis, wie Piene immer sagte. Insofern kann man nicht sagen, das und das gehört zu ZERO, sondern: Das war der enge Kern, das war der mittlere Bereich und das war der Außenbereich. Um das einmal auf eine etwas objektivere Basis zu stellen, hatte ich ermittelt, wer an den ZERO-Ausstellungen teilgenommen hat und das dann umgegliedert: Man kann so sehen, an wie vielen ZERO-Ausstellungen ein Künstler teilgenommen hat. Das ist das einzige objektive Kriterium für die Frage, welchen Künstler man in welchem Umfang zu ZERO zählt. Man kann nicht nummerisch vorgehen und sagen, wer viermal teilgenommen hat gehört dazu und wer dreimal nicht. Es ist eine sachliche Grundlage.“
Mit zeitlicher Distanz zum Projekt reflektiert Schoeller: „Es war ein Anhaltspunkt, wobei ich es heute anders machen würde. Ich habe damals nur die Ausstellungen aufgenommen, die ZERO auch im Titel hatten. So fielen einzelne, wie die Antwerpener Ausstellung [Vision in Motion – Motion in Vision, 1959 im Hessenhuis, NOH], raus und Adolf Luther ist nicht drin – das würde ich heute mitaufnehmen.“ Dieses ambitionierte Vorhaben benötigte eine umfangreiche Recherche und die Mithilfe zahlreicher Personen und Einrichtungen. Schoeller fragte nach Bestätigung der Durchführung der jeweiligen Ausstellungen, den Künstlerlisten, erbat die Zusendung von Flyern oder Einladungen oder um Kauf des zugehörigen Katalogs – dies hat zu einer reichhaltigen Materialsammlung von Ephemera aus der historischen Zeit von ZERO im Bestand Schoeller geführt, ein richtiger Quellenfundus, der gleichzeitig auch bereits damals die geografische Ausdehnung physisch veranschaulichte.[vi] Nicht umsonst gestaltete Schoeller anknüpfend an eine Idee von Heinz Mack eine Weltkarte der ermittelten ZERO-Ausstellungen, welche direkt auch für den Galeristen einen neuen Erkenntniswert hatte, da die veranstalteten ZERO-Ausstellungen eine dominante Nord-Süd-Ausdehnung sichtbar machten. Die geografische Visualisierung beispielsweise von Ausstellungen oder Kunstmessen ist eine Methodik, die in den letzten Jahren dominanten Eingang in die Ausstellungsforschung gefunden hat, oft mit Unterstützung der Digital Humanities. Schoeller hat diesen Ansatz avant la lettre fruchtbar gemacht und hält selbst fest: „Das ist mehr ein Katalog zum Forschen und Arbeiten als ein Bilderkatalog gewesen.“ Für 76,- DM vertrieb die Galerie dann den in Eigenregie in einer Auflage von 1.500 Exemplaren produzierten Katalog. Das Erscheinen der Publikation wurde mit einem ganz der ZERO-Tradition verpflichteten Fest am 9. Dezember 1989 gefeiert. Dazu berichtet Schoeller:
[vi] Vgl. ZADIK, A 71, VII.
„Der Katalog kam nach der Ausstellung raus, deshalb musste dann eine Präsentation gemacht werden und das war das ZERO-Fest. Die ganzen Ideen dazu waren von Piene. […] Ich habe vier Wochen nur für dieses Fest gearbeitet, es war ein Highlight in meiner Laufbahn. Und nur mit persönlicher Einladung kam man rein. Piene hatte schwarz-weiß als Motto für das Fest vorgegeben. Ich bin aber ein Gegner allen Mottos und Zwangsvorgaben. Also habe ich die Einladung ohne das Motto gedruckt. Piene hat das dann aber verlangt, und so wurde das Motto nachträglich schräg oben drüber gedruckt. Es kamen auch alle in schwarz-weiß, Uecker hatte die Hälfte schwarz, die andere weiß. Der Einzige, der sich nicht darangehalten hat, war Piene selbst. Ich muss sagen – insofern pater, peccavi –, das hat er mir nachher erzählt: Das war sein Anzug, den er zu seiner ersten ZERO-Vernissage getragen hat. Es war im Wesentlichen auch Pienes Idee, eine Prozession über den Maxplatz mit Wunderkerzen und sonstigen Geschichten zu realisieren. Sein Assistent, Günter Thorn, hat hierzu 100 Tonpapier-Zylinder gemacht. Da war dann auch alles dabei, was zu ZERO gehörte, an Sammlern wie an Künstlern. […] Das war wieder wie zu der Zeit damals: Es geschah eigentlich nichts Besonderes und trotzdem viel. Denn sich einen Zylinder aufzusetzen, ist ja keine große Geschichte, aber es hatte seinen eigenen Charakter und seine eigene Note.“
Der von Schoeller beschriebene und von Werner Raeune in einer Videosequenz gefilmte festliche ZERO-Abend fand am besagten Datum von halb neun Uhr bis Mitternacht in der Galerie Schoeller statt. Tatsächlich knüpfte das Motiv des schwarzen Pappzylinders an Vergleichbares in der ZERO-Geschichte an: Auf der Expositie Demonstratieim Dezember 1961 in der Galerie A in Arnheim waren bereits schwarze Pappröhren mit weißen ZERO-Schriftzügen getragen worden.[vii] Am 10. Februar 1964 waren Mack, Uecker und Piene im Düsseldorfer Karneval beim Rosenmontagsumzug mitgezogen und hatten dort ebenfalls schwarze, hohe Papphüte getragen.[viii] Ergänzt wurde dieses bereits im Einsatz gewesene Element mit den Wunderkerzen. Auffällig ist die Wertschätzung, die die Beteiligten den Requisiten beim Fest zukommen ließen: Erkannt als Sammelobjekt ließen sie sich die Hüte von den Künstlern signieren, ebenso den Katalog.
[vii] Foto 29.2 in: 4 3 2 1 ZERO, hrsg. von Dirk Pörschmann, Mattijs Visser, Düsseldorf 2012, S. 510-526, hier S. 454.
[viii] Caianiello (wie Anm. 4), S. 510-526 beschäftigt sich eingehend mit den ZERO-Präsentationen und ihren Verbindungen zu vergangenen Avantgarden wie Dada und insbesondere Futurismus. Sie zeigt hier S. 521 f. ebenso die Verbindung der drei Düsseldorfer Künstler zu karnevalistischen Elementen auf.
Beachtlich war die Resonanz zum Fest: Bereits visuell im Film und auf den Fotografien zeigt sich eine große Menschenmenge. Eine Notiz auf einem Bierdeckel im Archivbestand bestätigt, dass 410 Personen angemeldet waren und schließlich 350 kamen.
Schoeller selbst bewertet die Bedeutung für die Sichtbarkeit für ZERO hoch:
„Da ist, würde ich sagen, ZERO dann das erste Mal wieder auferstanden. Denn das erste Mal, soweit ich mich erinnere, machte das Kunsthaus Zürich [Zero: Bildvorstellungen einer europäischen Avantgarde 1958-1964, 01.06.-05.08.1979, NOH][i] [nach dem offiziellen Ende der Bewegung, NOH] eine sehr gute ZERO-Ausstellung, dann war eine Pause.“
[i] Laut Ursula Perucchi-Petri gab die Ausstellung „zum ersten Mal einen historischen Rückblick auf das Phänomen Zero“, in: Zero. Bildvorstellungen einer europäischen Avantgarde. 1958 – 1964, hrsg. von Ursula Perucchi-Petri, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich, Zürich 1979, S. 6. Darin enthalten waren neben kunsthistorischen Texten zu den Künstlern der Ausstellung einzelne historische Fotos, Textauszüge unter anderem aus vergangenen Katalogen, Interviews und 20 Künstlerbiografien.
„Akribisch ist hier aufgelistet, was für diese Künstlergruppe charakteristisch ist: […] Weil dies zum erstenmal [sic] und so komplett geschieht, hat Galerist Schoeller damit das längst überfällige, jetzt umso nachdrücklicher hervorzuhebende Handbuch und Nachschlagewerk vorgelegt.“[v]
[v] Kur, „Schoeller, Düsseldorf“, in: Handelsblatt, Nr. 26, 06.02.1990. S. 26.
Tatsächlich gab es zum Ende der 1980er Jahre eine gewisse Bewegung in der Sichtbarkeit für ZERO. Eine Rolle spielte dabei die Privatsammlung Lenz Schönberg, die zu mehreren Orten weltweit tourte.[ii]Für die damalige Rezeption hielt Armin Zweite aber 1988 im zugehörigen Katalog noch fest: „Trotz vielfältiger Bemühungen läßt sich freilich kaum sagen, daß die Ziele von ZERO einen größeren Stellenwert im Bewußtsein der kunstinteressierten Öffentlichkeit gewonnen hätten.“[iii] Mit Blick auf die kunsthistorische Bearbeitung sind deshalb Projekte von Bedeutung, die mit wissenschaftlichem Anspruch die Historie aufarbeiteten, wie die Promotionsschrift von Anette Kuhn[iv] 1988 und auch Schoellers Publikation. Die Presseberichte zeigten sich dementsprechend von seiner Dokumentation beeindruckt: „Akribisch ist hier aufgelistet, was für diese Künstlergruppe charakteristisch ist: […] Weil dies zum erstenmal [sic] und so komplett geschieht, hat Galerist Schoeller damit das längst überfällige, jetzt umso nachdrücklicher hervorzuhebende Handbuch und Nachschlagewerk vorgelegt.“[v] Mit dieser Einschätzung sollte der Autor recht behalten: Schoeller schuf mit seiner Publikation ein wichtiges Nachschlagewerk, das sicher die Grundlage für einige in der Folge durchgeführte Museumsausstellungen gewesen ist. Günter Herzog bewertete sie 2006 zurückblickend als „eine der bis dahin vollständigsten Dokumentationen zur Geschichte der Bewegung“.[vi]
[ii] Nach einer frühen Präsentation im Frankfurter Städel 1974/75 war die Sammlung bereits 1985 in größerem Umfang in einem Kinosaal der Salzburger Innenstadt gezeigt worden und dann kurz nach Schoellers Eröffnung der Ausstellung Gruppe Zero Ende September 1988 in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in München. Vgl. ZERO. Vision und Bewegung. Werke aus der Sammlung Lenz Schönberg, hrsg. Städtische Galerie im Lenbachhaus, Ausst. Kat., München 1988. Schoeller (wie Anm. 10) erinnert sich 2023 auch an die internationalen Präsentationen: „In den 90er Jahren war es dann die Sammlung Lenz, die als Ausstellung durch die Welt lief – Madrid, Moskau.“ Vgl. Sammlung Lenz Schönberg: eine europäische Bewegung in der bildenden Kunst von 1958 bis heute, hrsg. von Hannah Weitemeier, Ausst.-Kat. Zentrales Künstlerhaus am Krimwall Moskau, Stuttgart 1989.
[iii] Armin Zweite, „Vorwort“, in: Städtische Galerie im Lenbachhaus (wie Anm. 30), S. 7-8, hier S. 7.
[iv] Kuhn hat sich in ihrer Promotionsarbeit Zero und Yves Klein. Aspekte einer deutschen Avantgarde der sechziger Jahre bei Eduard Trier in Bochum als eine der Ersten intensiv auf wissenschaftlicher Ebene mit ZERO beschäftigt.
[v] Kur, „Schoeller, Düsseldorf“, in: Handelsblatt, Nr. 26, 06.02.1990. S. 26.
[vi] „ZERO ist gut für dich“, in: sediment – Mitteilungen zur Geschichte des Kunsthandels, hrsg. von Zentralarchiv des internationalen Kunsthandels, Heft 10, Nürnberg 2006, S. 7.
Die enge Verbindung zwischen Schoeller und ZERO ließe sich für die weiteren Jahre noch ausführlicher darstellen, weitere Projekte könnten beleuchtet werden. Immer wieder bot seine Galerie Präsentationen rund um ZERO eine Plattform – so auch für die gemeinsame Vorstellung der bereits erwähnten Monografie Zero. Mack, Piene, Uecker von Heiner Stachelhaus mit dem Econ-Verlag am 12. Mai 1993.[i]
[i] Im Vorwort seiner Publikation konstatierte Stachelhaus (wie Anm. 6) zur damaligen Resonanz für ZERO: „Ein zusätzliches Motiv [diese Publikation zu verfassen, NOH] ist das Interesse der Sammler, Museen und Galerien für Zero, das in den letzten Jahr peu à peu zugenommen hat.“
Der nachhaltige Einsatz von Hubertus Schoeller für ZERO und die konstruktiv-konkrete Kunst allgemein zeigte sich aber auch über die Galerietätigkeit hinaus: Im Jahr der Schließung seiner Galerie gründete er 2003 die am Leopold-Hoesch-Museum in Düren ansässige Hubertus-Schoeller-Stiftung, die seine Sammlung konstruktiv-konkreter Kunst umfasst. 2006 war er Mitinitiator der im Museum Kunstpalast unter der Generaldirektion von Jean-Hubert Martin gemeinsam mit Heike van den Valentyn und Mattijs Visser kuratierten Ausstellung ZERO. Internationale Künstler-Avantgarde der 50er/60er Jahre: Impulse zu Letzterer wurden in einem Gespräch mit Otto Piene und Jean-Hubert Martin in der Galerie Schoeller entwickelt.[i] Im Kontext dieser Ausstellung wurden auch die schwarzen Pappzylinder des Schoeller´schen ZERO-Festes wieder aufgegriffen. Die international ausgerichtete Retrospektive war zudem wesentlicher Anstoß für die Gründung der ZERO foundation 2008[ii], deren Freundeskreis Schoeller lange Zeit als Vorsitzender vorstand. Die fortwährende Verbundenheit zwischen Galerist und Künstlern spiegelt sich auch im Folgenden von Hubertus Schoeller erinnerten Ausspruch wider:
[i] In dieser Zeit lassen sich auch weitere Ausstellungprojekte rund um ZERO erkennen: Die Sammlung Lenz Schönberg wurde im Salzburger Mönchsberg vom 21.01.-26.03.2006 gezeigt, dann fand die Ausstellung des ZADIK Zero ist gut für dich auf der Cologne Fine Art vom 15.-19.02.2006 statt.
[ii] Vgl. www.kunstpalast.de/de/programm/sammlung/zero-foundation (04.01.2024), siehe auch www.zerofoundation.de (04.01.2024).
„Und das sagte Piene auch ganz klar: ‚Die Galerie Schoeller wäre ohne ZERO nicht denkbar und ZERO ist ohne die Galerie Schoeller nicht denkbar.‘“
Mehr zu Galerien
Endnotes
H Hommage
ZEROs vielfältige künstlerische Hommagen
Romina Dümler
Eine Hommage, deutet auf jemanden hin, dem oder der man sich verpflichtet oder von dem/der man sich positiv beeinflusst fühlt. Es ist eine öffentliche Huldigung – ein wohlklingender Liebesbeweis.
In den Werktiteln der ZERO-Künstler*innen wimmelt es von Verweisen die, ganz typisch für künstlerische Produktionen, durch die französische Wendung „Hommage à“ ausgedrückt werden. Dieser Beitrag versammelt eine Auswahl solcher ZERO-Arbeiten.
Heinz Mack (*1931) hat viele Werke seinen Kollegen, aber auch Vorbildern aus vergangenen Epochen gewidmet.
Der Kreis, mit dem er sich und seine Werke in Verbindung bringt, reicht vom 17. Jahrhundert bis zu den Zeitgenossen, von Georges de La Tour (1593-1652), über Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), Pablo Picasso (1881-1973) bis hin zu Josef Albers (1888-1976).
Der französische Barock-Maler de La Tour wurde dadurch bekannt, dass er mittels einer gemalten Kerze eine dramatische Lichtführung in seinen Nachtszenen erzeugt. Das Kerzenlicht greift Heinz Mack auf und zeigt – oder besser inszeniert – 1960 in der Berliner Galerie Diogenes seine Hommage à Georges de la Tour. 1966 wird er in der Galerie Schmela die Arbeit erneut aufführen.[i] Beide Male erleuchten rund 200 Kerzen, einen mit einer Spiegelfolie ausgekleideten Raum, in dem sich der warme Lichtschein potenziert.
[i] Das Ausstellungsplakat zu „Mack“, in dessen Rahmen die Arbeit präsentiert wurde, ist im Archiv der ZERO foundation, VL Heinz Mack, erhalten. Inv. Nr. mkp.ZERO.1.VII.36.
Manchmal wählt Mack anstelle des französischen „Hommage“ das leichtfüßigere „Gruß an“ als Verweis auf Künstlerkollegen im Geiste – wie im Werk Siehst du den Wind? (Gruß an Tinguely)[i]von 1962 oder Engel des Bösen (Gruß an Aubertin), um 1968.
[i] Sammlung der ZERO foundation, Inv. Nr. mkp.ZERO.2008.16.
Jesús Rafael Soto (1923-2005) referenziert auf die für Yves Klein (1928-1962) typische blaue Farbe – das International Klein Blue –, indem er in seine schwarz-weißen, flimmernden Strukturen ein blaues Quadrat einfügt und damit seine Homage to Yves Klein, 1961, zum Ausdruck bringt.
Günther Uecker (*1930) nimmt in der Hommage à Fontana, 1962, die ovale Form mancher Leinwände Lucio Fontanas auf.
Dessen „Buchi“ (Löcher) werden für Christian Megert (*1936) zum Ausgangspunkt für seine Würdigung an den italienischen Meister, indem er die Leinwand anstelle von tatsächlichen Durchstoßungen, mit Spiegelscherben optisch erweitert.
Mehr zu Hommage
Die größte Hommage erweisen jedoch Mack, Piene (1928-2014) und Uecker der Vaterfigur Fontana (1899-1968) gemeinsam, indem sie ihm ihren Beitrag auf der dritten documenta 1964 widmen. Der Lichtraum (Hommage à Fontana) wird in Kassel in einem Dachgeschoss eingerichtet und besteht sowohl aus individuellen lichtkinetischen als auch zwei gemeinschaftlichen Arbeiten. Die beiden Lichtmühlen werden von den drei Künstlern in der Gladbacher Straße erarbeitet: Für die Silbermühle kommt von Piene die Staffelei, Mack steuert Lamellen bei, Uecker übernagelte die Flügel. Die Unterkonstruktion der Weißen Lichtmühlestammte aus einem Lokal in der Düsseldorfer Altstadt. Die Widmung an Fontana ist ihnen wichtig, weil er von offizieller Seite nicht eingeladen worden war, sich an der Schau zeitgenössischer Kunst in Kassel zu beteiligen.[i]
[i] Vgl. „Die Poesie des Dachbodens. Wie aus einem Restraum ein Lichtraum wurde. Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker über ihren documenta-Beitrag im Jahr 1964“, in: Lichtraum (Hommage à Fontana) – Der documenta-Beitrag von Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker 1964, hrsg. von ZERO foundation/museum kunst palast, Düsseldorf 2009, o.S.
So wie den Freunden oder dem väterlichen Mentor Fontana im Titel gedankt wird, so erweist man auch der Kunstweltmetropole der 1960er Jahre die Ehre: New York.
Otto Piene breitet in seinem Lichtballett „Hommage à New York“ [i] von 1966/2016 sein Können aus und beweist wie inspirierend die Stadt auf ihn wirkte.
In einem Diaprojektor arrangiert er handkolorierte Glasdias neben handelsüblichen Fotos von New Yorker Touristenattraktionen und eigenen Aufnahmen des alltäglichen Straßenlebens. Zusammen mit einer Soundspur, die Klänge aus dem Stadtbild wiedergibt, entsteht eine Choreografie aus konkreten Bildern und abstrakten Farb-, Licht und Toneffekten – letztlich eine künstlerische Evokation von New York.
Günther Uecker ist vom New Yorker Broadway fasziniert. Das Theaterviertel in Manhattan mit seinen zahlreichen leuchtenden Billboards beschwört er mit seiner Hommage à Broadway, 1965.
Jean Tinguely schließlich formuliert seine berühmte Homage to New York bereits 1960 im Garten des Museum of Modern Art als ein großes Spektakel, bei dem sich eine Maschine letztlich selbst zerstört.
[i] Sammlung der ZERO foundation, Inv. Nr. mkp.ZERO.2014.28dition 2/3.
Endnotes
I International
New York jetzt oder nie!
Anna-Lena Weise
Nachdem zu Beginn der 1960er Jahre Gruppenausstellungen in ganz Europa stattgefunden hatten, erfolgte 1964 die „Eroberung“ Amerikas. ZERO gilt als ein früher Zusammenschluss von Künstler*innen aus Europa und Deutschland, der zu Beginn der 1960er Jahre in Amerika große öffentliche Aufmerksamkeit erreichen konnte. Dazu bildete die Ausstellung ZERO [Group ZERO], Institute of Contemporary Art, University of Pennsylvania, Philadelphia, den Startschuss.[i]
[i] Vgl. Tina Rivers Ryan, „‚Before it Blows up‘. ZERO’s Armerican Debut, and its Legacy“, in: The Artist as Curator. Collaborative Initiatives in the International ZERO Movement 1957-1967, hrsg. von Tiziana Caianiello, Mattijs Visser, Ghent 2015, S. 363-369, hier S. 363.; Vgl. Anette Kuhn, ZERO. Eine Avantgarde der Sechziger Jahre, Frankfurt a. M., Berlin 1991, S.51 f.
Der amerikanische Kunstmarkt wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Nachfrage nach europäischen Werken dominiert, vor allem die 1920er und 1930er Jahre waren bestimmt durch die alten Meister und den europäischen Impressionismus. Zudem trugen europäische Künstler*innen, vielfach als Flüchtlinge aufgrund der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 aus ihren Heimatländern vertrieben, dazu bei, die europäische Kunst in die USA zu bringen. Die von Marcel Duchamp (1887-1968), zusammen mit Man Ray (1890-1976) und Katherine Dreier (1877-1925), 1920 gegründete Société Anonyme, das Museum of Modern Art (MoMA, gegründet 1929) und das 1939 entstandene Museum of Non-Objective Painting (später Solomon. R. Guggenheim Museum) fokussierten sich zunächst fast gänzlich auf die Kunst Europas. Im MoMA fand 1930 die Ausstellung Painting in Paris, from American Collections statt, die eine Vorliebe der Sammler für die Meister der französischen Moderne offenbarte.[i]
[i] Vgl. Norman Rosenthal, „Amerikanische Kunst: Eine Sicht aus Europa“, in: Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert. Malerei und Plastik 1913-1993, Ausst.-Kat. Martin Gropius Bau, Berlin, Royal Academy of Arts, London, hrsg. von Christos M. Joachimides, Norman Rosenthal, London, Berlin 1993, S. 13-22, hier S. 13.; vgl. Gail Stavitsky, „Museen und Sammler“, in: ebd., S. 163-170, hier S. 166.; Thomas Kellein, „Es ist die schiere Größe: Die Rezeption der amerikanischen Kunst in Europa“, in: ebd., S. 211-218, hier S. 211.; Britta E. Buhlmann, „Art is not an object but experience“, in: Abstrakter Expressionismus in Amerika, Ausst.-Kat. Pfalzgalerie Kaiserslautern, Ulmer Museum, Kaiserslautern 2001, S. 19. – Symbolismus, Kubismus und Fauvismus waren die meist diskutierten Kunstrichtungen. Zahlreiche amerikanische Künstler*innen reisten damals nach Paris, in die Kunsthauptstadt Europas, um von den Hauptvertretern dieser Kunstrichtungen zu lernen. Marcel Duchamp war bereits während des ersten Weltkriegs nach New York gegangen und hatte sich dort für den Aufbau einer Infrastruktur zwischen Privatsammlern, Galeristen, Künstlern und Museen eingesetzt.
Die amerikanische Kunst befand sich nach dem Krieg in Europa in einer Phase der Erneuerung. Es war zu dieser Zeit, als Jackson Pollock (1912-1956) begann seine heute als Meisterwerke bezeichneten Arbeiten zu schaffen, die dem „abstrakten Expressionismus“ wie Clement Greenberg ihn bezeichnete, zugerechnet werden.[i] Barnett Newman (1905-1970) war 1948 der Meinung, dass man sich von der Legende, dem Mythos und allen anderen Erfindungen der westeuropäischen Kunst befreien müsse.[ii]
Der abstrakte Expressionismus begann das Feld zu übernehmen und die vorherrschende figurative Malerei zu verdrängen. Zugleich förderte der steigende Wohlstand im Nachkriegsamerika die Entstehung eines Kunstmarktes für zeitgenössische, heimische Kunst, die von einer wachsenden Zahl von Kunsthändler*innen relativ preisgünstig angeboten wurde. Auch das MoMA förderte durch seine Gruppenausstellungen 1946, 1948, 1951 und 1955 aktiv die Sichtbarkeit amerikanischer Künstler*innen im eigenen Land. Mit dem nach Kriegsausbruch praktisch nicht mehr vorhandenen europäischen Kunsthandel ergab sich in New York eine neue Metropole für junge zeitgenössische Kunst – in den Galerien von Peggy Guggenheim, Sidney Janis, Samuel Kootz und Betty Parsons. Die Aktivitäten von Künstler*innen, Kritiker*innen, Galerist*innen, Institutionen und Sammler*innen begannen sich in New York zu ballen, wodurch die Stadt in den USA, aber auch in Übersee als Zentrum der amerikanischen Kunst bekannt wurde. New York löste langsam Paris, welches durch die Besetzung nationalsozialistischer deutscher Truppen 1940 für fünf Jahre kulturell abgeschnitten war, als Kunstmetropole ab.[iii] Thomas Kellein fasst diesen Umbruch wie folgt zusammen:
[i] Vgl. Rosenthal (wie Anm. 2), S. 13 ff., 19.
[ii] Vgl. Barnett Newman, „The Sublime is Now“ (1948), in: Barnett Newman. Selected Writings and Interviews, hrsg. von John O’Neill, New York 1990, S. 173. – Die abstrakten Expressionisten rückten den künstlerischen Akt in den Vordergrund. Das Malen an sich sollte im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit liegen und nicht inhaltliche Themen, was Newman nicht unbedingt vollständig gelungen ist, wenn man sich die Titel seiner Werke ansieht.
[iii] Vgl. Lena Brüning, Die Galerie Schmela. Amerikanisch-deutscher Kunsttransfer und die Entwicklung des internationalen Kunstmarktes in den 1960er Jahren, Berlin, Boston 2022, S. 41.; vgl. Bettina Friedl, „Die amerikanische Malerei zwischen 1670 und 1980“, in: Visuelle Kulturen der USA. Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika, Bielefeld 2010, S. 15-98, hier S. 73.; Stavitsky (wie Anm. 2), S. 167.; Kellein (wie Anm. 2), S. 212.; vgl. Britta E. Buhlmann (wie Anm. 2), S. 19, 21.; vgl. Serge Guilbaut, How New York Stole the Idea of Modern Art. Abstract Expressionism, Freedom, and the Cold War, übersetzt von Arthur Goldhammer, Chicago, London 1983, S. 1, 49.
„Entdeckt, ausgestellt und gehandelt wurde die Kunst für den nuklear gesicherten und kulturell unbeschriebenen abstrakten NATO-Raum zunehmend in New York. Bereits nach einem Jahrzehnt, seit etwa 1960, war die Jahrhunderte währende Vorrangstellung der europäischen Malerei und Plastik endgültig in Frage gestellt.“[i]
[i] Kellein (wie Anm. 2), S. 212.
Deutschland war in der Nachkriegszeit durch die Besetzung vor kulturelle Herausforderungen gestellt, die eine Rückbesinnung auf die Kunst vor dem Krieg nach sich zog. Jill Michelle Holaday schreibt zum Verhältnis der Besatzungsmächte und der Kunst in Deutschland: „Initially, the Allies championed the ‚degenerate‘ art burned by the Nazis, but not contemporary art. Expressionism came to symbolize an art appropriate for a new democracy.“[i] Im Gegensatz dazu galt der Expressionismus der Vorkriegszeit für viele deutsche Künstler*innen und Kritiker*innen als überholt.
Die Kulturpolitik rückte stärker in den Fokus und wurde im Zuge der wachsenden Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR als politisches Mittel instrumentalisiert.[ii]
[i] Jill Michelle Holaday, Die Gruppe ZERO. Working through Wartime Trauma, Diss. Iowa, Iowa 2018, S. 10 f.
[ii] Vgl. Carsten Kretschmann, Zwischen Spaltung und Gemeinsamkeit. Kultur im geteilten Deutschland, (Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, Bd. 12), Berlin-Brandenburg 2012, S. 15 ff., 35.; vgl. Brüning (wie Anm. 6), S. 35. – Die Alliierten gaben auch im Bereich der Kultur den Ton an. Sie versuchten neue Strukturen zu schaffen, sie zu reglementieren und vor allem streng zu kontrollieren.
„So wurden bestimmte Strömungen aktiv gefördert, während andere zunehmend aus der Öffentlichkeit verschwanden. Die abstrakte Kunst wurde als ‚modern‘, ‚europäisch‘ bzw. ‚westlich‘ und als vermeintlich unideologische und unpolitische Bildsprache kulturpolitisch favorisiert, die figurative, narrative Bildsprache dagegen dem ‚Osten‘ bzw. dem ‚Kommunismus‘ zugeschrieben und in Westdeutschland zunehmend verdrängt.“[i]
[i] Brüning (wie Anm. 6), S. 35/36, 56 f.
Diese Rückwendung zur abstrakten Malerei nach 1945 bildete so zugleich eine Abgrenzung zum nationalsozialistischen Realismus. Zumindest in den drei westlichen Besatzungszonen vollzog sich so ein unmittelbarer Bruch mit dieser Zeit.[i]
Die Vermittlung der amerikanischen bildenden Kunst lief in den Nachkriegsjahren in Deutschland zunächst schleppend an und war in Düsseldorf kaum zu bemerken. Nach dem Zusammenschluss der US-amerikanisch und britisch besetzten Gebiete 1947, weitete sich der amerikanische Einfluss auf das Rhein-Ruhr-Gebiet aus. Das Cultural Exchange Program, welches einen gezielten Austausch zwischen einzelnen Kulturschaffenden in den USA und Deutschland ermöglichen sollte, war zwar 1946 angelaufen, aber an den Kunstakademien machte sich aufgrund der Abwesenheit eines Kunstmarktes trotzdem das Gefühl der Isolation breit. Heinz Mack selbst sagte dazu in einem Gespräch mit Betty van Garel:
[i] Vgl. Kretschmann (wie Anm. 4); vgl. Brüning (wie Anm. 6), S. 35.
„Wir in Deutschland – unsere holländischen Freunde dürften sich in der gleichen Lage befunden haben – waren über das, was eigentlich in der Welt vorging, schlecht informiert. Erst 1948, 1949 wurde bekannt, was in Amerika geschah, wo ein Mann wie Pollock seine großen Gemälde malte. Wir bekamen dann das ungute Gefühl, das sich dort etwas getan hatte, was uns entgangen war. Daß es also für uns keinen Sinn mehr hatte, Dinge zu schaffen, die man drüben schon gemacht hatte.“[i]
[i] Zit. n. Dieter Honisch, Mack. Skulpturen 1953-1986, Düsseldorf, Wien 1986, S. 10.
Die Rezeption amerikanischer Kunst geschah in Europa vor allem durch das MoMA, welches 1948 auf der Biennale in Venedig einen eigenen Pavillon errichten konnte und zu einem wichtigen Kooperationspartner unterschiedlicher Abteilungen der amerikanischen Regierung wurde. Ab 1952 wurde im MoMA unter der Leitung von Porter A. McCray ein internationales Wanderausstellungsprogramm eingerichtet, welches sich aus dem zeitgenössischen Sammlungsbestand des Museums zusammensetzte, und wodurch die Institution in den darauffolgenden Jahren zu einem der prominentesten Ausstellungsmacher in Europa avancierte.[i] Nachdem ab April 1953 die erste MoMA-Wanderausstellung 12 amerikanische Maler und Bildhauer der Gegenwart von Paris aus über Zürich, Düsseldorf, Stockholm, Helsinki und Oslo wanderte, dauerte es noch fast fünf Jahre bis die amerikanische Kunst zu einem der größten Einflussfaktoren in Bezug auf die Entwicklung des deutschen Kunstmarktes wurde. Einen wichtigen Beitrag dazu leistete die documenta, welche 1955 erstmals in Kassel stattfand. 1956 wurde auf der documenta 2 dem erst kürzlich verstorbenen Jackson Pollock ein eigener Raum gewidmet.[ii]
Dass Interesse von Seiten Macks und Pienes an der amerikanischen Lebensweise bestand, zeigt eine Einladung von Louis Garinger zum Salzburg Seminar in American Studies in Österreich, die beide 1959 zugesandt bekamen.[iii]
Die Düsseldorfer ZERO-Künstler experimentierten zwischen 1953 und 1957 mit verschiedenen Stilen und schufen Werke mit durchaus expressionistischen Tendenzen, aber wie die Minimalisten in Amerika wendeten sie sich von diesem Stil ab. Die Mittel, mit denen sie ihre Kunst erweiterten: Materialien wie Silberfolie, Spotlights, Plexiglas, Aluminium und die Demonstrationen, lassen ihre Kunst ins Erlebnishafte eintreten.[iv] Ein ähnliches Phänomen, welches sich zur gleichen Zeit in New York ausmachen lässt, wie Allan Kaprow (1927-2006) feststellt:
„Not satisfied with the suggestion through paint of our senses, we shall utilize the specific substances of sight, sound, movement, people, odors, food, electric and neon light, smoke, water, old socks, a dog, movies, a thousand other things which we have always had about us, but ignored, but they will disclose entirely unheard of happenings.“[v]
Die ZERO-Künstler*innen verwendeten durchaus ähnliche Techniken und Formen wie die New Yorker Minimalisten, verliehen ihren Werken aber oft transzendentale Bedeutungen.
[i] Vgl. Brüning (wie Anm. 6), S. 38 ff., 42; vgl. Kellein (wie Anm. 2), S. 211 ff.; vgl. Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, S. 114. – Ausstellungen der American Federation of Arts und des Smithsonian Institution Traveling Exhibition Service versuchten in den 1950er-Jahren die amerikanische Kunst einer breiten Masse näherzubringen. Allerdings wurde keine zeitgenössische amerikanische Kunst gezeigt und somit lag der Fokus nicht auf der Bekanntmachung aktueller Tendenzen.
[ii] Vgl. Brüning (wie Anm. 6), S. 38 ff., 42; vgl. Kellein (wie Anm. 2), S. 211 ff.; vgl. Abelshauser (wie Anm. 11), S. 114.
[iii] Louis Garinger an Heinz Mack und Otto Piene, Salzburg, 22. Dezember 1959, Archiv der ZERO foundation, Vorlass Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.1335; Nachlass Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.506.
[iv] Vgl. Holaday (wie Anm. 8), S. 13.; vgl. Valerie Hillings, Experimental Artists‘ Groups in Europe, 1951-1968. Abstraction, Interaction and Internationalism, Diss. New York 2002, S. 124.
[v] Allan Kaprow, „The Legacy of Jackson Pollock“, in: Art News 57, Nr. 6, Oktober 1958, S. 24 f.
Mehr zum Thema International
Als Einzelpersonen hatten die ZERO-Künstler Uecker, Piene und Mack sowie weitere diesem Kreis zuzurechnende Personen, schon einige Jahre vor der großen ZERO-Show, zu mehreren Institutionen in Amerika Kontakt.
Robert Pincus-Witten stellt in diesem Zusammenhang fest:
Yves Klein (1928-1962) reiste bereits 1961 nach New York, um dort zwei Monate zu verbleiben und seine erste Einzelausstellung in der Castelli Gallery (Castelli hatte ihn bereits 1959 in seiner Ausstellung Works in Three Dimensions neben Chamberlain, Marisol und Rauschenberg präsentiert), welche am 11. April 1961 eröffnet wurde, zu besuchen. Die Überfahrt mit dem Schiff dauerte damals noch ungefähr acht Tage. Reisen war im Allgemeinen noch sehr viel aufwendiger, kostspieliger und vor allem langwieriger.[i]
[i] Leo Castelli hatte bereits 1957 eine Galerie in Manhatten eröffnet, in der er zunächst europäische bzw. französische Kunst zeigte. Er nahm aber schnell auch den amerikanischen abstrakten Expressionismus in sein Programm auf.
Die Ausstellung kam nicht gut an beim New Yorker Publikum und erzeugte eher negative Kritiken. Nur drei Schwamm-Skulpturen wurden verkauft, kein einziges Monochrom und die Ausstellung zog weniger Besucher*innen an als in Europa. „Klein was still far from being recognized as the most influential artist to have emerged in postwar France […].“[i]
Im Mai 1961 zeigte die Dwan Gallery in Los Angeles die Arbeiten von „Yves le Monochrome“. Klein überlegte zu dieser Zeit eine riesige Metamatic/Anthropometry-Maschine in Zusammenarbeit mit Jean Tinguely zu schaffen. Die Modelle hätten von einem Kran in blaue Farbe getaucht werden sollen, um dann auf einer riesigen weißen Leinwand ihre Spuren zu hinterlassen. Diese Idee wurde nicht verwirklicht.[ii]
Pontus Hultén, der damalige Direktor des Moderna Museet in Stockholm lernte bei seinem ersten Besuch in den USA den Ingenieur Billy Klüver kennen, mit dem er die Weichen für Tinguely stellte. Jean Tinguely erlangte mit seiner Homage to New York, 1960,[iii] Berühmtheit in den USA. Die Idee zu seiner sich selbst zerstörenden Maschine soll ihm im Januar 1960 gekommen sein, als er anlässlich seiner ersten Einzelausstellung in der Staempfli Gallery in New York war. Seine Méta-Matic-Zeichenmaschinen eröffneten ihm den Zugang zur jungen New Yorker Kunstwelt und erregten die Aufmerksamkeit Marcel Duchamps, Jasper Johns (*1930), Robert Rauschenbergs (1925-2008) und anderer. Rauschenberg steuerte zu der Homage ein kinetisches Objekt Money Thrower for Jean Tinguely’s H.T.N.Y. – ein Toaster der Silberdollars ins Publikum schleuderte – bei.[iv]
Auch Daniel Spoerri, der eng mit Tinguely befreundet war, war bereits 1961 in der Ausstellung The Art of Assemblage im Museum of Modern Art (MoMA), New York, vertreten, welches seine Arbeit Kichkas Frühstück, 1960, ankaufte.
[i] Klein-Moquay, Pincus-Witten (wie Anm. 18), S. 35.
[ii] Vgl. Klein-Moquay, Pincus-Witten (wie Anm. 18), S. 44 ff.
[iii] Zum Thema der „Hommage“ s. Romina Dümlers Beitrag in diesem Band.
[iv] Vgl. „Autodestruktive Aktionen“, in: Jean Tinguely. Super Meta Maxi, Ausst.-Kat. Museum Kunstpalast, Düsseldorf, Stedelijk Museum, Amsterdam, Köln 2016, S. 70 ff.; Roland Wetzel Vorwort und Einleitung, in: Robert Rauschenberg Jean Tinguely. Collaborations, Ausst.-Kat. Museum Tinguely, Basel 2009, S. 7.; vgl. Kellein (wie Anm. 2), S. 217.
Als einer der Ersten aus dem ZERO-Umkreis wohnte Hans Haacke (*1936) für mehrere Jahre – 1961 bis 1963 – in Amerika. Aufgrund eines Fulbright Stipendiums war er 1961 in die USA übergesiedelt und ab 1962 als Stipendiat an der Tyler School of Art der Temple University in Philadelphia, Pennsylvania eingeschrieben. Am 8. September 1962 schreibt er Otto Piene von Philadelphia aus, dass er in der kommenden Woche nach New York gehen werde. Bis 1963 war er dort am Pratt Graphic Art Center eingeschrieben. Obwohl er sich nicht positiv über Amerika als Konsumgesellschaft äußert, denn „alles wird zum Kauf angeboten und konsumiert, Waren, Meinungen, Massenmanipulation, Religion, Rassenhaß, alles“ und den Einzug des „american way of life“ in Deutschland voraussagt, begrüßt er seinen Aufenthalt doch[i], und überlegt am 21. März 1963 noch ein weiteres Jahr in New York zu bleiben – welche er als „unverschämt faszinierende Stadt“ bezeichnet.[ii]
Trotz seiner Ablehnung der Recherche Visuel – Groupe de Recherche d’Art Visuel, 1960 in Paris gegründet – gegenüber, die sich auf Wahrnehmungsphänomene in der Kunst fokussierten, stellt er fest, dass „ihre Ausstellung in N.Y. gut getan“ hat.[iii] Denn die Pop-Art ist ansonsten in jeder Galerie vorherrschend.[iv] Und so fehlt Haacke die Herausforderung von Kollegen, die in die gleiche Richtung wie ZERO arbeiten. Vor dem Hintergrund, dass sich die Pop Art mit ihren bunten Farben und großen Dimensionen deutlich von der Kunst ZEROs absetzt, erscheint Haackes Begrüßen der Recherches Visuelles als logische Konsequenz.
Am 1. September 1963 beschließt Haacke wieder nach Deutschland zurückzukehren.[v] Sein Aufenthalt in Köln war allerdings nicht von langer Dauer, denn schon 1965 kehrt er dauerhaft in die Vereinigten Staaten zurück.
[i] Hans Haacke an Otto Piene, New York, 21. März 1963, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1345.
[ii] Hans Haacke an Otto Piene, Philadelphia, 8. September 1962, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1344.
[iii] Hans Haacke an Otto Piene, Philadelphia, 8. September 1962, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1344.
[iv] Die 1960er Jahre gelten als das Jahrzehnt, in dem sich die Pop Art auf dem Kunstmarkt und in den Institutionen durchsetzte. Anschließend verbreitete sie sich in ganz Europa. Die Pop Art, welche sich überwiegend mit dem Konsum auseinandersetzte, wurde durch die Wirtschaftspolitik Kennedys – welche auf der Vorstellung aufbaute, dass die Stabilität der Wirtschaft von der Stimulation jedes Einzelnen zum Konsum befördert werde – begünstigt. (Vgl. Brüning (wie Anm. 6), S. 163 f.; Willi Paul Adams, Die USA im 20. Jahrhundert, (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 29), München 2008, S. 83 f.)
[v] Vgl. Hans Haacke an Otto Piene, Hempsteadt, N.Y., 18. Juli 1963, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1869.
Auch Günther Uecker, Otto Piene und Heinz Mack waren vor 1964 in der US-amerikanischen Ausstellungslandschaft vertreten. Hermann Warner Williams – der Direktor der Corcoran Gallery of Art, Washington D.C. – richtete bereits im Februar 1962 einen Brief an Otto Piene, da er mit der Bildauswahl für die „Internationale Ausstellung moderner Kunst“, unterstützt von der Bundesrepublik Deutschland, beauftragt worden war.[i]
[i] Vgl. Hermann Warner Williams an Otto Piene, Washington D.C., 27. Februar 1962, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.695.
Diese Ausstellung war von 1962 bis 1963 unter dem Titel 16 German Artists (bei Warner Williams noch als Fifteen German Artists angekündigt) in mehreren Institutionen Amerikas zu sehen. Insgesamt war Piene mit fünf Kunstwerken vertreten. Smoke Painting, Red, 1961, Wave of Darkness, 1961, Smoke Painting #1, 1962, Smoke Painting #2, 1962, und Light Ballett, 1962.[i] Die Rauchbilder wurden im Ausstellungskatalog mit Pulse, Pulse, Impulse, 1961; Fire Flower, 1962; und Sun Result, 1962, betitelt. Teile seines Lichtballetts waren beim Transport durch die Vereinigten Staaten – schon in der Cocoran Gallery und später in der Addison Gallery of American Art, Philips Academy, Andover, Massachussetts, beschädigt worden – und es mussten Ersatzteile beschafft werden.[ii]
[i] Vgl. Hermann Warner Williams an Otto Piene, Washington D.C., 20. Juli 1962, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.697.
[ii] Vgl. Donelson F. Hoopes an Otto Piene, Washington D.C., 20. Dezember 1962, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1349_1.; – „The Exhibition is presently at Andover, and I would be grateful if you could send replacemants for the two parts AS SOON AS POSSIBLE.“[ii] (NL Piene, mkp.ZERO.2.I.695).; Ausst.-Kat. Sixteen German Artists, 1962, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.VII.254.
Auch Heinz Mack war an dieser Ausstellung beteiligt gewesen, wie ein Schreiben der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Washington vom Dezember 1962 belegt, in welchem man ihm für seine Beteiligung dankt. Der Ausstellungskatalog listet auch fünfseiner Werke, die alle von der Galerie Schmela geliehen wurden: Dynamic Structure in White, 1960; White Oval, 1960; Dynamic Structure in White on Black, 1961; Light Relief, 1961-62 sowie Dynamic Structure in Black, 1962.[i]
Sowohl Mack als auch Piene gewannen Preise bei der vierten Guggenheim International Award Exhibition 1964, welche finanziell vom Solomon R. Guggenheim Museum in New York unterstützt wurde. Die Wanderausstellung zeigte Kunst aus aller Welt. Aus jedem Land durften allerdings nur fünf Künstler*innen teilnehmen. Von Piene wurde das Werk Pink Fire Flower, 1963, gezeigt.[ii] Nachdem Lawrence Alloway im August 1963 in Düsseldorf war, um sich Pienes Werkeanzusehen, wählte er für die Award-Show zudem das Werk von Heinz Mack Cardiogram of the Cyclops, 1961-62, aus.[iii] Ebenso war die Dalzell Hatfield Gallerie 1963 an der Skulptur Teller-Objekt von Heinz Mack interessiert und bot ihm eine Ausstellungsplattform an, während Otto Piene noch im selben Jahr von Alloway für eine weitere Ausstellung im Guggenheim ausgewählt wurde.[iv]
[i] Vgl. Dr. Hanns-Erich Haack an Heinz Mack, Washington, 6. Dezember 1962, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, mkp.ZERO.1.94.
[ii] Vgl. Hillings (wie Anm. 16), S. 220.; Vgl. Lawrence Alloway an Otto Piene, New York, 8. August 1963, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1949_2. – Die Guggenheim International Award Exhibition war 1956 gegründet worden und wurde alle zwei Jahre ausgetragen. Die daraus resultierende Wanderausstellung sollte noch in zwei weiteren amerikanischen Städten gezeigt werden.
[iii] Vgl. Lawrence Alloway an Otto Piene, New York, 21. August 1963, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1950_2.
[iv] Vgl. D. Hatfield an Heinz Mack, Los Angeles, 20. November 1963, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, mkp.ZERO.1.157. – Das Carnegie Institute, Department of Fine Arts, Pittsburgh, Pennsylvania, schrieb Heinz Mack, dass das Glas seines Lichtdynamos gebrochen sei und sie diesen so nicht ausstellen wollten. (VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.123.). Die Ausstellung im Guggenheim wurde schließlich verschoben beziehungsweise zweigeteilt. Erst eine Schau amerikanischer Zeichenkunst und darauffolgend dann europäische Künstler. (NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1954). Diese Ausstellung wurde schließlich verschoben, beziehungsweise zweigeteilt. Erst eine Schau amerikanischer Zeichenkunst und darauffolgend dann europäische Künstler.
Lawrence Alloway protegierte nicht nur die damals aufkommende Pop-Art, sondern beobachtete die europäische Kunstszene. Ein Werk Günther Ueckers aus der Sammlung des amerikanischen Künstlers George Rickey wurde zudem in der Gruppenausstellung On the Move. Kinetic Scupltures, 1964, in der Howard Wise Gallery, New York, präsentiert. Uecker war im darauffolgenden Jahr in acht Gruppenausstellungen in Amerika vertreten. Unter anderem wurden seine Werke im Zuge der Präsentation der Rickey Collection im Institute of History of Art in Albany gezeigt; im University Art Museum, Austin, welches die Ausstellung An Exhibition of Retinal and Perceptual Art präsentierte und in der Sachs Gallery, New York in der Ausstellung quantum I.[i]
Piero Dorazio (1927-2005), der zum erweiterten Kreis der ZERO-Künstler*innen hinzuzuzählen ist, lehrte zu dieser Zeit an der University of Pennsylvania. Bereits 1953 hatte Dorazio ein Jahr in Amerika verbracht und 1959 den Lehrauftrag an der University of Pennsylvania übernommen. Auf einer Postkarte ohne Datierung teilt er Piene mit, dass er ihn an der Universität für einen Semesteraufenthalt vorgeschlagen habe.
[i] Vgl. Hillings (wie Anm. 16), S. 220.
Ein Brief der University of Pennsylvania vom 5. März 1964 belegt, dass die Universität bereits 1963 versucht hatte, Piene als Gastdozenten für das Herbst/Wintersemester zu bekommen.[i]Dieser hatte aufgrund von Zeitmangel absagen müssen.
[i] Vgl. Piero Dorazio an Otto Piene, Philadelphia, o.D., Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1471.; Thomas B.A. Godfrey, Pennsylvania, Philadelphia, 20. Juni 1963, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1977_2.
„Last year we wrote you, too late I am afraid to enable you to make plans for a visit to Philadelphia in the Fall of 1963. We were very disappointed that you were unable to come, and I am again writing in the hope that we may interest you in spending one term with us as Visiting Critic in Painting […].“[i]
[i] G. Holmes Perkins an Otto Piene, Pennsylvania, Philadelphia, 5. März 1964, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1753. Siehe auch Brief der Universität vom 19. Juli 1963, in dem Thomas B.A. Godfrey seine Enttäuschung über Pienes Absage zum Ausdruck bringt, NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1973_2. Entwurf für Pienes Absage aufgrund des Zeitmangels für die Vorbereitungen,NL Piene, mkp.ZERO.2.I.1975_1 .
Während Pienes Lehrzeit wurde auch Heinz Mack an die Universität eingeladen, um sein Sahara-Projekt vorzustellen. „I understand from Otto that you will be in this country during the month of November and if you are in New York and can visit us at the School for a day, we should be happy […].“[i]
[i] Thomas B.A. Godfrey an Heinz Mack, Pennsylvania, Philadelphia, 1. Oktober 1964, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, mkp.ZERO.1.I.965. Antwort von Mack, VL Mack, mkp.ZERO.1.I.966.
Zu diesem Zeitpunkt war ZERO in Amerika angekommen. Beinahe zeitgleich zu der Ausstellung in Pennsylvania präsentierte der Galerist Howard Wise die erste Ausstellung des „Triumvirats“ Mack, Piene, Uecker in seiner Galerie in New York.[i] Die deutsche Nachkriegskunst war in Amerika bis zu diesem Zeitpunkt relativ unbeachtet gewesen. Valerie Hillings ist der Meinung, dass „the interest in the show by the press marked a shift in American attitudes towards German art“.[iii]
[i] Vgl. Thekla Zell, „Wanderzirkus ZERO“, in: ZERO, hrsg. von Dirk Pörschmann, Magriet Schavemaker, Köln 2015, S. 19-176, hier S. 132.
[iii] Weitere Informationen zu ZERO und den USA in Rivers Ryan (wie Anm. 1); Kuhn (wie Anm. 1), S.51 f.; Hillings (wie Anm. 16), S. 223.
Endnotes
J Mitmachen
Korrespondenzen im ZERO-Archiv von A bis Z
Rebecca Welkens
Im März 1958 versendeten Heinz Mack (*1931) und Otto Piene (1928–2014) 31 Schreiben an Personen aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft und baten um die Beantwortung der Frage „Bewirkt die gegenwärtige Malerei eminente Formung der Welt?“.[i] Diese Aktion ist als Auftakt der publizistischen Tätigkeit von Mack und Piene zu verstehen, die gerade im Begriff waren, die Zeitschrift ZERO 1 zu konzipieren und die Beantwortung der Frage anstelle eines Vorwortes einsetzen wollten. Die beiden jungen Künstler hatten keine Scheu vor großen Namen, und so schrieben sie beispielsweise dem Physiker Werner Heisenberg (1901–1976) oder dem Philosophen Theodor W. Adorno (1903–1969). Heisenberg ließ über sein Sekretariat verlauten, dass er auf Reisen sei und keine Zeit zur Beantwortung der Frage habe, Adorno allerdings antwortete mit einem längeren Brief, wollte aber dennoch nicht Teil des Projekts werden und bat darum, „diesen Brief nicht in irgendeiner Form zu veröffentlichen oder öffentlich zu verwenden“.[ii]
[i] Dirk Pörschmann, „ZERO bis unendlich. Genese und Geschichte einer Künstlerzeitschrift“, in: in: ZERO 4 3 2 1, hrsg. von Dirk Pörschmann, Mattijs Visser, Düsseldorf 2012, S. 424–442, S. 427.
[ii] Theodor W. Adorno an Heinz Mack und Otto Piene, 18. März 1958, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Otto Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.1162; Werner Heisenberg an Otto Piene, 20. März 1958, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Otto Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.969.
Auch wenn verhältnismäßig wenige der Angeschriebenen am Projekt teilnahmen – zum Schluss waren es nur sechs Personen, deren Texte veröffentlicht wurden –, ist Mack und Pienes Vorhaben insbesondere für die ZERO-Zeit als Startschuss für ein stetig wachsendes Netzwerk zu werten, welches vor allem über die zahlreichen Korrespondenzen zu erschließen ist. Weit über 6000 Korrespondenzen werden heute im Archiv der ZERO foundation aufbewahrt, die von der regen Kommunikationstätigkeit der ZERO-Künstler*innen untereinander, derer, die es werden sollten, und weit darüber hinaus, zeugen, und somit ein lebendiges wie vor allem internationales Bild des ZERO-Netzwerks schufen. Dies bezeugen vor allem die Sprachen in denen die Briefe verfasst sind, darunter viele in Deutsch und Englisch, aber ebenso Kroatisch, Spanisch, Französisch und Italienisch, um nur einige zu nennen.
Zahlreiche Briefe sind wohl heute als geschäftliche Korrespondenzen zu bewerten, da es inhaltlich meist um gemeinsame Ausstellungen oder den Verkauf von Werken ging. Bei genauem Studium der Briefe wird jedoch klar, dass die Trennlinie zwischen Privatem und Geschäftlichem nicht so scharf zu ziehen ist, wie man zunächst annehmen möchte. In vielen Briefen, Telegrammen und Postkarten wird neben Beruflichem auch Persönliches verhandelt, Glückwünsche ausgesprochen und Urlaubsgrüße gesendet, die so von engen Freundschaften einzelner Protagonist*innen untereinander zeugen. Ein Beispiel dafür sind die zahlreichen (Urlaubs-)Postkarten, die sich im Archiv befinden. So bestellt Günther Uecker (*1930) Heinz Mack „schöne Grüße“ aus Frankreich und berichtet vom Fischen mit Yves Klein (1928–1962).[i]Ein anderes Mal senden Heinz Mack, Walter Leblanc (1932–1986), Getulio Alviani (1939–2018) und Nanda Vigo (1936–2020) eine Postkarte aus Mailand mit besten Grüßen an Otto Piene nach Düsseldorf, der dem Treffen in Italien wohl nicht bewohnen konnte.[ii]
[i] Günther Uecker an Heinz Mack, ohne Datum, Archiv der ZERO foundation, Vorlass Heinz Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.873.
[ii] Walter LeBlanc, Heinz Mack, Nanda Vigo und Getulio Alviani an Otto Piene, ohne Datum, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Otto Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.1914.
Doch nicht nur bestehende Bekanntschaften und Freundschaften lassen sich anhand der Korrespondenzen nachvollziehen. Die Briefe bezeugen auch das erste Kontaktknüpfen der Künstler*innen miteinander, wenn beispielsweise Heinz Mack im Juli 1960 einen der ersten Briefe an Lucio Fontana (1899–1968) schreibt und ihn um einen Beitrag für die Zeitschrift ZERO 3 bittet.[i] Über den schriftlichen Austausch wurden ebenso neu geknüpfte Kontakte verfestigt, wie anhand eines Briefes von Hans Haacke (*1936) an Otto Piene im November 1960 nachzuvollziehen ist. Haacke schreibt, dass er den Besuch in Düsseldorf in guter Erinnerung halte und berichtet Piene von seinen neuen Bekanntschaften in Paris, Bernard Aubertin (1934–2015) und Yves Klein (1928–1962). Doch nicht nur das – Haacke erzählt außerdem, dass „die Firma ‚Mack et Piene‘ […] hier als ein Betrieb bekannt ist, in dem irgendwelche neuen Dinge probiert werden, für die man sich vielleicht interessieren müsste“ und zeichnet damit ein lebendiges Bild vom weitreichenden Einfluss ZEROs in Frankreich.[ii]Neben den ersten Kontakten und der Ausweitung des Bekanntenkreises geben die Korrespondenzen ebenso Aufschluss darüber, wann Beziehungen und Zusammenarbeiten ein Ende fanden, wie das Beispiel von Almir Mavignier (1925–2018) zeigt, der im April 1963 den Kontakt zu ZERO erst einmal einstellen wollte und den Wunsch äußerte, nicht mehr an Veranstaltungen im ZERO-Kreis teilzunehmen.[iii]
[i] Heinz Mack an Lucio Fontana [Briefentwurf], 2. Juli 1960, Archiv der ZERO foundation, Vorlass Heinz Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.316.
[ii] Hans Haacke an Otto Piene, 1. November 1960, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Otto Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.847.
[iii] Almir Mavignier an Heinz Mack, 28. April 1963, Archiv der ZERO foundation, Vorlass Heinz Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.809.
Die folgende Auflistung gibt einen Einblick in die schriftliche Welt von ZERO und damit in das reiche Netzwerk, welches sich die ZERO-Künstler*innen innerhalb kürzester Zeit aufbauen konnten. Es sind nur die Namen der Korrespondenzpartner*innen aufgelistet, die vollständig lesbar und vor allem eindeutig zu identifizieren sind. Auf die Auflistung einzelner Institutionen, wie Museen und Galerien, oder auch Firmen, mit denen die ZERO-Künstler*innen zusammengearbeitet haben, wurde aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichtet. Ausgangspunkt sind vor allem die Korrespondenzen aus den Beständen von Heinz Mack und Otto Piene. Es handelt sich dabei sowohl um Personen, denen Mack und Piene selbst schrieben, als auch Briefe, die sie vor allem im Zeitraum der 1950er und 1960er Jahre erhielten.[i]
Zum Schluss soll gesagt sein, dass es sich keinesfalls um eine abgeschlossene Liste handelt. Die Korrespondenzen im Archiv werden stetig weiter erschlossen, sodass die folgende Auflistung vielmehr als ein work in progress zu verstehen ist und nur einen groben Überblick leistet.
[i] Für einen detaillierten Einblick lohnt sich ein Blick in die Datenbank der ZERO foundation, d:kult, die über den folgenden Link abrufbar ist:https://emuseum.duesseldorf.de/institutions/113282/zero-foundation (Letzter Aufruf: 2024.03.12)
A
Abe, Nobuya
Ackermann, Oscar
Adorno, Theodor
Adrian, Marc
Aengevelt, Leo
Albers, Josef
Alberts, Eduard
Alfieri, Bruno
Alloway, Lawrence
Altenstadt, Ulrich S. von
Alviani, Getulio
Apollonio, Umbro
Argan, Carlo Giulio
Arman
Aubertin, Bernard
Aue, Marianne
Aue, Walter
Aust, Günter
B
Baerwind, Rudi
Baier, Hans Alexander
Bänfer, Carl
Barlen, Dieter
Barras, Henri
Bartels, Hermann
Battisti, Eugenio
Baukloh, Friedhelm
Baum, Gustav Adolf
Baum, Stella
Baumgärtel, Gerhard
Beck, Heinz
Becker, Andreas
Bek, Bozo
Belloli, Carlo
Bendixen, Klaus
Berndt, Jürgen
Bethsold, Werner
Bette, J. Michael
Beuys, Eva
Bhavsar, Natvar
Blicke, Maurits
Bill, Max
Blomenroehr, Bernd D.
Böcker, Christa
Boom, Raoul van den
Börner, Klaus
Boukes, Renate
Boveri, Margret A.
Bowen, Denis
Bowness, Alan
Breier, Kilian
Brüning, Peter
Brusberg, Dieter
Buchholz, Erich
Burchartz, Max
Burgauer, Curt
Burnham, Jack
Bury, Pol
Busse, Hal
C
Calderara, Antonio
Castellani, Enrico
Cauduro, Ed
Chatterji, Nimai
Christen, Andreas
Chruxin, Christian
Cladders, Johannes
Clert, Iris
Clüsserath, August
Copier, Dirk
D
Dadamaino
Dahmen, Ursula
Damiano, Charles
Dasi, Gerardo Filberto
Daume, Willi
Dauphin, Gerald
Deilmann, Harald
Dietrich, Hansjoachim
Doldinger, Klaus
Domnick, Greta
Dorazio, Piero
Dorfles, Gillo
Dotremont, Philippe
Drescher, Renate
Dreste, Hans
E
Eckert, Engelbert
Eichler, Hans
Engel, Otmar
Engelskirchen, Hein
Engert, Bernhard
Epple, Waldemar
Epple, Waldemar
Erb, Leo
Ertel, Kurt Friedrich
Estenfelder, Cam
Etecheverry, Diégo
Evans, David
F
Fackler, Helmut
Faigle, Walter
Fassbender, Franz
Fata, Ferruccio
Faulhaber, Ulrich
Fedeck, Walter
Feigel, Marie-Suzanne
Fischer, Ernst
Fischer, Klaus Jürgen
Fitzsimmons, James
Fleischmann-Roepcke, Anna
Fontana, Lucio
Franken, Heinrich
Freese, Jan
Fried, Kurt
Friedman, Martin
Friedrich, Gerhardpaul
Fuchs, Günther
Fuegen, Willy
Funcke, Brigitte
Fyvel, Tosco R.
G
Gardiner, Margaret
Gebhard, Klaus
Geccelli, Johannes
Geelhoed, Lex
Gehlen, Arnold
Geiger, Rupprecht
Gekeler, Hans
Gerber, Helmut
Gerhardt, Renate
Gerlach, Rose D.
Gerstendörfer, J. J.
Gerstner, Karl
Gielow, Wolfgang
Gloudemans, Jan
Godfrey, Thomas B. A.
Goepfert, Hermann
Goeritz, Mathias
Gorges, Claus
Gorzolka, Otto
Gossel, Christa
Gossel, Hans Bernd
Götz, Karl Otto
Graevenitz, Gerhard von
Greef, Ulrich Volker
Green, Samuel Adams
Gribaudo, Ezio
Grisebach, Hanna
Grobe, Gustav
Grochowiak, Thomas
Grohmann, Will
Groschwitz, Gustave von
Grosse, Helmut
Günther, Volkmar
H
Haacke, Hans
Haas, Helmuth de
Haftmann, Werner
Hajek, Otto-Herbert
Hake, Wolfgang
Hammarberg, Jarl
Hammond, John E.
Harms, Gudrun
Hartmann, Adolf
Hartung, Gerd
Hartung, Karl
Hastings, Margarte
Hausmann, Raoul
Hehns, Dietrich
Heimzely, Marc
Heisenberg, Werner
Helms, Dietrich
Hennig, Emil
Herstand, Arnold
Hewitt, Francis R.
Hildebrand, Heide
Hiltmann, Jochen
Hoehme, Gerhard
Hoeydonck, Paul von
Holtmann, Heinz
Holweck, Oskar
Honisch, Dieter
Horn, Karl
Hulten, Pontus
Hündeberg, Jürgen von
I
Iserloh, Hans
J
Jappe, Georg
Jürgen-Fischer, Klaus
K
Kage, Manfred
Kahmen, Volker
Kalinowski, Horst Egon
Kalish, Ursula
Kandzia, Christian
Kaufmann, Herbert
Kawakita, Michiaki
Keller-Hämmerle, Alfons
Kemp, Willi
Kepes, György
Kirschbaum, Walter
Klapheck, Konrad
Klebus, Herbert
Klein, Yves
Kleint, Boris
Knoche, Werner
Knöll, Niklaus
Knorr, Anneliese
Koestler, Arthur
König, Willi
Korn, Karl
Kowallek, Rochus
Kraayenhof, Hans
Kreiterling, Willi
Kricke, Norbert
Krippendorf, Klaus
Krüger, Gerhard Georg
Kühl, Siegfried
Kultermann, Udo
Kusama, Yayoi
L
Laszlo, Carl
Latham, John
Laugs, Heinz Werner
Leblanc, Walter
Leering, Jean
Lehmbrock, Josef
LeParc, Julio
Leuze, Ursula
Linfert, Carl
Lipman, Jean
Lippsmeier, Georg
Liverani, Gian Tomaso
Lo Savio, Francesco
Löffelholz, Franz
Lohmeyer, Brigitte
Lorenz, Marianne
Lück, Herbert
Lückeroth, Jupp
Lufft, Peter
Luther, Adolf
M
Mack, Heinz
Mack, Margret
Mack, Ute
Mäckle, Richard
Maglietta, Nina
Mahlow, Dietrich
Manfred, Ernest
Mansch, Joachim
Manzoni Meroni, Valeria
Manzoni, Piero
Marck, Jan van der
Mari, Enzo
Marx, Eberhard
Massironi, Manfredo
Mavignier, Almir
McCray. Porter
Megert, Christian
Meinborn, Els
Meisner, Günter
Melland, David
Menninger, Klaus
Mestrovic, Matko
Meyerholz, Hans
Mikorey, Franz
Moeller, Hans
Moldow, Ira
Moll, Paul
Morschel, Jürgen
Motte, Manfred de la
Muche, Georg
Müllenholz, Leo
Müller, Hans-Jürgen
Müller-Hauck, Janni
Murakami, Moriyuki
N
Naegeli, Eduard
Nebel, Karl
Nebelung, Hella
Neuerburg, Doris
Neufert, Peter
Neumann, Eckhard
Noah, Heinz
Nordland, Gerald
Novarro, Eddy
Novarro, Nana
O
Oehm, Herbert
Oestereich, Jürgen
Oppen, Hans von
Otto, Wolfgang Th.
P
Paik, Nam June
Pée, Herbert
Peeters, Henk
Pellegrini, Aldo
Perkins, G. Holmes
Petersen, Ad
Petersen, Peter Jes
Petitot, Léonce
Pfennig, Reinhard
Piek, Heinz
Piene, Otto
Pietzsch, Eva
Plaoutine, Nicolas
Platschek, Hans
Pohl, Uli
Pomodoro, Arnaldo
Pomodoro, Gio
Popper, Frank
Puvogel, Edgar H.
Q
Quinte, Lothar
R
Radin, Paul
Rahn, Eckart
Rainer, Arnulf
Ramsbott, Wolfgang
Rathke, Wolfgang
Raum, Walter
Reindel, Wolfgang
Rekort, Hartmut
René, Denise
Renger, Konrad
Restany, Pierre
Reydams, Jacqueline
Richter, Hans
Rickey, George
Río, Eustolio del
Rodker, Joan M.
Roeckenschuss, Christian
Roh, Franz
Roh, Juliane
Rose, Barbara
Rosenquist, Jim
Rosenthal, Nan
Rosenthal, Sol Roy
Rot, Diter
Rothe, Wolfgang
Rottloff, Helgard
Rotzler, Willy
Ruhnau, Werner
Ruhrberg, Karl
Rumbler, Helmut
Ruths, Heiner
S
Salentin, Hans
Schiessel, Johanna
Schirmer, Lutz
Schmalenbach, Werner
Schmela, Alfred
Schmela, Monika
Schmidt, Thomas
Schmied, Wieland
Schneider, Aenne
Schneider-Esleben, Paul
Schnitzler, Dieter
Schönenberger, Horst
Schreib, Werner
Schröder, Anneliese
Schroeter, Rolf
Schuldt, Herbert
Schulze-Vellinghausen, Albert
Schumacher, Emil
Schurz, Carl
Schwager, Frithjof
Schwarz, Arturo
Schweicher, Curt
Schweighofer, Fritz
Schwickert, Ludwig
Schwippert, Hans
Sedlmayr, Hans
Seel, Eberhard
Seide, Wilhelm
Seitz, Fritz
Seitz, Wilhelm C.
Seyfried, Ludwig
Shimbun, Yomiuri
Siepmann, Heinrich
Simmat, William E.
Slotnick, Merv
Sloves, Jack
Sonnabend, Michael
Soprano, Edoardo
Soto, Jesús Rafael
Spielberg, Joan
Spielberger, Roman
Spielmann, Heinz
Spindel, Ferdinand
Spoerri, Daniel
Stachelhaus, Heiner
Stahl, Lotte
Stankowski, Anton
Stassig, Franz
Staudt, Klaus
Stempel, Hans
Stiehl, Hans Adolf
Stielow, Reimar
Stolz, Elisabeth
Storck, Gerhard
Sturm, Robert
Szeemann, Harald
T
Thwaites, John Anthony
Tigerman, Stanley
Tilmann, Gustav
Tinguely, Jean
Tischer, Manfred
Trier, Eduard
Trost, Horst E.
Trouillard, John
Tunnard, Peter H.
U
Uecker, Günther
Ungers, Oswald Mathias
V
Vanista, Josip
Verheyen, Jef
Vietta, Egon
Vigo, Nanda
Vircher, Antoinette
Vismara, Zita
Vogel, Albert
Vogel, Hermann
Vollmer, Franziska
Vostell, Wolf
Vree, Paul de
vries, herman de
W
Wacker, Karl-Heinz
Walter, Hans-Albert
Wasmuth, Johannes
Wedewer, Josef
Wedewer, Rolf
Wehling, Oskar
Weidler, Charlotte
Wember, Paul
Westphal, Bernd
Wiegers, Hartmut
Wiehager, Renate
Wilhelm, Jean Pierre
Wilkes, Günter
Williams, Emmett
Williams, Hermann Warner
Willing, Jürgen
Winkler, Gerhard
Wise, Howard
Wolfshohl, Ernst-Otto
Wormland, Theo
Wunderwald, Alfred
Wunderwald, Erika
X
Y
Z
Zander, Josef
Zillmann, Adolf
Mehr Korrespondenz
Endnotes
K Kinetik
Die ZERO-Bewegung und die bewegte Kunst
Anna-Lena Weise
[i] Marc Adrian an Otto Piene, Wien, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.1027_1.
Die 1960er Jahre werden als das Jahrzehnt erinnert, in welchem die kinetische Kunst[i] sich in Europa und Nordamerika besonderer Beliebtheit erfreute. Erste Anregungen in dieser Richtung lassen sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Dynamismus und Futurismus finden. Der Ursprung dieser Kunstrichtung wird auf die Jahre zwischen 1913 und 1920 festgelegt. Diese Daten sind nicht zufällig gewählt, sondern markieren die Entstehungsjahre wichtiger kinetischer Werke: 1913 entstand Marcel Duchamps (1887-1968) Bicyclette und 1920 Naum Gabos (1890-1977) Kinetische Konstruktion. Beide Werke können als Ausgangspunkt zu einer Auseinandersetzung mit dem Phänomen Bewegung in der Kunst und ihrer bildnerischen Möglichkeiten gesehen werden.[ii]
Vielfach ist versucht worden, eine historische Darstellung der kinetischen Kunst zu liefern, welche lang ist, wenn die im Kunstwerk suggerierte Bewegung dort mit einbezogen wird. Zusammenfassungen existieren von George Rickey (1907-2002), Pontus G. Hultén (1924-2006), Jack Burnham (1931-2019), Wolfgang Ramsbott (1934-1991) und Frank Popper (1918-2020). Frank Popper begann bereits Anfang der 1960er Jahre mit den Vorbereitungen zu seiner umfangreichen Abhandlung Naissance de l’art kinétique, 1967 (Origins and Development of Kinetic Art, Art, Action, and Participation, Art of the Electronic Age, 1968). Insbesondere die Aufnahme zeitgenössischer Positionen zeichnet seine umfangreiche Abhandlung aus. Auch Heinz Mack (*1931) und Otto Piene (1928-2014) schrieb er 1964 aus diesem Grund an:
[i] Kinetik bezeichnet in der Physik die Bewegungslehre. Hier wird untersucht, wie sich Kräfte auf die Bewegungsgrößen eines Körpers, z.B. seine Geschwindigkeit auswirken. Der Begriff stammt aus dem Griechischen. Dort bedeutet das Wort „kinesis“ Bewegung. Die kinetische Kunst erhebt die Bewegung zum Gestaltungsprinzip. Darunter können im Endeffekt alle Werke aufgenommen werden, deren Hauptgewicht auf der Bewegung als Ausdrucksmittel liegt. Etymologisch gesehen kann es sich dabei um aktive oder passive Bewegung handeln.
[ii] Vgl. Hans-Jürgen Buderer, Kinetische Kunst. Konzeptionen von Bewegung und Raum, Worms 1992, S. 7.; Vgl. Christina Chau, „Kinetic Systems. Jack Burnham and Hans Haacke“, in: Contemporaneity, Bd. 3, Nr. 1 (2014), S. 62-76, hier S. 63.; Vgl. Anina Baum, „Über das Licht zur Bewegung: kinetische Skulpturen bei Heinz Mack/From Light to Movement: Kinetic Sculptures by Heinz Mack“, in: Mack. Kinetik/Kinetics, Ausst.Kat. Museum Abteiberg Mönchengladbach, Mönchengladbach 2011, S. 94-115, hier S. 94.
„Je travaille actuellement à un ouvrage sur le mouvement dans les arts plastiques et j’aimarais y inclure des informations concenant vos oeuvres.“[i]
[i] Frank Popper an Heinz Mack, Paris, 15. Oktober 1964, Archiv der ZERO foundation, Vorlass Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.1253. („Ich arbeite gerade an einem Buch über Bewegung in der bildenden Kunst und würde gerne Informationen zu Ihren Werken einfügen.“ Übersetzt von der Autorin)
Und während sich Popper durchaus positiv über den Einsatz der Kinetik innerhalb der Kunstwelt äußerte, sieht Jack Burnham ihn bereits 1968 in seiner Publikation Beyond Modern Sculpture[i]als überholte Praxis an. Für Burnham steht fest, dass die kinetische Kunst aufgrund ihrer Überschneidungen mit Wissenschaft und Technologie das Potenzial gehabt hätte, eine dominante künstlerische Praktik zu werden. Dieses Ziel sieht er jedoch als verfehlt an.[ii]
Die Kinetik stellte sich als Trend dar, dessen Ursprung weit vor der Mitte des Jahrhunderts zu finden ist, und der nach den 1960er Jahren wieder schnell abflachte.[iii] Das Experimentieren mit neuer Technologie innerhalb der Kunstwelt war in dieser Zeit sogar bei einem „Mainstream-Publikum“ angesehen. Diese Beobachtung wird durch eine große Anzahl an Kinetik-Ausstellungen bestätigt, an denen die ZERO-Künstler*innen beteiligt waren.
[i] Vgl. Jack Burnham, Beyond Modern Sculpture: The Effects of Science and Technology on the Scuplture of this Century, New York 1968.
[ii] Vgl. Chau (wie Anm. 3), S. 63 f.; Vgl. Burnham (wie Anm. 5), S. 218-221.
[iii] Vgl. Buderer (wie Anm. 3), S. 7.; Vgl. Chau (wie Anm. 3), S. 63.
Im Jahr 1955 organisierte Pontus Hultén zusammen mit Victor Vasarely (1906-1997), Roger Bordier (1923-2015) und Robert Breer (1926-2011) die Ausstellung Le mouvement in der Pariser Galerie Denise René, die den Startschuss für den regelrechten Kinetik-Hype der 1960er Jahre lieferte. Es wurden Werke von Yaacov Agam (*1928), Pol Bury (1922-2005), Alexander Calder (1898-1976), Marcel Duchamp (1887-1968), Robert Jacobsen (1912-1993), Jesús Rafael Soto (1923-2005), Jean Tinguely (1925-1991) und Victor Vasarely gezeigt, die zu den Pionieren und wichtigsten Vertretern innerhalb der kinetischen Kunst zählen.
Diese Ausstellung wird nicht nur als erste Schau der beweglichen Kunst aufgefasst, sondern zeigte vor allem das komplette Spektrum der kinetischen Kunst.[i] Es gibt mehrere Unterkategorien: Dazu zählen optisch bewegte Werke (optische Kinetik), deren Wirkung sich erst durch die Bewegung der Betrachter*innen im Raum entfalten kann. Andere Objekte sind auf eine direkte physische Interaktion der Betrachter*innen angewiesen und lassen sich von ihnen verändern (Spielobjekte). Wiederum andere bewegen sich aufgrund der Einwirkung von Naturkräften, zum Beispiel Wasser, Gravitation und Wind (Mobiles, Magnete) oder verfügen über eine Motorisierung und bewegen sich somit von allein (Maschinenwerke).[ii]
[i] Mehr zu der Ausstellung Le mouvement in: Le Mouvement. Vom Kino zur Kinetik, Ausst.-Kat. Museum Tinguely, Basel 2010.
[ii] Wie viele Unterkategorien es gibt, bzw. was alles zur Kinetik dazugezählt werden kann, und wie diese verschiedenen Teilgebiete zu bezeichnen sind, ist nicht festgelegt. Innerhalb der Forschung herrscht darüber Uneinigkeit.
Paul Wember ist der Meinung, dass „die Ausdruckskraft der kinetischen Arbeiten […] unendliche Variationsmöglichkeiten“ biete, „von der reinen, zarten Bewegung bis zur spektakulären Schrottmaschine […]. Die Gegensätzlichkeiten zeigen die Variation der Ausdrucksmöglichkeit. So sind die zarten Vibrationen bei Soto und Vasarely schöne Ergänzungen zu den selbst zu manipulierenden Steckbildern und Tastbildern des Yaacov Agam […].“[i]
[i] Paul Wember, Bewegte Bereiche der Kunst, Kaiser Wilhelm-Museum Krefeld, Krefeld 1963, S. 12.
Dem Thema der Vibration als Faktor der modernen Ästhetik, welcher sich im Spannungsverhältnis zwischen Ruhe sowie potenzieller Bewegung befindet, widmeten sich Heinz Mack und Otto Piene 1958 in ihrer 8. Abendausstellung[i] als eine der ersten. In Pienes Rauchbildern und Macks Dynamischen Strukturen lässt sich dieser „Ausdruck einer kontinuierlichen Bewegung, die wir Vibration nennen, und die unser Auge ästhetisch erlebt […].“[ii] wiederfinden. Ausgelöst wird der Effekt durch den Kontrast aus optisch hervortretenden dunklen Partien und hellen in den Hintergrund zurücktretenden Bildteilen, die sich gegenseitig leicht überlagern.
Von 1959 bis 1966 lassen sich über 30 weitere Gruppenausstellungen auflisten[iii], die sich in irgendeiner Form mit der Bewegung in der Kunst auseinandersetzten. Angefangen mit der Schau im Hessenhuis, Antwerpen Vision in Motion – Motion in Vision, 1959, bei der Daniel Spoerri (*1930) sein Autotheater[iv], 1959, präsentierte, welches er mithilfe Jean Tinguelys motorisiert hatte.[v] Gefolgt von Spoerris Projekt, der Ausstellung der multiplizierten Kunstwerke, die sich bewegen oder bewegen lassen, 1959/60, die aus Paris über London sowie Stockholm ihren Weg nach Krefeld fand und von seiner Edition MAT präsentiert wurde.[vi] Das Besondere an Spoerris „mobiler Galerie“ war, dass die Besucher*innen regelrecht gezwungen waren, die Werke anzufassen, um sie in einen veränderten Zustand zu versetzen.[vii] Der im musealen Kontext häufig gebrauchte und stereotype Satz „bitte nicht berühren“ war an keinem der Objekte zu finden.[viii]
[i] Es nahmen nur Oskar Holweck, Heinz Mack, Almir Mavignier, Otto Piene und Adolf Zillmann an dieser Ausstellung teil. Die Ausstellung war zunächst mit dem Titel „Raster“ versehen. Siehe dazu Oskar Holweck an Otto Piene, Saarbrücken, 10. März 1958, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.880.
[ii] Heinz Mack, „Die Ruhe der Unruhe“, in: ZERO 2, Düsseldorf 1959, S. 20.
[iii] Diese Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
[iv] Autotheater von Daniel Spoerri, 1959/ Rekonstruktion 2014, Spiegel 180 x 50 cm, Gestänge 240 cm, Kreuz 189 cm, Stange 182 cm, kleine Schilder 35 x 20; 40 x2 0 cm, Metall, Holz, Kunststoff, Papier, Sammlung der ZERO foundation, Inv. Nr. mkp.ZERO.2015.02.
[v] Die Ausstellung war eigentlich ohne Titel präsentiert worden. Der Titel Vision in Motion – Motion in Vision leitete sich später vom Ausstellungskatalog ab, der als Leitmotiv die gleichlautende Formulierung Moholy-Nagys voranstellte. Piene bezeichnete diese Ausstellung in seinem Text „Die Entstehung der Gruppe ‚Zero‘“, der am 03.09.1964 im Times Literary Supplement erschien, als wahrscheinlich bedeutendste ZERO-Ausstellung. Siehe auch Einladung von Marc Callewaert an Heinz Mack, Antwerpen, 12. Februar 1959, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.330.
[vi] Die Ausstellung wurde insgesamt auf sieben Stationen in Europa gezeigt: Paris, Mailand, London, Newcastle, Stockholm, Krefeld und Zürich. Die Edition MAT stellte Auflagenojekte her – „multiplizierte Kunstwerke“ – die dann zeitgleich an verschiedenen Standorten gezeigt werden konnten. Siehe dazu Brief von Daniel Spoerri an Heinz Mack, Paris, 11. März 1960, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.899.
[vii] Zu Daniel Spoerris Edition MAT siehe, Ulrike Schmitt: „An ‚Art Manager‘ on the Road. Daniel Spoerri and his Edition MAT“, in: The Artist as Curator, Collaborative Initiatives in the International ZERO Movement 1957-1967,hrsg. von Tiziana Caianiello, Mattijs Visser, Ghent 2015, S. 193-219.
[viii] Vgl. Zeitungsartikel, 11. April 1960, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.II.42.
1961 fand neben Movement in Art, Howard Wise Gallery, Cleveland, dann die erste umfassende Ausstellung zur Bewegung in der Kunst Bewogen Beweging im Stedelijk Museum Amsterdam statt, die danach unter dem Titel Rörelse i Konsten im Moderna Museet, Stockholm und als Bevaegelse I Kunsten im Museum of Modern Art, Kopenhagen, gezeigt wurde. Mehr als 50 Künstler*innen nahmen an dieser Exposition teil, unter ihnen viele die heute der ZERO-Bewegung zugerechnet werden.[i]
Das Stedelijk Museum, Amsterdam, präsentierte 1962 die experimentelle Schau Dylaby: dynamisch labyrinth von Jean Tinguely, Daniel Spoerri, Robert Rauschenberg (1925-2008), Martial Raysse (*1936), Niki de Saint Phalle (1930-2002) und Per Olof Ultvedt (1927-2006). Die Idee ging auf Willem Sandberg (1897-1984) zurück, der auch bei der Planung von Bewogen Beweging eine Rolle gespielt hatte. Geplant waren Räume, in denen Besucher*innen keine getrennt wahrnehmbaren Werke vorfinden würden. Noch im selben Jahr zeigte die Galleria Vittorio Emanuele in Mailand Arte programmata. Arte cinetica. Opere multiplicate. Opera aperta,die unter anderem Werke italienischer Künstler*innen der Gruppo T, Gruppo N (Enne) und GRAV beinhaltete.
[i] Den Austausch zwischen Daniel Spoerri, Jean Tinguely, Pontus Hultén und Willem Sandberg behandelt Andres Pardey in, „Curating Bewogen Beweging. The Exchange between Daniel Spoerri, Jean Tinguely, Pontus Hultén, and Willem Sandberg“, in: Caianiello, Visser (wie Anm. 17), S.221-235.
Bis 1965 folgten kleinere Schauen, hauptsächlich in Galerien, die das Thema Kinetik in unterschiedlichsten Ausformungen verfolgten. Die Galerie Hella Nebelung in Düsseldorf nahm sich der Bewegung in der Kunst gleich zweimal an in Kinetische Arbeiten, 1963, und Kinetik II, 1964. Neben Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker (*1930) waren dort Almir Mavignier (1925-2018), Uli Pohl (*1935) sowie Gerhard von Graevenitz (1934-1983) beteiligt.[i]
[i] Siehe dazu die Plakate der Galerie im Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.VII.167 und mkp.ZERO.1.VII.168_1.
Drei Ausstellungen fanden 1964 in London statt: Art in Motion, Royal College of Art; Structures vivantes. Mobiles Images, Redfern Gallery; Movement, Hanover Galerie.[i] Die Gimpel & Hanover Galerie in Zürich griff das Sujet noch im gleichen Jahr in Bewegung = Mouvementauf. In New York war Günther Uecker als einziger der Gruppe ZERO bei On the Move, Howard Wise Gallery, vertreten, welche Tina Rivers Ryan als „leading gallery for kinetic art in New York […]“[ii] bezeichnet.
1965 ist dann das Jahr, in dem sich die Kinetik als unübersehbarer Trend im Ausstellungswesen abzuzeichnen beginnt: Kinetic Art, Galerie 20, Arnheim, Rotterdam; Progression, Manchester College of Art and Design; Kinetic Art, Art Club of Chicago; Kinetic and Optic – Art Today, Buffalo Festival of the Arts Today und Albright Knox Art Gallery, Buffalo; Art and Movement, Royal Scottish Academy, Edinburgh und Art Gallery and Museum Kelvingrove, Glasgow; Movement II, Hanover Gallery, London; Kinetische kunst uit Krefeld, Gemeentemuseum, The Hague, und Stedelijk van Abbemuseum, Eindhoven; Kinetik und Objekte[iii], Staatsgalerie Stuttgart und Badischer Kunstverein, Karlsruhe; Arte cinetica, Azienda Autonoma di Soggiorna e Turismo di Trieste, Triest.
Denise René (1913-2012) knüpfte in ihrer Galerie in Paris mit Mouvement II, 1964,[iv] und Art et Mouvement. Art Optique et Cinétique, 1965, gleich mit zwei Ausstellungen an ihre berühmte Schau aus den 1950er Jahren an. Letztere wurde zudem in Tel Aviv gezeigt. Haim Gamzu (1910-1982) verweist in seinem Vorwort des Ausstellungskatalogs bereits auf das „merging of movement with time that imparts some new immanence to the observer’s visual sense, an essence of real and organic continuity, of some palpable methamorphosis that actually inheres within the work itself, instead of being divided up into static segments linked together by some conventional continuity.“[v] Denn Werke, die Betrachter*innen zur Bewegung auffordern oder wandelbar in ihrer Erscheinung sind, beziehen zwangsläufig das Element der Zeit ein.
Das Potenzial der Kinetik als Mittel neuer Zeitwahrnehmung innerhalb der Kunst wurde im darauffolgenden Jahr in der Ausstellung Directions in Kinetic Sculpture, University Art Museum, Berkeley, 1966, thematisiert. Sie gehörte zu den ersten Projekten, die eine Debatte zur Ästhetik der Bewegung durch Technologie in der Kunst der 1960er Jahre anstieß. Die Verbindung von Zeit, Bewegung und Technologie wurde von Peter Selz (1919-2019), dem Kurator der Ausstellung, immer wieder betont.
[i] Zu diesen Ausstellungen lassen sich sehr wenige Informationen finden. Bei keiner können die beteiligten Künstler*innen vollständig nachvollzogen werden. Lediglich die Teilnehmer*innen von Movement in der Hanover Gallery können benannt werden: Richard Hamilton, Jean Tinguely, Richard Mortensen, Francisco Sobrino, Barry Hirst, Josef Albers, Victor Vasarely, Julio Le Parc, Bridget Riley, Gregorio Vardánega, Pol Bury, Yvaral, François Morellet, Takis und Nicolas Schöffer.
[ii] Tina Rivers Ryan, „Before it Blows up. ZERO’s American Debut and its Legacy“, in: Caianiello, Visser (wie Anm. 17), S. 363-369, hier S. 363.
[iii] Arnulf Wynen im Auftrag der Staatsgalerie Stuttgart an Heinz Mack, Stuttgart, 30. Dezember 1964, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.1374.
[iv] Galerie Denise René an Heinz Mack, Paris, 22. Oktober 1964, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.391_2.
[v] Haim Gamzu, Foreword, Ausst. Kat. Art et Mouvement, Museum Tel Aviv, Tel Aviv 1965, o.S.
Seit Einsteins Relativitätstheorie von 1905 stellte die Zeit eine bewusste Komponente dar, deren Wert von Wissenschaftler*innen und Künstler*innen besonders betont wurde. Die italienischen Futurist*innen forderten schon 1909 „die Bewegung als Funktion der Zeit in die Kunst aufzunehmen.“[i]
[i] Wember (wie Anm. 10), S. 9.; Vgl. Baum (wie Anm. 3), S. 98.
Bis in die 1970er Jahre wurde die kinetische Skulptur als populäre, aufstrebende Methodik angesehen, die Pionierarbeit auf dem Gebiet der Verzahnung von Kunst, Wissenschaft und Technologie leistete. Die Künstler*innen, welche sich mit der Kinetik beschäftigten, wurden als „‚space-age artists`“ angesehen, „who were at the forefront of technology and art.“[i]
[i] Christina Chau, Movement, Time, Technology, and Art, Singapore 2017, S. 39. – Die Ausstellung Directions in Kinetic Sculpture, 1965, soll laut Chau besonders gut beim Publikum angekommen sein und von über 80.000 Besuchern gesehen worden sein. Bis zum Ende der 1960er Jahre folgten noch viele weitere Kinetik-Ausstellungen.
Die ZERO-Künstler*innen wiesen eine mal größere, mal weniger große Beteiligung an den Kinetik-Ausstellungen zwischen 1959 und 1966 auf. Jean Tinguely und Heinz Mack nahmen beide an 20 Ausstellungen teil, Pol Bury und Jésus Rafael Soto jeweils an 14, Günther Uecker war 13 mal vertreten und Otto Piene steuerte zu 12 Ausstellungen Werke bei.[i]
Sie alle widmeten sich auf differente Weise der Bewegung in der Kunst und verfolgten damit unterschiedliche Ziele: Zum einen stand die Vorführung verschiedener Bewegungsabläufe als plastische Wiedergabe von Dynamik oder Nachahmung der Natur – zum Beispiel die Gravitation –im Vordergrund. Zum anderen konnte mithilfe der Mechanisierung der Objekte die Verbindung zwischen Kunst, Wissenschaft und Technik aufgezeigt werden. Wissenschaftliche Forschung und künstlerische Innovation stehen in diesen Werken in offensichtlicher, enger Verbindung zueinander. Teils lag der Fokus aber auch nur auf dem „funktionslose[n] Funktionieren einer Maschine“[ii]. Gleichzeitig konnte die Variabilität eines Kunstobjektes verdeutlicht werden. Durch die permanente Veränderung erschienen die Werke in konstant anderen Formationen. Objekte, die dabei von Hand bedient wurden, boten kein Schauspiel, sondern luden die Betrachter*innen zum Spielen ein, denn sie „stehen auf eine besondere Weise zwischen Spiel und Bewußtsein, Spielzeug und Poesie.“[iii]
Zudem war es möglich durch Illusion und Vibration, die auf wahrnehmungstheoretischen Effekten basieren, auf die Wahrnehmung der Betrachter*innen einzuwirken. Diese Werke veränderten ihr Aussehen je nach Standort der Rezipient*innen, waren selbst jedoch vollkommen statisch.
[i] Uli Pohl: 7; Paul Talman: 7; Gerhard von Graevenitz: 7; Dieter Roth: 6; Hermann Goepfert: 5; Walter LeBlanc: 5; Christian Megert: 4; Herman de Vries: 4; Almir Mavignier: 3; Gotthard Graubner: 2; Daniel Spoerri: 2; Bernard Aubertin, Oskar Holweck, Yves Klein, Adolf Luther, Paul van Hoeydonck und Nanda Vigo: 1.
[ii] Buderer (wie Anm. 3), S. 8.
[iii] Wember (wie Anm. 10), S. 19.
Nach Anina Baum gewinnt die kinetische Kunst in den 1960er Jahren „populäre Durchschlagskraft“[i], in dem Moment, als neben realer Bewegung auch reales Licht verstärkt in das Kunstschaffen einzieht. Licht und Bewegung, die beiden Begriffe sind in der Kunstwelt untrennbar miteinander verbunden, und daher überrascht es nicht, dass sie in mehreren Ausstellungstiteln der 1960er Jahre in Kombination auftreten. Ihre Verbindung zeigt sich konkret in einem weiteren Teilaspekt der kinetischen Kunst – der Lichtkinetik.
Diese lässt sich von drei Quellen ableiten: den Lichtfarborgeln, der Fotografie beziehungsweise dem Film sowie Theaterprojektionen. Das Bauhaus lieferte in den 1920er Jahren mit vielfältigen Lichtaktionen weitere Impulse, aber erst László Moholy-Nagy (1895-1946) verband die Kinetik mit der Lichtkunst. Sein Licht-Raum-Modulator von 1930 zählt zu den wichtigsten Werken im Bereich der Lichtkinetik, deren Durchbruch zur eigenständigen Kunstform erst in den 1950er Jahren mit Frank Malinas ersten Tableux Lumineux, 1955, gelang. Diese Kunstform, die sich methodisch um die Kreation bewegter Lichteffekte bemüht, ist das Gebiet der kinetischen Kunst, welches in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre die größten Fortschritte machte.[ii]
[i] Baum (wie Anm. 3), S. 96.
[ii] Vgl. Frank Popper, „Die Lichtkinetik /Light Kinetics“, in: Lichtkunst aus Kunstlicht/Light Art from Artificial Light. Licht als Medium der Kunst im 20. Und 21. Jahrhundert/Light as a Medium in 20th and 21th Century Art, Ausst.-Kat. ZKM Karlsruhe, Ostfildern 2006, S. 424-447, hier S. 424, 428ff., 431.
Ausstellungen wie Licht und Bewegung in der Kunsthalle Bern, 1965; Lumière Mouvement et Optique, Palais des Beaux-Arts, Brüssel, 1965; Licht und Bewegung, Modus Möbel GmbH, Berlin, 1965; KunstLichtKunst im Stedelijk van Abbemuseum in Eindhoven, 1966; Licht und Bewegung, Kunstzentrum TVENSTER, Amsterdam, später in der Galerie Al-Veka, Den Haag, 1966; Lumière et Mouvement im Par